Sie wollten doch nach Berlin!

Es ist alles ein wenig kompliziert mit der Deutschen Bahn. Eigentlich fahre ich gerne mit dem Zug und gebe mir auch Mühe, nicht immer in den Anti-DB-Chor einzustimmen. Aber die Bahn macht es einem leider nicht einfach.

Gestern musste ich nach einer Lesung von Duisburg nach Berlin zurück und bis Hannover schien das auch problemlos zu funktionieren. Dann aber wurden wir umgeleitet, weil auf der geplanten Strecke „Personen auf den Gleisen“ waren. Also über Braunschweig und eine Verspätung von 20 bis 30 Minuten, wie durchgegeben wurde.

Statt um 17:06 Uhr regulär an der Endhaltestelle Gesundbrunnen anzukommen, sollten wir nun erst um 17:14 Uhr in Berlin-Spandau sein und zirka eine Viertelstunde später am Endbahnhof. Um kurz vor 17:00 Uhr dann die Durchsage, dass wir nun doch erst um 17:30 Uhr in Spandau sind und zum Gesundbrunnen geht es heute ohnehin nicht mehr, dafür zum Hauptbahnhof.

Alles klar (warum man das nicht eine Idee früher wissen oder durchsagen konnte, war mir nicht wirklich klar), um 17:40 Uhr kamen wir dann schließlich am Hauptbahnhof an. Dort bat ich den Schaffner um das Kundenformular für Verspätungen und um die Bestätigung unserer verspäteten Ankunft.

„Warum?“, wollte er blaffend wissen und klang aggressiver, als ich es vom Mitarbeiter eines Unternehmens erwarten würde, dem ich gerade 110,5 Euro für eine Fahrt bezahlt hatte, die weder am geplanten Ort endete noch pünktlich war.
„Weil wir viel zu spät sind.“
„Sie wollten doch nach Berlin und Entschädigung gibt es erst ab einer Stunde.“
„Ich wollte nicht einfach nach Berlin, ich habe ein Ticket zum Gesundbrunnen gekauft. Und bis ich da bin, ist die Stunde voll.“
„Wir haben jetzt nur vierzig Minuten Verspätung, da kann ich ihnen doch nicht bestätigen, dass wir zu spät sind. Sind wir nicht, wir sind jetzt in Berlin.“
„Ja, am Hauptbahnhof.“
„Na und?“
„Dieser Zug sollte zum Gesundbrunnen fahren.“
„Aber selbst wenn, wäre es keine Stunde Verspätung.“
„Dann würden wir uns auch nicht unterhalten, weil ich dann am Ziel meiner Reise wäre, was ich jetzt nicht bin.“
„Was haben Sie da eigentlich, ist das Sparpreis?“
„Nein. Ist aber auch egal, ob Sparpreis oder nicht.“
„Meistens sind es die Sparpreis-Fahrer, die sich beschweren.“
„Ich hätte mich auch mit Sparpreis beschwert, denn ich habe nicht für eine Fahrt zum Hauptbahnhof bezahlt.“
„Das tut mir leid für Sie, aber wir sind keine Stunde zu spät in Berlin angekommen. Darum kann ich ihnen auch keine Verspätung bestätigen.“
„Ich hatte ein Ticket gekauft, das mich ohne Umsteigen von Duisburg nach Berlin Gesundbrunnen bringen sollte. Das ist nicht geschehen, also möchte ich die Wertminderung gerne erstattet bekommen.“
„Wie gesagt, wir sind am Ziel, Sie sind in Berlin und mehr kann ich da auch nicht weiterhelfen.“

Er rief dann noch einen Kollegen zur Hilfe, der ebenfalls auf mich einredete, dass ich doch nun am Ziel meiner Reise angekommen sei, und so trennten sich unsere Wege kurz darauf wieder. Irgendwie hat es auch etwas sehr unwürdiges, wenn ein Unternehmen meint, seine Versagen auf eine solche Art leugnen zu müssen. Amazon besteht ja auch nicht darauf, dass man doch aber eine Waschmaschine bestellt hat, wenn man reklamiert, dass die falsche Waschmaschine geliefert wurde. Überhaupt wäre mein Vorschlag, dass die Deutsche Bahn für einige Zeit unter Amazon-Zwangsverwaltung gestellt wird, bis sich in Sachen Service-Gedanke auch bei der Bahn so langsam das 21.Jahrhundert bemerkbar macht.

Zuletzt erschien von Gideon Böss das Sachbuch: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern

Böse Rassisten, Guterassisten und der Islam

In freien Gesellschaften gibt es mehrere Grundwerte, die für den Erhalt des Systems unabdingbar sind. Die Religionsfreiheit, die eben auch die Kritik an Religionen beinhaltet, ist einer davon und vielleicht sogar der wichtigste. Immerhin ist sie die Antwort darauf, dass das Christentum in Europa das freie und kritische Denken sowie die Originalität und die Neugierde, zu der Menschen fähig sind, über Jahrhunderte hinweg massiv einschränkte. Wer die engen Grenzen des Weltbildes sprengte, das die Kirchen gerade noch aushalten konnten, landete schnell im Kerker oder bezahlte mit dem Leben. Davon kann heute längst keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: Wer heute keine Witze über Papst, Pfarrer oder Gott macht, muss sich eher rechtfertigen als jene, die sich dadurch in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen. Und das ist gut so, denn es gibt keinen Grund, warum ausgerechnet Religionen mit Samthandschuhen angefasst werden sollten. Im Grunde gilt auch für diese Institutionen: wer austeilt, muss auch einstecken können. Und die christlichen Kirchen haben gelernt, einzustecken.

Doch Religionskritik ist eben nicht gleich Religionskritik. Beim Thema Islam kann das alles schnell anders aussehen. Mir ist das zuletzt wieder im Rahmen eines Interviews aufgefallen, in dem es um mein Buch „Deutschland, deine Götter“ ging. Die Journalistin hatte eigentlich kein Problem mit dem eher lockeren Schreibstil, machte jedoch eine erhebliche Ausnahme. Sie fand, erzählte sie mir nach dem Gespräch, die Art und Weise, wie ich über den Islam schreibe, vollkommen daneben. Vor allen ein Absatz hatte sie ganz besonders erzürnt, weil dieser verletzend sei und auf eine Art herabwürdigend, die Moslems so langsam nicht mehr ertragen können. Was hatte ich geschrieben, was alle Moslems nicht mehr hören können? Dass sie alle Terroristen sind, dass sie im Mittelalter hängengeblieben sind oder dümmer als andere Menschen? Nein, es war das hier:

„Allah offenbarte Mohammed den Koran Wort für Wort. Es dauerte schließlich 23 Jahre, bis die 114 Suren abgeschlossen waren. Wenn man die Standardeinstellungen eines gewöhnlichen PC-Schreibprogramms wie Microsoft Word verwendet, umfasst der Koran zirka 600 Seiten. Damit hat das Autorenduo Allah/Mohammed im Schnitt zwei Wochen pro Seite gebraucht, was sie zu den vermutlich langsamsten Schriftstellern aller Zeiten macht. Gleichzeitig aber mit zu den erfolgreichsten, denn nach der Bibel ist der Koran das am weitesten verbreitete Buch der Welt.“

Diese Passage ist weit davon entfernt, als Herabwürdigung durchzugehen (gut, „Autorenduo“ ist vielleicht etwas mutig, weil Mohammed die Offenbarungen nur mündlich weitergab. Jedoch ist für mich auch jemand Autor, der seine Texte diktieren lässt – aber das ist ein anderes Thema und war auch nicht der Grund für den Journalistinnen-Zorn). Und trotzdem wurde genau diese Passage attackiert. Nicht von einer Muslima, sondern von einer Journalistin, die selbst nicht religiös ist, sich aber dennoch ungefragt zur Anwältin der muslimischen Sache macht. Sie weiß, was man Moslems zumuten kann, nämlich praktisch gar nichts. Was sie hingegen nicht wissen will, ist, dass sie eine waschechte Rassistin ist. Rassisten sind heute ja fast immer in der Defensive, sie müssen sich verteidigen und ihnen ist klar, dass ihre Haltung sie gesellschaftlich schnell isolieren kann.

Doch daneben gibt es eben auch den guten Rassismus, der sich im Recht sieht und auch die öffentliche Meinung (oder zumindest die politische und mediale) hinter sich weiß, diese Form des Rassismus hat einen Eigennamen verdient: Guterrassist bzw. Guterrassismus. Er entmündigt seine Opfer, für deren Unterstützer er sich hält. Er nimmt das Objekt seiner rassistischen Begierde nicht als gleichberechtigt wahr und erwartet darum auch wenig von ihm. Darum ist es für diese Journalistin auch vollkommen klar, dass Moslems wegen einer solchen Formulierung schon aus der Fassung geraten müssen. Schließlich schwingt in den Zeilen ja eine gewisse Lockerheit im Umgang mit dem Islam mit, die ein Moslem ganz bestimmt nicht aushalten kann. Der Moslem will über seine Religion nur in spröden wissenschaftlichen Abhandlungen lesen, die ihm auf jeder Seite mindestens sieben Fußnoten garantiert und ihn auf staubtrockene Art nicht unterhält. Zumindest weiß der Guterassist, dass der Moslem das so will, ob der Moslem das auch weiß, ist egal. Der Guterassist weiß es ohnehin besser.

Guterassisten sind Teil des Problems, nicht der Lösung, denn sie verteidigen den Islam gegen jede Kritik, ganz so, als würde dadurch auch nur eine der Krisen gelöst werden können, die der Islam aktuell mit sich und anderen hat. So stellte „meine“ Guterassistin im weiteren Verlauf unseres Gesprächs klar, dass der islamistische Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Als ich meinte, was denn unter anderem mit IS, Boko Haram und Al Quaida ist, antwortete sie ungerührt, dass das alles keine Moslems sind, weil sie den Islam falsch verstanden haben. Das ist intellektuell auf dem Niveau eines Aluhutträgers, der vor Chemtrails warnt. Als ob es den Opfern – die meisten davon sind ja selbst Moslems – irgendwie hilft, wenn der Terror, der im Namen des Islam verübt wird, schlicht geleugnet wird. Als würde er verschwinden, wenn man nicht über ihn spricht.

Man kann natürlich versuchen, sich mit den Gründen für diesen Terror zu beschäftigen (dafür sollte auch dringend analysiert werden, warum sich so viele Konvertiten gleich soweit radikalisieren, dass sie zu Terroristen werden. Das ist deswegen relevant, weil Konvertiten generell dazu neigen, ihren neuen Glauben möglichst zu 100 Prozent zu leben. Warum endet das bei Neu-Christen oder Neu-Juden aber damit, dass sie nur ihren jeweiligen neuen Heimatgemeinden unglaublich auf die Nerven gehen, weil sie alle Regeln peinlich genau einhalten wollen, während Neu-Moslems sich stattdessen auffallend oft ein Ticket zum IS besorgen oder sonst wie ins extremistische Lager abdriften? Zieht der Islam also andere Gläubige an als das Christentum und das Judentum, und wenn ja, warum? In der Antwort auf diese Frage dürfte auch ein Gutteil der Lösung für das islamische Terrorproblem liegen.) Oder sich fragen, weswegen der Bildungsstand in der muslimischen Welt so katastrophal niedrig ist, warum Frauen so viel schlechter behandelt werden, warum in den letzten Jahrzehnten fast alle religiösen Minderheiten aus der arabisch-muslimischen Welt vertrieben wurden oder warum Satire, freie Presse und offene Gesellschaft aktuell in der muslimischen Welt undenkbar sind?

Wenn einen das Schicksal der Menschen in diesen Ländern etwas bedeutet (Stichwort universelle Menschenrechte), kann man all diese Fragen nicht einfach ignorieren. Oder eben doch, indem man sie eben als Lügen bezeichnet, dann ist man halt ein Verschwörungstheoretiker und/oder Guterrassist.

Natürlich ist es für die Entwicklung in der islamischen Welt unerheblich, was nun eine deutsche Journalistin dazu meint, aber erwähnenswert ist es allemal, entspricht das doch einer Grundhaltung gegenüber dem Islam, die diese Religion und ihre Mitglieder eben nicht ernstnimmt, sondern wie ungezogene Kinder betrachtet, denen man mit viel Rücksichtnahme begegnen muss, weil sie eben noch nicht so weit sind wie „wir“. Problematisch ist der Guterassismus aber vor allem, weil er gleichzeitig den autoritärsten und reaktionärsten Teil der islamischen Community bestimmen lässt, was „der Islam“ ist. Auf diese Weise wird den Hardlinern die Deutungshoheit übergeben. Aber das sieht ein Guterrassist nicht, dafür ist sein Gewissen zu rein. Leider.

Zuletzt erschien von Gideon Böss das Sachbuch: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern

Eine Reise nach Teneriffa, zu Orcars und Papageien

Jetzt weiß ich also, wie ich einem Delfin Erste Hilfe leisten muss: unbedingt das Tier feucht halten und, ganz wichtig, das Atemloch nicht mit einem Handtuch zudecken! Zwar wohne ich in Berlin und in der Spree gibt es keine Flussdelfine, aber vielleicht kann ich mit diesem Wissen ja trotzdem eines Tages einen Tümmmler retten. Im Vergleich zu einem Delfin-Unfall in der Spree (und wirklich nur im Vergleich dazu!), ist es hingegen recht wahrscheinlich, dass plötzlich mehrere Gorillamännchen an der Türe klingeln und übernachten wollen. Auch da wüsste ich jetzt, was zu tun ist: jedem ein Einzelzimmer anbieten und klassische Musik auflegen. Männliche Gorillas sind nämlich Einzelgänger, die durch klassische Musik beruhigt werden. Und wenn ich mit einem Königspinguin in der Nacht an der Bar sitzen würde, könnten wir darüber reden, dass er ja einen Gutteil des Jahres auf dem offenen Meer verbringt. Und wir würden auf ewige Freundschaft anstoßen, bevor wir uns über das Thema Delfine auf ewig zerstreiten würden, die für ihn nichts weiter sind als erbarmungslose Killer.

Dass ich das alles weiß, liegt am Loro Park in Teneriffa. Der hat mich im Rahmen einer Journalistenreise eingeladen, „hinter die Kulissen“ zu schauen und mich somit für mehrere Tage aus dem erkältungsfördernden Sommer in Deutschland auf die Kanarischen Inseln gelotst. Vier Stunden im Touristenflieger und schon war ich am Ziel meines ersten Einsatzes als embedded journalist. Nur dass es nicht in ein echtes Kriegsgebiet ging, sondern zu Käfigen mit Papageien, zu Gehegen mit Alligatoren und zu Glasscheiben, hinter denen Haie lauern und vor denen Schilder warnen „Nicht mit Blitz fotografieren!“.

Der Loro Park ist nicht irgendeine Attraktion auf der Insel, der Loro Park ist der größte Arbeitgeber, der hier so allgegenwärtig ist wie in München der FC Bayern. Plakate machen schon am Flughafen auf den Zoo aufmerksam und Werbung auf Bussen und auf Taxis und auf Hauswänden. Wenn man ihn zum ersten Mal betritt, liegt eine jurassicparkhafte Spannung in der Luft. Der Eingangsbereich ist fernöstlich gehalten, alles ist gepflegt und ordentlich und folgt offenbar dem Motto: lieber etwas zu sauber, als ein bisschen dreckig. Genau deswegen würde jetzt das Brüllen eines T-Rex weniger überraschen, als es das eigentlich tun sollte. Der Loro Park ist vergleichsweise klein, wenn man die Zoos in Deutschland gewohnt ist. Fast alles ist innerhalb weniger Minuten zu erreichen, wobei sich die Anlage aber auch an einen Hügel anschmiegt und so auf mehrere „Stufen“ seine Tiere zeigen kann. Obwohl es hier auch Vieles anderes zu sehen gibt, hat mein Aufenthalt doch vor allem mit den Delfinen und Orcas zu tun, denn die stehen im Mittelpunkt einer nun schon seit Jahren laufenden Kampagne von Peta und anderen radikalen Tierschützern bzw -rechtlern.

Darum sitzen wir bald schon im Halbrund des Delfinariums, das an ein antikes Theater erinnert, nur dass hier die Bühne ein Wasserbecken ist. Künstliche Felsen und eine ebenso künstliche Landzunge vervollständigen das Bild, zu dem auch der chronisch blaue Himmel über Teneriffa gehört. Es ist voll hier, die Besucher standen schon lange vor Beginn der Show an, um einen der Plätze zu bekommen. Und dann geht es los. Mehrere Delfine tauchen durch das Becken und unter dem Jubel der Zuschauer zeigen sie direkt einen Salto, bevor sie wieder ins Wasser eintauchen. Die Show ist kurzweilig und mit Musik unterlegt. Ein Trainer lässt sich von zwei Tieren durch das Becken ziehen, andere Delfine winken dem Publikum mit der Flosse zu und wieder ein anderer schiebt ein kleines Kind im Schlauchboot umher. Das Publikum klatscht und applaudiert, doch kaum ist das letzte Delfinkunststück getan, leert sich das Rund erstaunlich schnell.

„Das ist wegen der Orcas!“, wird mir gesagt. Die Orca-Show findet relativ bald nach der Delfin-Show statt und weil die noch beliebter ist, versuchen die Leute, auch dort noch einen Platz zu ergattern. Auch unsere nächste Station sind die Wale, aber erst einmal gibt es einen Besuch im Backstagebereich der Delfine. Sie schwimmen nach dem Auftritt durch einen Tunnel hinter das Delfinarium, wo es weitere Becken gibt. Wir stehen neben diesen Becken, in denen die Delfine gerade von einem Trainer gefüttert werden und mehr passiert hier hinten jetzt auch nicht. Also ziehen wir weiter, während die Delfine uns mit ihrem unverbindlichen Hochzeitsschwindlerlächeln verabschieden.

Auch die Orca-Arena OrcaOcean ist voll besetzt. Die Zuschauer in den ersten Reihen tragen Regenjacken, weil die Tiere gerne Wasser über den Beckenrand spritzen. Ich sitze nun neben dem Chef des Zoos, Wolfgang Kiessling, einem bald Achtzigjährigen, der den Park 1972 gründete. Er deutete auf das Wasser und erklärt dann, „wir pumpen das direkt aus dem Atlantik hier herein! Das ist frisches Meerwasser.“

Und dann geht es auch schon los. Die Orcas sind auch Delfine, aber eben in einer XXL-Ausführung. In den USA sind sie übrigens unter einem weniger harmlosen Namen bekannt. Dort heißen sie Killerwale. Während bei der Delfinshow die Stimmung vor allem ausgelassen und fröhlich war, ist sie hier doch deutlich anders. Die Orcas sind gewaltige Tiere, die zwar auch Kunststücke vorführen, aber trotzdem in jeder Situation gewaltige Tiere bleiben. Der Respekt vor der Kraft, die da durchs Becken rauscht, ist spürbar. Während im Delfinarium alle Eltern ihrem Nachwuchs gerne die Fahrt im Schlauchboot ermöglich hätten, würden in der Orca-Arena nur solche ihre Kinder hineinsetzen, die ohnehin schon vom Jugendamt angezählt sind. Aber das ist alles graue Theorie, denn kein Mensch geht zu den Orcas ins Wasser. Das ist verboten, seitdem im Jahre 2010 in Sea World in Orlando eine Trainerin von einem Orca getötet wurde. Ob es sich um einen gezielten Angriff handelte oder das Tier seine Trainerin unabsichtlich tötete, ist umstritten und längst Teil einer Propagandaschlacht, die sich radikale Zoogegner und Orca-Halter wie der Loro Park und Sea World miteinander liefern.

Die Wale drehen ihre Runden, die Trainer stehen am Beckenrand, kommunizieren über Pfeifen mit den Tieren und animieren zugleich das Publikum. Und da taucht auch schon eine Flosse auf und mit einem kräftigen Stoß spritzt sie eine Fontäne frischem Atlantikwassers auf die regenjackenfesten Zuschauer. Nebenbei werden auch Informationen über das Leben der Orcas in freier Wildbahn mitgeteilt und generell gemahnt, dass wir Menschen besser auf diese Welt und ihre Artenvielfalt aufpassen müssen. Aber bevor man lange über die menschgemachten Verwüstungen der Erde nachdenken kann, wuchtet sich schon wieder eines der Tiere in die Luft, dreht sich und platscht ins Wasser zurück. Ein Orca taucht jetzt auf und rutscht auf das künstliche Ufer, wo er liegenbleibt und darauf wartet, mit seinem Trainer ein paar Kunststücke zu zeigen. Orcas sind zwar schwere Tiere, aber trotzdem noch nicht so schwer, als dass sie sich selbst unter ihrem Gewicht erdrücken würden. Nun reagiert der Orca auf jede Bewegung des Trainers, nickt mit dem Kopf, winkt mit den Flossen, öffnet das Maul und streckt die Zunge raus. Das Publikum lacht, doch Kiessling meint dazu, „dieses Kunststück mag ich nicht, das ist albern.“

Nach dem Ende der Show verlassen die Zuschauer langsam das Rund. Es besteht kein Anlass zur Eile, die Vorführungen sind beendet, niemand muss zur nächsten Show hetzen. „Können die alle falsch liegen?“, fragt Kiessling rhetorisch und mit Blick auf die begeisterten Zuschauer. Begeisterte Zuschauer gibt es aber auch beim Stierkampf und gab es im Kolosseum, wenn Menschen sich gegenseitig töteten. Begeisterung ist moralisch neutral.

Weil die Orca-Haltung im Mittelpunkt der Kritik steht, steht sie auch im Mittelpunkt der Reise in den Loro Park. Darum geht es am zweiten Tag direkt zurück nach OrcaOcean, wo die Trainer und Ärzte zeigten, wie sie mit den Tieren arbeiten. Auch die verschiedenen Bereiche des Areals werden erläutert. Im Grunde handelt es sich um ein Beckensystem, wobei die verschiedenen Bereiche durch Tore voneinander getrennt werden können. Etwa wenn die Weibchen von den Männchen separiert werden müssen. Für umfangreichere Untersuchungen oder die Behandlung von Verletzungen, kommen die Tiere in ein „Trockendock“, also ein Becken, dessen Boden bis hinauf zur Wasseroberfläche fahren kann. Dort können sich die Ärzte dann intensiv um das Tier kümmern.

Bei diesem Rundgang wird mir auch gezeigt, welcher der Wale der umstrittene Orcar Morgan ist. Umstritten deswegen, weil ihn die Gegner der Shows zu ihrer Galionsfigur gemacht haben. Morgan stammt aus dem Ozean (die meisten heutigen Orcas in Zoos sind schon dort geboren) und soll auch dorthin zurück, fordern sie. Das Problem ist nur, dass Morgan schwerhörig ist und darum in freier Wildbahn nicht überlebensfähig. Als er 2010 im niederländischen Wattenmeer gefunden wurde, war er fast verhungert. Er wurde vor Ort versorgt und untersucht, wobei unabhängige Experten ihm aufgrund seiner Behinderung keine Überlebenschance im Meer gaben. Die niederländische Regierung entschied daraufhin, dass er in die Obhut des Loro Parks überstellt werden soll, weil dort die Infrastruktur und die Erfahrung im Umgang mit solchen Tieren vorhanden sei. Es ist erstaunlich, dass diese Fakten über die schwere Behinderung des Tieres seine „Unterstützer“ nicht irritieren. Sie fordern immer noch, dass Morgan zurück ins Meer soll. Auch für so manches Mensch-Tier-Verhältnis gilt offenbar: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.“

Ob Orcars sich in einem Zoo wie dem Loro Park nun wohl oder unwohl fühlen, weiß ich nicht. Im Grunde ist das ja auch der eine große Graben, der uns von der Tierwelt trennt, dass uns niemand „von der anderen Seite“ aus verbindlich bestätigen kann, ob er zufrieden ist oder nicht. Von daher können wir nicht mehr machen, als möglichst vielen Daten und Fakten zu sammeln, um auf diesen aufbauend die Tiere immer besser zu verstehen und ihnen dadurch eine möglichst artgerechte Umgebung anzubieten.

So, und was nehme ich sonst noch aus meinem embedded Wochenende mit? Dass moderne Zoos, wie der in Teneriffa, längst auch eine wichtige Rolle beim Schutz für die Tierwelt spielen. Der Loro Park verfügt zum Beispiel über die größte Aufzuchtstation für Papageien weltweit und hat für die Stabilisierung mehrere stark gefährdeter Arten gesorgt (für die Papageien-Nerds: u.a. Blaue Aras, Gelbohrsittiche, Rotsteißkakadu und Blaulatzara) und gibt insgesamt jährlich knapp eine Millionen Dollar für Projekte zur Rettung bedrohter Tiere aus. Vor allem aber sind Zoos ja so etwas wie die Arche Noah der Neuzeit. Man bekommt hier eine kleine Ahnung davon, was die Tierwelt unseres Planeten so alles zu bieten hat. Und vor allem: was wir zu verlieren drohen, wenn wir nicht aufpassen.

Der Besuch im Loro Park zeigte aber auch, dass die Orcas längst nicht die größte Attraktion des Zoos sind, die ist eindeutig Kiessling selbst. Mehrmals schoben sich während unseres Rundgangs resolute Damen in unsere Gruppe, um Fotos vom Gründer zu machen. Eigentlich sollte nicht nur vor den Aquarien, sondern auch auf seinem T-Shirt stehen: „Nicht mit Blitz fotografieren!“.

Von Gideon Böss erschien zuletzt das Sachbuch: „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Wo bleiben die bayerlympischen Spiele?

Auch diese Olympischen Spiele werden wieder von Dopingskandalen überschattet. Ich habe eine Idee, wie sich dieses Problem lösen lässt. Und diese Idee ist kurz und knapp und heißt: Bayerlympics.

Warum wird aus der Not keine Tugend gemacht? Doping gab es schon immer und Doping wird es immer geben. Man kann es nicht aus der Welt schaffen, das ist unmöglich. Aber man könnte es in legale Bahnen lenken. Warum wird nicht ganz offiziell eine weitere olympische Bühne eröffnet, auf der Dopingmittel selbstverständlicher Teil der Wettkämpfe sind?

Es wäre doch spannend zu sehen, was die Pharmaindustrie für Wundermitteln im Angebot hat und wie sehr das die Grenzen dessen verschiebt, was Menschen unter „normalen“ Bedingungen leisten können. Die 100-Meter unter neun Sekunden? Weitsprünge von 10 Metern und mehr? Marathonläufer, die nach neunzig Minuten duschen gehen? Es wäre ziemlich spannend zu sehen, was diese Frankensteinspiele für Ergebnisse erzielen würden.

Die Gefahr, dass das legale Dopen eine Gefahr für die Sportler darstellt, gibt es zwar, aber Gefahren für die Gesundheit gibt es im Leistungssport ohnehin immer. Leistungssport ist nun einmal Extremsport. Gleichzeitig kann kein Pharmaunternehmen ein Interesse daran haben, Sportler zu Tode zu dopen, was schon eine Skrupelbremse aus wirtschaftlichen Gründen garantiert.

Von daher dürfte die Gefahr, dass die Athleten wie Versuchskaninchen mit neusten Tabletten und Pillen gemästet werden, unbegründet sein. Das Gegenteil wird eintreten: gerade weil Doping dadurch legal wird, wird es weniger Fälle geben, bei denen Sportler durch Dopingmittel gesundheitlich ruiniert werden oder sogar sterben. Denn erst die Illegalität sorgt dafür, dass viele (heute noch) unerlaubte Mittel nicht perfekt auf den jeweiligen Sportler abgestimmt werden können. Da würde es eine ganz andere Art der Professionalisierung geben, wenn Doping nicht mehr als ultimativer Sündenfall gesehen würde, sondern ein normaler Teil der pharmazeutisch-sportlichen Vorbereitungen wäre.

Auf diese Weise würde es also künftig die traditionellen Spiele geben (bei denen Dopingfälle ab dann drakonisch bestraft gehören) und eben die Bayerlympics, bei denen die Pharmaindustrie zeigen darf, was ihre Labore so alles zu bieten haben.

Von Gideon Böss erschien zuletzt das Sachbuch „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Killerspiele, Killeräste und Thomas de Maizière

Thomas de Maizière wärmt nach dem Amoklauf von München die Debatte über Killerspiele wieder auf. Anlass ist die Tatsache, dass der Täter solche Spiele auf seinem PC hatte. Dass die praktisch jeder Mensch besitzt, der noch nicht auf der Welt war, als Neil Armstrong den Mond betrat, bringt den Innenminister dabei nicht aus der Ruhe. Wenn sie jeder hat, haben sie schließlich auch alle(!) Täter. Da sprechen doch die Zahlen für sich.

Immerhin werden in Killerspielen Menschen getötet, deswegen heißen sie ja auch so. (Gut, genau genommen heißen sie nicht Killerspiele, sondern werde von Politikern so genannt, die in diesem Fall mal keinen Wert auf sensible Sprache legen.) Dass die Jugend durch solche Spiele eine besondere Begeisterung für Waffen, Krieg und Gewalt entwickeln, sieht man ja eindeutig daran, dass die Bundeswehr den Ansturm junger Freiwilliger kaum bewältigen kann. Es sind einfach zu viele, die unbedingt eine Waffe in der Hand halten wollen. So wie Deutschlands Jugend überhaupt total verroht ist, was auch die Shell-Jugendstudie bestätigt, laut der jungen Leuten Familie und Freunde am Wichtigsten sind. („Und Killerspiele – um so das Töten zu erlernen“, hat de Maizière in seiner Ausgabe der Shell-Jugendstudie noch handschriftlich hinzugefügt.)

Überhaupt wäre die Menschheitsgeschichte längst nicht so blutig verlaufen, wenn Killerspiele und ihre primitiven Vorläufer nicht gewesen wären. Kinder und Jugendliche spielten über Jahrtausende mit „Killerästen“, die sie im Wald fanden. Mit denen tobten sie herum und bildeten sich ein, dass sie tapfere Krieger wären. Die Folgen sind bekannt: von Alexander dem Großen über Julius Caesar bis zu Napoleon, Hitler und Mao haben sie alle mit Killerästen gespielt. Die Sache ist eindeutig! Man hätte schon viel früher über ein Verbot von Wäldern diskutieren müssen.

Nur eine Sache scheint keine Auswirkungen auf Killer zu haben: religiöse Bücher – und da ganz speziell die, auf die sie sich selbst berufen. Als zwei Islamisten 2015 in Paris eine komplette Zeitungsredaktion hinrichtete, stellte Killerismus-Experte de Maizière sofort fest: „Terroristische Anschläge habe nichts mit dem Islam zu tun.“ Klare Ansage, da können die Terroristen sich noch so oft auf ihr heiliges Buch beziehen, vor de Maizière kommen sie damit nicht durch. Hätten sie sich hingegen auf das Spiel Counterstrike berufen, gäbe es ein Tatmotiv. So einfach ist es manchmal.

Und auch in der Bibel finden sich ja Aufrufe zu gottgewollten ethnischen Säuberungen und Völkermorden, ohne dass das den Innenminister beunruhigt. In einem Buch, das in vielen deutschen Wohnungen liegt, das Kindern schon in der Schule nahegebracht und von Millionen Erwachsenen sehr ernst genommen wird. Trotzdem spricht de Maizière nicht von einem „Killerbuch“. So wie er es auch nicht beim Koran macht. Denn er weiß, dass die Terroristen eigentlich nicht religiös verblendet sind, sondern einfach nur zu viele LAN-Partys hinter sich haben. Da drehste einfach irgendwann durch. Ist so. Weiß der Innenminister selbst am besten, versackt ja oft genug auf solchen Events.

Gut jedenfalls, dass er zu unterscheiden weiß zwischen gefährlichen Computerspielen einerseits und ungefährlichem religiösen Wahn andererseits. Wirklich explosiv wird es immer erst, wenn Killerspiele hinzukommen. Wenn man die verbieten könnte, wäre die Welt endlich wieder ein friedlicher Ort. So wie früher, als es noch keine Killerspiele gab. Und keine Depressionen. Und generell keine psychischen Erkrankungen.

Gideon Böss veröffentlichte zuletzt das Buch „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Die EU ist eine gute Idee. Eigentlich.

Dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, ist schade. Und es ist gefährlich, vor allem für die EU, denn dieser Schritt bedroht sie viel mehr als das Vereinigte Königreich. Ich hatte gehofft, dass der Brexit scheitert, weil ich die Idee hinter der EU großartig finde. Schließlich ist es eine tolle Geschichte, wenn ein Kontinent, der sich bis dahin in regelmäßigen Abständen mit Terror, Krieg und Völkermord zugrunde richtete, zusammenwächst, Wohlstand erwirtschaftet und seinen Bürgern das grenzenlose Reisen durch das gesamte EU-Gebiet ermöglicht.

Dass die europäischen Staaten heute auch ohne die EU keine Kriege gegeneinander mehr führen würden, stimmt zwar, macht aber die Verdienste der EU um die Entwicklung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weniger groß. (Die andere Institution, die sich ebenfalls große Verdienste um den Frieden in Europa erworben hat, ist übrigens die NATO -also die USA-, da sie der EU das Überleben sicherte und immer noch sichert.)

Und trotzdem zeigt der Brexit auch, was alles schief läuft in der EU. Die Briten haben sich in freien Wahlen für den Austritt entschieden. Das ist schade, aber eben auch ein urdemokratischer Vorgang. Die EU hätte dieser Entscheidung mit dem Respekt begegnen müssen, der sich in so einem Fall gehört. Da verlässt jemand freiwillig einen Club, dem er davor freiwillig beigetreten ist. Dass stattdessen nach dem Votum plötzlich in Brüssel ein aktionistischer Druck auf London ausgeübt wurde, nun aber auch bitteschön innerhalb weniger Tagen alles in die Wege zu leiten, war peinlich und nicht angemessen. Zumal die EU auch sonst immer ein eher gemächliches Tempo einschlägt. Da ist es nicht zu verstehen, warum ausgerechnet in einer so komplexen Angelegenheit plötzlich so sehr gedrängt wurde. Der Grund dürfte vor allem mit der Kränkung zu tun haben, dass sich da jemand gegen die EU entschieden hat, die es bislang nur gewohnt war, umworben zu sein. Der erste Korb tut halt immer am meisten weh.

Genau dieses Selbstbild ist ein Problem der EU. Sie muss begreifen, dass sie kein Selbstzweck sein kann, sondern davon abhängig ist, ob sie die Länder und Bürger immer wieder von der Idee EU überzeugen kann. Denn es gibt Alternativen, spätestens jetzt muss das auch dem größten Ignoranten klar sein. Leider machen aber die Reaktion aus Brüssel nicht den Eindruck, als ob der Brexit einen Prozess der Selbstkritik ausgelöst hat. Wenn eines der wichtigsten Länder freiwillig die EU verlässt, sollte das vielleicht auch das eine oder andere EU-Alphatier darüber nachdenken lassen, ob und was womöglich falsch läuft. Und durchaus darf man in so einer Situation auch die eigene politische Zukunft kritisch überdenken. Aber Rücktritte von Juncker und Schulz sind ausgeblieben, so wie sich generell niemand veranlasst sah, Platz zu machen.

Und wenn dann doch jemand konsequent ist, wird das mit einem Geifern kommentiert, als ob es sich für demokratische Politiker nicht gehört, auch nur einen Tag weniger als irgend möglich an ihren Posten zu kleben. Dass David Cameron direkt nach dem Brexit seine politische Laufbahn für beendet erklärte, wurde in der EU als feige Aktion angesehen. Dabei wäre alles andere inkonsequent gewesen. Cameron war entschieden gegen den Brexit, das Volk dafür. Also ist Cameron nicht der richtige Mann für diese Aufgabe. Auch Boris Johnson und Nigel Farage zogen sich zurück, zwei wichtige Befürworter für den EU-Austritt. Johnson, weil er im parteiinternen Kampf um die Cameron-Nachfolge schlicht verlor und Farage, weil er sein politisches Lebenswerk erfüllt sieht. Er machte Politik, um Großbritannien aus der EU zu lösen und Großbritannien hat sich nun genau dafür entschieden. Warum soll er weitermachen müssen? Wer findet, Farage solle jetzt gefälligst auch „ausbaden“, was er „angerichtet“ hat, zieht ohnehin einen falschen Schluss aus dem Referendum. Wenn überhaupt, hat der Wähler etwas „angerichtet“, denn er hat entschieden, und eben nicht Farage oder Johnson. Nun ist die Politik am Zuge, den Willen des Wählers (bzw. des Volkes) umzusetzen. Dafür sind Politiker da, die müssen aber nicht zwingend Farage heißen, was ja einer der sympathischen Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Diktatur ist.

Während in Großbritannien also gerade nach dieser epochalen Wahlentscheidung die Demokratie zeigt, was sie ausmacht, passiert in Brüssel leider nichts in diese Richtung. Stattdessen ist da eine erstaunliche Selbstzufriedenheit inmitten der schwersten Krise der eigenen Geschichte zu bestaunen. Dabei ist die EU nur so viel wert, wie die Idee hinter einem geeinten Europa. Wenn diese an Strahlkraft verliert, verliert auch Brüssel an Legitimität. Also muss sich auch diese Idee immer wieder bewehren und die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ideen suchen. Dazu gehört auch, diese anderen Ideen ernst zu nehmen. Die EU hat die Brexit-Kampagne bis zum Ende nicht wirklich ernst genommen und gedacht, dass sie natürlich scheitern wird. Es kam anders und erst dann wurde Brüssel aktiv und zwar auf die unsouveräne Art, wie sie schlechten Verlierern eigen ist.

Wenn die EU nicht bald in den Ring steigt, und die eigene Idee offensiv bewirbt, wird sie schneller zerfallen als man es sich heute vorstellen kann. Ob die Funktionäre, die aktuell in Brüssel am Ruder sind, eine solche Überzeugungsarbeit leisten können, muss stark bezweifelt werden. Dass sie demnächst abtreten, aber auch. Leider.

Von Gideon Böss erschien zuletzt: „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäusern“

Der (fehlende) Handschlag Gottes

An einer Berliner Schule eskalierte gerade der Streit zwischen den Eltern eines Schülers und seiner Lehrerin. Dabei gab es nicht einmal inhaltliche Auseinandersetzungen, denn bis zu denen kam es beim Treffen gar nicht erst. Genaugenommen kam es nicht mal wirklich zum Treffen, denn nach dem Versuch einer Begrüßung war schon Schluss. Die Lehrerin reichte dem Vater des Schülers die Hand, die dieser – ein Imam – aus religiösen Gründen nicht schütteln wollte. Die Frau bestand aber aus Gründen des Respekts und der Gleichberechtigung auf diese Begrüßung. Der Imam verweigerte sie weiterhin. Und so gingen beide Seiten wieder ungeschüttelt ihrer Wege. Die Lehrerin wirft dem Vater nun Frauenfeindlichkeit vor und der Vater der Lehrerin umgekehrt „Verletzung der Religionswürde“ und fremdenfeindliche Diskriminierung. Einmal von den Details dieses Falles abgesehen (was ist zum Beispiel Religionswürde?), zeigt er doch ziemlich gut, wie schwer sich Religionen in ihrer orthodoxen Auslegung damit tun, die Errungenschaften der Aufklärung zu akzeptieren.

Dass ein strenggläubiger Moslem einer fremden Frau die Hand nicht reichen will, geht auf den Propheten Mohammed zurück, der diesen Brauch einführte. Mohammed lebte allerdings vor 1400 Jahren. Damals gab es so ziemlich nichts von dem, was unsere Welt heute prägt. Was kein Problem wäre, wenn sein Leben nicht als goldenes Vorbild dafür dienen würde, wie ein gläubiger Moslem sich zu verhalten hat. Speziell dafür gibt es neben dem Koran noch die Hadithen, eine Sammlung von Anweisungen, wie man sich in welcher Lebenssituation zu verhalten hat – vom Beruhigen eines Kinders bis hin zur Behandlung von Gefangenen. Im Grunde sind sie ein Knigge für Gottesfürchtige.

Nun hat der Erfolg dem Islam einerseits recht gegeben, immerhin schaffte er es auf Platz zwei der größten Religionen der Welt. Und dennoch kann niemand behaupten, dass diese Religion aktuell in ihrer Blüte steht. Im Gegenteil, islamische Länder belegen die letzten Plätze in Sachen Bildung, Frauenrechte und Minderheitenschutz. Millionen Moslems immigrieren oder flüchten (in Merkeldeutschland Synonyme für ein- und dasselbe) aus muslimischen Staaten in den Westen und folgen damit den ethnischen und religiösen Minderheiten, für die es schon zuvor keine Zukunft mehr in diesen Ländern gab. Auch der Imam aus Berlin war übrigens Opfer dieser Intoleranz, da er als türkischer Schiit einer muslimischen Richtung angehört, die in der sunnitischen Türkei heftigen Repressalien ausgesetzt ist. (Dass er selbst wenig von liberalen Werten hält, darf nicht nur wegen dem verweigerten Handschlag angenommen werden, schließlich fand seine theologische Ausbildung im Iran statt, wo mit Verweis auf den Koran Homosexuelle hingerichtet werden.)

Ein Problem, das in vielen Religionen vorkommt, und im Moment vor allem beim orthodoxen Islam auffällt, ist eine reaktionäre Einstellung. Wären solche Religionen Menschen, so wären sie die sturen Großeltern, die sich trotzig „Das haben wir schon immer so gemacht“ auf das welke Fleisch tätowiert haben. Eine Haltung übrigens, die so gar nicht in unsere Zeit passt. Innovative Unternehmen verbessern und erleichtern uns den Alltag mit immer neuen Produkten und investieren alles in den Versuch, ihre Produkte immer perfekter zu machen und Fehler zu korrigieren. Der Anspruch dabei ist es, das eigene Produkt immer noch besser zu machen. Deswegen haben zum Beispiel heutige Computer kaum noch etwas mit dem C64 gemein.

Es würde den Religionen gut tun, sich etwas von dieser Startup-Mentalität unserer Zeit abzuschauen und das eigene Produkt intensiver zu überprüfen. Womöglich finden sich ja Elemente, die nicht mehr zeitgemäß sind. Eine Religion sollte ja nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn an dieser oder jener Stelle dann doch eine Anpassung an völlig andere Zeiten vorgenommen wird.

Und wenn nicht, können die Gläubigen ja immer noch selbst entscheiden, was für Regeln sie befolgen wollen und welche sie nicht mehr passend finden. Das gehört bei den Christen in Deutschland längst dazu. Und bei vielen Moslems auch. Auch wenn ihnen das sowohl orthodoxe Imame als auch Islamgegner nicht durchgehen lassen wollen.

Gideon Böss schrieb das Buch: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäusern

Die Nationalmannschaft und die Nationalhymne

Zu den ödesten Debatten rund um WM- und EM-Turniere, gehört die Frage, ob die Spieler die Nationalhymne mitsingen sollen oder nicht. Wer sich verweigert, hat nichts im Vorzeigeteam verloren, heißt es von denen, die einen Singzwang fordern. Sie schauen ganz genau hin, wenn vor dem Spiel die Hymne läuft, und die Kamera an den Gesichtern der Elf vorbeizieht. Wer singt richtig, wer bewegt nur etwas die Lippen und bei wem tut sich gar nichts im Gesicht?

Aus der Frage, ob jemand singt oder nicht, wird dabei so eine Art Instant-Patriotismustest vom heimischen Fernsehsofa aus. Und da unter den Verweigerern wiederum mehrere Spieler mit Migrationshintergrund sind, wächst sich das Ganze noch zu einer Integrationsdebatte aus.

Diese ganze Debatte ist überflüssig. Ob jemand die Hymne singt oder nicht, soll jeder für sich entscheiden. Wer dabei nichts spürt, soll es bleiben lassen. Daraus kann man erst einmal gar nichts über die Gefühle des „Stummen“ ableiten. So wie es ohnehin eine heikle Disziplin ist, messen zu wollen, wie stark nun die Gefühle eines Menschen zu seinem Land sind? Wie will man das herausfinden, was sind da die objektiven Maßstäbe? Und warum ist das wichtig – speziell, wenn es um Fußball geht?

Wenn Fußballer ihrer Gesundheit riskieren, weil sie für Deutschland spielen, haben sie damit schon ein Bekenntnis abgelegt. Und der DFB muss die Spieler auch nicht gewaltsam dazu bringen, aufzulaufen. Von daher könnte man sich doch als Faustregel merken, dass jene, die das Adler-Trikot tragen, vermutlich ganz gerne für Deutschland gegen den Ball treten.

Alles andere wäre auch ein wenig ungeschickt, denn es gibt nicht viele andere Funktionen, in denen man Deutschland prominenter vertritt, als wenn man Spieler der deutschen Nationalmannschaft ist. Bundeskanzlerin oder Bundespräsident gibt es danach vielleicht noch. Andererseits ist Özil weltweit bekannter als Gauck.

Es ist egal, ob jemand die Nationalhymne mitsingt oder nicht. Wer aber aus einer solchen persönlichen Entscheidung eines Fußballers mehr macht, als dessen persönliche Entscheidung, sollte vielleicht besser erst zum Anpfiff einschaltet, das ist besser für den Blutdruck, außerdem werden die anderen Zuschauer dann auch nicht mit verqueren politischen Theorien genervt, wenn sie einfach nur Fußball gucken wollen.

Von Gideon Böss erschien gerade das Buch „Deutschland, deine Götter- Zu Besuch in Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Netflix einfach mal in Ruhe lassen, EU

Wirklich nervig ist es, dass Politiker und Behörden die Tendenz haben, sich überall einzumischen. Speziell auch in Bereiche, die ganz wunderbar ohne sie funktionieren. Aktuell beweist die EU einmal mehr diese Aufdringlichkeit. Es geht um Streamingdienste, also um den Markt, auf dem vor allem Netflix große Erfolge feiert und beinahe im Wochentakt neue großartige Serien veröffentlicht.

Doch statt froh zu sein, dass die Konsumenten durch Netflix (und andere) genau die hochwertigen Serien geliefert bekommen, an denen die milliardenteuren Rundfunkgebührensender chronisch scheitern, werden diese Anbieter nun aus Brüssel bedrängt. Die Forderung ist, dass eine Quote kommen soll. Mindestens 20 Prozent der Produktionen sollen künftig aus der EU stammen.

Es gibt so viele gute Gründe gegen diesen Vorstoß und keinen einzigen dafür. Warum lässt die EU nicht die Finger von Dingen, die wunderbar funktionieren? Und warum findet sie, dass sie sich in die Programmgestaltung der Streaming-Dienste einmischen darf? Und meint die EU etwa, dass die Kunden von Netflix ungeduldig darauf warten, endlich all die europäische Ware gucken zu dürfen, wegen deren fehlenden Qualität sie ja so froh über Netflix sind? Und warum hat die EU so wenig Vertrauen in den Markt? Zumal Netflix längst Interesse daran hat, europäische Stoffe einzukaufen oder zu produzieren, auch wenn bislang die Ergebnisse nicht so erfolgreich waren.

Europäische Produktionen müssen sich an der starken US-Konkurrenz messen lasse, und da schneidet sie seit Jahrzehnten schlecht ab. Übrigens vergrößerte sich der Abstand in den letzten Jahren sogar noch einmal spürbar. Was der europäischen Filmszene fehlt, sind Innovationen und Mut. Solange es daran scheitert, wird sich am aktuell eher bescheidenen Niveau nichts ändern. Und dass ausgerechnet die EU-Bürokratie, als Inbegriff spröder Fantasielosigkeit, nun meint, als Retter auftrumpfen zu müssen, macht die Sache noch schlimmer.

Zumal eine solche Quote auch deswegen nutzlos ist, weil Anbieter wie Netflix am Ende eben ein paar Alibi-Serie ins Programm aufnehmen werden, um diese Auflage zu erfüllen. Die schaut dann keiner, weil es ja einen Grund gibt, warum sie nur über EU-Druck ins Programm kamen. Aber die EU wäre zufrieden, denn die Vorgaben wurden erfüllt.

Die EU macht genug Fehler und hat reichlich Probleme, die sie lösen muss (da gibt es zum Beispiel so eine winzige Flüchtlingskrise), da muss sie nicht noch Schaden in Bereich anrichten, die richtig gut funktionieren.

Hier geht es zum aktuellen Buch von Gideon Böss: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Kirchen, Tempel, Hexenhäuser

Götter tun sich generell schwer mit dem Grundgesetz

Jan Fleischhauer hat sich in seiner aktuellen Kolumne mit der AfD und ihrer Haltung zum Islam beschäftigt. Speziell was die Vereinbarung von Islam und Grundgesetz angeht, sieht die Ex-Lucke-Partei erhebliche Probleme. Fleischhauer erwähnt in dem Zusammenhang auch mein Buch „Deutschland, deine Götter“ und ich denke, dass mich das eine Jahr der Reisen zu den verschiedensten Glaubensgemeinschaften nun zwar nicht zum Religionsexperten gemacht hat, aber immerhin zu einem Religions-Touristen.

Darum will ich mich zu dem Thema auch zu Wort melden. Generell muss man sagen, dass die Götter keinen großen Wert auf menschgemachte Verfassungen legen. Es gibt niemanden da oben im Pantheon, dem es ein besonderes Anliegen ist, dass wir uns ans Grundgesetz halten (sonst hätte er es selbst verfasst und in Tontafeln unter das Volk gebracht). Dementsprechend würde auch keine Religion den Einbürgerungstest bestehen. Götter wären von ihrer autoritären und/oder totalitären Haltung her im Zweifel viel eher ein Fall für den Verfassungsschutz.

In der Bibel beispielsweise, die ja nun sowohl für Juden als auch Christen so etwas wie der Glaubens-Knigge ist, gibt es Passagen, in denen Gott sich in einen wahren Blutrausch hineinsteigert und Mord und Totschlag für alle möglichen Dinge verlangt, für die man bei uns höchstens in die Klatschspalten der Boulevardmedien kommt. Affären, Seitensprünge, Sex mit dem Nachbarn (oder mit Tieren). Er will sogar, dass getötet wird, wer „seinem Vater oder seiner Mutter flucht“. Was ja auch irgendwie gegen die im Grundgesetz garantierte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, gegen die Meinungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit – und diverse andere Rechte – verstößt.

Und im Zentrum des Hinduismus befindet sich mit dem Kastensystem ein rassistisches Menschenbild, das dem Leid des Einzelnen nur mit Verachtung entgegentritt, weil es ja selbstverschuldet ist. Hätte man sich in früheren Leben keine üblen Verfehlungen erlaubt, wäre man nun auch kein sozial Ausgestoßener.

Mit Homosexualität tun sich eigentlich alle Religionen schwer. Was umso erstaunlicher ist, weil die Gläubigen umgekehrt akzeptieren können, dass höhere Mächte das Universum erschaffen haben und schon immer waren und immer sein werden. Aber die Vorstellung, dass sich zwei Männer oder zwei Frauen lieben könnten, bringt sie an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft.

Dass die allermeisten Religiösen in Deutschland (und das bedeutet hier immer: die allermeisten Christen) nicht auf Schwule losgehen, die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht zurückdrehen wollen und generell die Worte Gottes nicht mehr so wörtlich nehmen, liegt nicht an der Religion, sondern daran, dass sie diese relativiert haben.

Der Absolutheitsanspruch, den die meisten Glaubensgemeinschaften haben, ist natürlich nie vereinbar mit einer weltlichen Verfassung. Nicht ohne Grund lehnen zum Beispiel die Piusbrüder – diese in Bernstein eingeschlossene Form des Katholizismus aus der Zeit vor dem zweiten Vatikanischen Konzil – die Menschenrechte ab. Der Grund: diese garantieren die Religionsfreiheit. Es gibt aber keinen anderen echten Glauben neben dem Katholizismus, deswegen ist die Religionsfreiheit ein Komplott gegen den Glauben und letztlich gegen Gott.

Diese Haltung haben sie nicht exklusiv, sie ist den meisten monotheistischen Strömungen eingebrannt. Und auch wenn heutzutage lieber die Gemeinsamkeiten betont werden, bleibt es dabei, dass letztlich speziell im missionierenden Monotheismus der alte Highlander-Slogan gilt: Es kann nur einen geben!

Religionen sind also eher nicht die Vorzeige-Demokraten. Dafür sind die Götter zu wenig interessiert an Gewaltenteilung, an freien und geheimen Wahlen und an politischen Kompromissen. Einen Gott, der ganze Städte niederbrennen lässt, will man jedenfalls nicht als Streitschlichter bei S21 oder anderen Großprojekten haben.

Solange Religionen sich an die Grenzen halten, die ihnen das Grundgesetz zieht, ist ihre freie Ausübung garantiert und geschützt. Wenn jemand aber meint, das Grundgesetz durch eine religiöse Gesetzgebung ersetzen zu müssen, macht sich so zum Feind dieser Verfassung, weswegen der Rechtsstaat ihn bekämpfen wird. Religionsfreiheit ist ja ein Individualrecht, schon alleine deswegen wäre das Verbot einer Religion nicht möglich – und weil es ein geschütztes Grundrecht ist. Wer dieses Grundrecht abschaffen will, bekämpft unseren Rechtsstaat. Das kann man machen, dann ist man aber eben ein Feind unserer Demokratie und nicht ihr Verteidiger.

Gideon Böss: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Kirchen, Tempel, Hexenhäuser