Völkische Probebühne. Dresden und der Tag der deutschen Einheit

Schon wieder Dresden, immer wieder Dresden. Kaum eine andere Großstadt Deutschlands besitzt eine derart starke, strahlende und geschichtsgetränkte Aura wie Dresden. Es gilt aber auch: Keine andere Großstadt Deutschlands ist so sehr zum Tummelplatz von Demokratieverächtern und -feinden geworden wie eben Dresden. Zahlenmäßig werden es so viele gar nicht sein. Beunruhigend ist aber, dass die Stadt, ihre Bürger und ihre Autoritäten seit Jahr’ und Tag nicht fähig, vielleicht auch nicht rechts willens sind, diesen Mummenschanz zu bannen. Dresden ist die größte deutsche Stadtlandschaft und Arena, in der das Einreißen von Grenzen des Anstands und des demokratisch Erlaubten derart hartnäckig, lustvoll und furcht- wie folgenlos geprobt werden kann. Der aus Dresden stammende Erich Kästner schrieb 1957 rückblickend: „Dresden war eine wunderbare Stadt. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang. Eigentlich müsste es heißen: im Zweiklang.“ Allem Bemühen zum Trotz, das alte „Elbflorenz“ als Bürger- und Kunststadt wiederherzustellen – diese Zeiten sind vorerst zumindest vorbei. Dresden ist zur Probebühne und zum Exerzierplatz sprachlicher Entgleisungen und völkischer Tabubrüche geworden. Weiterlesen

Solitär des Barock. Zum 400. Geburtstag von Andreas Gryphius

Er hat poetische Zeilen geschrieben, die noch heute mehr als beeindrucken. Durch ihre Kraft, ihre Wucht, durch ihre wetterleuchtende Eindringlichkeit und ihr Stakkato. Die Zeilen scheuchen auf, sie sind – eine Seltenheit in der Poesie – laut. Und von einer seltsamen Eindringlichkeit oft auch dort, wo sie still daherkommen. Andreas Gryphius war der vielleicht bedeutendste Dichter des deutschen Barock.

Eines seiner bekanntesten Gedichte heißt „Tränen des Vaterlandes“ und stammt aus dem Jahr 1636. Der Dichter ist 20 Jahre alt, seit seinem zweiten Lebensjahr tobte der am Ende 30 Jahre währende Krieg, in dem es um Glauben und weltliche Macht ging. Das Sonett beginnt mit düsterer Wucht: „Wir sint doch nuhmer gantz / ja mehr den gantz verheret!“ Das Gedicht ist eine einzige Trauerklage über die nicht enden wollende Kette von Gewalt und Grausamkeiten, die der Krieg über Deutschland gebracht hat. Und doch ist auch hier – neben dem Pathos der Verzweiflung – eine eigentümliche Faszination angesichts der Unordnung, angesichts der umgestürzten Verhältnisse zu spüren. „Die türme stehn in glutt / die Kirch ist vmbgekehret. / Das Rathaus ligt im graus / die starken sind zerhawn“: man meint, einem Vorfahren des expressionistischen Lyrikers Jakob van Hoddis zuzuhören. Der schrieb 1911 in seinem Gedicht „Weltende“: „Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. / Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.“

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Andreas Gryphius (1616-1664)

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Europa in Vorurteilen. Warum Klischees so zählebig sind

Die Menschen zählen, nicht die Völker. Mühsam und nur ganz allmählich haben wir es gelernt, von Völkerstereotypen abzusehen. Wir nehmen nicht mehr die Italiener oder die Polen wahr. Wir nehmen die einzelne Italienerin und den einzelnen Polen wahr. Menschen, hoffen und glauben wir, haben über Staatsgrenzen hinweg mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Wir lehnen es aus guten Gründen ab, Völkern Kollektiveigenschaften zuzuschreiben. Denn die Völkerpsychologie hat eine trübe Geschichte. Sie hat geholfen, dem Rassismus den Boden zu bereiten. Sie hat Klischees geschaffen und verfestigt. Diese liefen immer darauf hinaus, das eigene Volk zu Ungunsten anderer Völker mit besseren Eigenschaften auszustatten. Die Anderen waren stets von minderem Wert, minderem Charakter, geringerer Intelligenz und schlechteren Fähigkeiten.

Ein vergleichsweise frühes Beispiel für dieses verquere Herabsetzen der Anderen ist die sogenannte Steirische Völkertafel. Sie entstand im frühen 18. Jahrhundert, vermutlich zwischen 1718 und 1726. Es gibt heute noch sechs Exemplare dieser Völkertafel, eine davon befindet sich im Kammerhofmuseum im österreichischen Bad Aussee. Das Gemälde (104 x 126 cm) enthält eine Zusammenstellung europäischer Völker mit tabellarisch geordneten Zuschreibungen verschiedener Eigenschaften – wie etwa Sitten, Kleidung, Krankheiten, religiöse Praxis oder Kriegstugenden. Über der Tabelle sind die verschiedenen Nationalcharaktere in ihrer jeweiligen Landestracht abgebildet. Der österreichische Germanist Franz K. Stanzel hat nach seiner Emeritierung der Steirischen Völkertafeln und verwandten Tafeln zwei außerordentlich materialreiche Bücher gewidmet, die die Vor- und Nachgeschichte der dort festgehaltenen Stereotypen gründlich aufdeckt. Die folgende Darstellung schöpft aus diesen Büchern, deren genaue Angaben am Ende dieses Textes stehen.

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Die Steirische Völkertafel

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Über Grenzen

Eigentlich ist in Deutschland die Erregungstemperatur merklich gesunken. Man konnte das vor knapp zwei Jahren daran erkennen, dass die AfD, die damals nur das in der Tat strittige Thema Europa hatte, kurz vor dem politischen Exitus stand. Wären ihr nicht, einem Himmelsgeschenk gleich, die Flüchtlinge zu Hilfe gekommen. Denn diesem Thema wohnt offensichtlich noch immer eine vulkanische Kraft inne. Warum besteht die Gefahr, dass Deutschland in der Flüchtlingsfrage die Façon verliert?

Ein Weg, auf diffuse Ängste angesichts der Flüchtlingsfrage zu antworten, besteht in restriktiver Politik. Das Zauberwort lautet: Obergrenze. Wer sie zu bestimmen und durchzusetzen weiß, ist – so die Suggestion – Herr des Verfahrens. Aus Politik wird so Mechanik – nicht zufällig stammt der Begriff ursprünglich aus der Mathematik. Die Gesellschaft erscheint hier als Gefäß, als Eimer, als Becher. Bis zum Eichstrich hin darf Einwanderung sein, danach ist kategorisch Schluss. Das suggeriert Sicherheit: Wir schaffen das. Man könnte dieses Verfahren Reduktion von Komplexität nennen.

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Durch die Hintertür in eine neue Ära. Deutschland im Jahre 2025

Ausweglosigkeit ist fast nie von Dauer. Denn wenn Auswege nicht in Sicht sind, werden sie umso intensiver gesucht. Oder ergeben sich. Die fundamentale Krise der Europäischen Union, die schon lange schwelte und seit in der fehlenden gemeinsamen Reaktion der EU auf de Flüchtlingsbewegung von 2015 offenkundig geworden ist, wird vermutlich gerade nicht zum vielfach prognostizierten Ende der europäischen Einigung führen. Sie wird, im Gegenteil, der Europäischen Union die Kraft verleihen, sich – wie es so schön heißt – an Haupt und Gliedern zu erneuern. Als die EU an der Flüchtlingsfrage förmlich auseinander zu fallen drohte, war das nur der End- und Gipfelpunkt eines langen Prozesses hybrider Fehlentwicklung. Die EU war starr, überreguliert geworden, hatte sich viel zu sehr mit ihrer inneren Befindlichkeit und Verfassung (im Doppelsinne) beschäftigt. Sie war außenpolitisch ein Zwerg geblieben und vor allem: Sie hat mit ihrem Vertiefungswahn („Mehr Europa“) ständig ihre Grundidee verraten – die Idee der festen, aber freiwilligen und Unterschiede zulassenden Verbindung der Staaten Europas: kein Staat und doch viel mehr als ein Staat.

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Dieses „Kirchlein im Grünen“ wurde um 1700 von hugenottischen Glaubensflüchtlingen erbaut. Es steht am Rande des Dörfchens Alt Placht, das in der Nähe von Templin liegt, wo Angela Merkel aufwuchs

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Alles Müller – oder was? Berlin nach der Wahl

Um die deutsche Sozialdemokratie steht es seit geraumer Zeit nicht mehr gut. Das wird gerne mit der Metapher gefasst, es gelinge ihr einfach nicht mehr, aus dem 25-Prozent-Turm herauszukommen. In dieser Argumentation schwingt die Erinnerung daran mit, dass die SPD einmal eine „Volkspartei“ gewesen war. Also eine Partei, die von Bürgern aus fast allen Schichten gewählt werden konnte. Und die im Prinzip in der Lage war, so stark zu werden, dass ohne sie nicht oder kaum regiert werden konnte. Das ist lange vorbei – heute feiert es die SPD, wie soeben in Berlin geschehen, schon als „Sieg“, wenn ihr Stimmenturm nicht auf 20 Prozent geschrumpft ist. Es war gespenstisch, als sich der amtierende Bürgermeister Müller – der den Wahlkampf ohne auch nur eine einzige Idee bestritten hat – in der Wahlnacht zu der Behauptung verstieg, seine Partei habe einen klaren Regierungsauftrag erhalten.

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Is dit Balin?

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Schweineköpfe gegen Flüchtlinge?

In früheren Zeiten ging es martialisch und blutrünstig zu. Siegreiche Herrscher ließen die Leichname ihrer unterlegenen Gegner öffentlich ausstellen und öffentlich verwesen. Die Köpfe Enthaupteter wurden auf Staketen gespießt und ebenfalls öffentlich ausgestellt: als Beweis der Macht des Siegreichen, als Geste der Abschreckung und als größtmögliche Demütigung, ja Vernichtung dessen, der verloren hat. Diese Mentalität wirkt archaisch, im modernen Europa scheint sie keinen Platz mehr zu haben. Doch auch hier beweist sich die Stichhaltigkeit einer vorsichtigen Regel: Nichts ist wirklich vergangen, nichts ist auf immer „überwunden“.

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Weniger Europa wäre mehr Europa

Die Europäische Union verfügt über ein beträchtliches Talent, mögliche Erfolge zu vermasseln und die Menschen gegen sich aufzubringen. Ein gutes Beispiel dafür lieferte die EU-Kommission soeben mit einer kleinen Echternacher Springprozession. Erst verkündete sie zur Freude der Bürger, dass 2017 die Roaming-Gebühren abgeschafft würden: freies Telefonieren in einem gemeinsamen Europa. Dann hieß es, das gelte nur für 90 Tage im Jahr. Und als sich dagegen Protest meldete, gab Kommissionspräsident Juncker bekannt, man werde mit einem neuen Vorschlag aufwarten. So stärkt man einen Verdacht, den Rechtspopulisten mit Freude bewirtschaften: Die EU kann’s nicht.

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Sein Traum von Europa. Albert Camus und das Deutschland der NS-Nihilisten

Wenig ist darüber bekannt: Auch die Nazis hatten etwas mit Europa, ja mit einem vereinten Europa im Sinn. Mitten im Zweiten Weltkrieg begann im nationalsozialistischen Deutschland eine Diskussion über die Neuordnung des Kontinents. Dieses vereinte Europa sollte natürlich ein deutsches Europa werden, ein von Deutschland geführtes und unterworfenes, ein germanisiertes Europa. Wie stark aber die Idee von einem gemeinsamen europäischen Raum war, zeigt sich daran, dass selbst in diesem imperialen und kolonialistischen Diskurs die Ahnung und Gewissheit mitschwang, dass es etwas gibt, das alle europäischen Völker gemein haben. Und dass Europa eine übernationale, die Nationen überragende Wesenheit ist.

Das hat man noch während des Krieges in Großbritannien und den USA sehr genau registriert – und zwar interessanterweise nicht nur als Gefahr. Seit 1942 häuften sich in britischen und amerikanischen Zeitungen Kommentare und Analysen zu diesem Thema. Sie waren in ihrer Zielrichtig in der Regel sehr klar. Erstens darf es das germanisierte, die Gleichheit der Völker negierende Europa auf keinen Fall geben. Zweitens aber dürfe man einen Teil der Idee nicht deswegen verwerfen, weil ihn die Nazis aufgebracht hatten. Mit Gewalt hätten die Nationalsozialisten einen europäischen Raum, auch wirtschaftlich, geschaffen. Es wäre ein Fehler, so die angelsächsischen Kommentatoren, nach dem Krieg wieder zum alten System von einander unabhängigen Nationalstaaten zurückzukehren. Einer, der sich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der deutschen Herr-Knecht-Idee eines vereinten Europas auseinandergesetzt hat, war Albert Camus.

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Albert Camus (3. von rechts) mit der Redaktion des „Combat“

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Alternativen für Deutschland

Einem Kalauer zufolge ist weniger manchmal mehr. In diesem Sinne hatte der bewusste Minimalist Karl Popper recht, als er sagte, der größte Vorteil der Demokratie bestehe darin, dass man in ihr die Regierung abwählen könne. Dass die Bevölkerung sich ihrer ohne Bürgerkrieg entledigen kann. Damit das funktioniert, bedarf es politischer Kräfte, vulgo: Parteien, die eine bunte Wettbewerbssituation garantieren. Die also deutlich voneinander unterschieden sind, in ihren Vorhaben wie in ihrem Personal. Der Wähler soll die Chance haben, wirklich (aus)wählen zu können: zwischen verschiedenen, markant voneinander abgehobenen Angeboten. Darum ist es heute schlecht bestellt, in Deutschland wie anderswo. Weiterlesen