Schwarz vermummte Gestalten kurven auf Ladeflächen schwerer Geländewägen durch Ruinenstädte. Schnellfeuergewehre baumeln lässig über ihren Schultern. Schnitt. Eine Bombe detoniert, Rauch zieht zum Himmel, bärtige Männer recken ihre Fäuste. Musikalisch hinterlegt ist das unwirkliche Schauspiel, das an absurdes Theater grenzt, mit treibenden Beats. Gerappt wird auch auf Deutsch. Die Botschaft ist klar: Willkommen im Abenteuerland!
Obgleich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gesellschaftlich in die Steinzeit strebt, sind deren Propagandisten bestens vernetzt. Mit Action-Videos im Internet, aber auch in Fußgängerzonen werben sie Rekruten. Oft sind es gerade in Bayern Jugendliche aus klassisch-christlichen Familien, die sich angesprochen fühlen und einen ersten Schritt Richtung Radikalisierung gehen: früher Landjugend, heute IS.
Prävention statt Repression
Im Freistaat zählt die extremistisch-salafistische Szene rund 600 Personen, über 80 sind bereits nach Syrien oder in den Irak gereist, um sich dort den Kämpfern anzuschließen. Die IS-Werbung wirkt. Sicherheitsbehörden sind alarmiert, Politiker besorgt. Doch wie gegensteuern? „Wir müssen Radikalisierungstendenzen in einem möglichst frühen Stadium entgegenwirken“, präsentierte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vergangenen Herbst einen bis dato völlig neuen Ansatz. Prävention statt Repression, Sozialarbeit statt SEK. Doch kann das funktionieren?
In Würzburg und Ansbach hat es das nicht. Vor den terroristischen Attacken in einem Zug beziehungsweise am Einlass eines Musikfestivals Mitte Juli mit mehreren teils schwer Verletzten hatten die Behörden die Angreifer nicht auf dem Schirm. Der 17-jährige Afghane und ein 27 Jahre alter Syrer hatten sich heimlich, still und leise radikalisiert – und das vor den Augen der Öffentlichkeit unter Anleitung des IS.
Im Kompetenzzentrum laufen alle Fäden zusammen
Holger Schmidt ist der Mann, der genau das verhindern soll. Der 42-Jährige leitet das „Kompetenzzentrum für Deradikalisierung“ beim Landeskriminalamt (LKA) in München. Sein Team aus insgesamt acht Polizisten, Psychologen und Islamwissenschaftlern ist Teil des Bayerischen Netzwerkes für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus – einem Zusammenschluss von Ministerien, Sicherheitsbehörden und Institutionen. Es setzt alles daran, das Rad der drohenden Radikalisierung zu stoppen.
Seit ziemlich genau einem Jahr gibt es diese bundesweit beispiellose Einheit. Über 100 Fälle gingen schon über die LKA-Schreibtische. „Aktuell bearbeiten wir 70 Sachverhalte in Bayern mit sogenannter Sicherheitsrelevanz“, so Schmidt. Sicherheitsrelevanz heißt, jemand hat bereits konkrete Reisepläne ins Kriegsgebiet oder hat sich Bombenbauanleitungen aus dem Netz geladen. Ziel ist es, diese meist jungen Menschen aus salafistischen Fängen zu befreien, ihnen den Ausstieg zu ermöglichen.
Wenn eine Gefährdungslage vorliegt, informieren wir den Staatsschutz
Informationen über potenzielle Extremisten kommen von Polizeidienststellen vor Ort, aber auch über Mitarbeiter von Justiz und anderer Behörden. „In Ausnahmefällen auch von den Eltern oder Kollegen“, berichtet Schmidt. „Diejenigen, die anrufen, sind wirklich in Sorge – nicht um sich selbst, sondern um die Person.“ Weil diese etwa nur noch aus dem Koran zitiert und auch sonst so wirkt, als hätte sie sich einer Gehirnwäsche unterzogen. Doch gerade am Anfang sei es schwer, an den- oder diejenige heranzukommen. Und: „Die Person muss zuhören.“
Mädchen verschwinden hinter ihren Schleiern
Dabei stellt Schmidt immer wieder fest, dass es wesentlich schwieriger ist, mit Mädchen ins Gespräch zu kommen. „Sie verschleiern sich plötzlich, reden dann auch nicht mehr mit Männern.“ Fälle, in denen sich lebensfrohe Teenager radikalisiert haben, sind keine Ausnahmen. Die damals 15-jährige Elif Ö. aus Neuried trennte sich im April 2014 erst von ihrem Zungenpiercing, dann von ihrem bisherigen Leben. Das Kopftuch wurde ihr Markenzeichen. Im Februar 2015 reiste sie über die Türkei nach Syrien, wo sie einen IS-Kämpfer heiratete. Auch Andrea B. aus Immenstadt im Allgäu zog es für Monate in den Nahen Osten. Ihre beiden Kinder nahm sie mit. Sie ist mittlerweile zurück, Elif Ö nicht. „Wir halten den Kontakt mit Angehören von Personen, die in Syrien sind“, erklärt Schmidt. „Wichtig ist, Kommunikationskanäle offen zu halten.“
Aber warum begeben sich die jungen Deutschen überhaupt in islamistische Knechtschaft? „Oft ist es die tiefe, innere Sehnsucht dazuzugehören“, ist Schmidt überzeugt. Die Rekrutierer versprechen Gemeinschaft und Geborgenheit. Die Jugendlichen, viele in der Pubertät, springen darauf an. Auch sind die Propaganda-Videos geschlechtsspezifisch aufbereitet: „Abenteuer für Jungs, heile Welt für Mädchen“, so Schmidt. Der „Islamische Staat“ wirkt wie ein Sehnsuchtsort. „Das Internet dient in der Regel aber nur für die Kontaktaufnahme.“ Im weiteren Radikalisierungsverlauf brauche es Realweltkontakte. Am Ende steht der Aufbruch in den Dschihad. „Wenn tatsächlich eine Gefährdungslage vorliegt, informieren wir den Staatsschutz“, sagt Schmidt.
Besorgte Eltern wenden sich an Berater
Doch so weit soll es nicht kommen. „Wir informieren, sensibilisieren und koordinieren“, umreißt der Kriminaloberrat den Arbeitsalltag. Im Einzelfall könne es darüber hinaus nötig sein, vor Ort zu sein, etwa um sich ein umfassendes Bild einer Person zu machen. Immer vor Ort sind die Berater des Violence Prevention Networks (VPN). Der Verein ist der zivilgesellschaftliche Partner des LKA. Seit April kümmern sich zwei Berater in Bayern um Jugendliche, die in den religiösen Extremismus abzurutschen drohen. „Es ist eine Szene, die nicht auf einen zukommt“, sagt Geschäftsführer Thomas Mücke. Meist hätten die Berater besorgte Eltern am Telefon.
„Flüchtlinge sind zurzeit nicht die auffälligste Gruppe“, betont Mücke. Vor allem seien es nicht nur Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, sondern „auch die Tochter eines Polizeibeamten oder der Sohn einer Lehrerin“. Ihm falle auf, dass gerade in Baden-Württemberg und Bayern viele Konvertiten aus dem Christentum dabei sind. LKA-Mann Schmidt: „Radikalisierte Mädchen beziehungsweise Frauen sind fast ausschließlich Konvertitinnen – die haben oft klassisch bayerische Familiennamen.“
Vorverurteilt wird niemand. Im Gegenteil. „Wir bieten Hilfe“, betont Schmidt. Gerade mit Syrien-Rückkehrern sei die Arbeit extrem wichtig. „Manche sind von dem, was sie erlebt haben, ernüchtert, dann brauchen sie diese ausgestreckte Hand.“
LKA stößt an Grenzen
Katharina Schulze, Vize-Fraktionschefin der Landtags-Grünen, kann der Arbeit der LKA-Beamten viel Gutes abgewinnen. Mit der Staatsregierung ist die Innenpolitikerin dennoch unzufrieden: „Bayern muss mehr tun als ein Präventions- und Deradikalisierungsnetzwerk gründen.“ Insbesondere weil sich salafistische Netzwerke nicht erst im Freistaat ausbreiteten, seit der IS öffentlichkeitswirksam wüte. Schulze hätte sich ein Präventionsprogramm zum einen schon viel früher gewünscht. Zum anderen kritisiert sie, dass gerade frauenspezifische Themen in der Präventionsarbeit noch immer viel zu kurz kämen. „Wir wollen ein Programm, das sich speziell an Mädchen und junge Frauen wendet.“ Doch der Grünen-Antrag fand im Landtag keine Mehrheit.
Auch das LKA-Team stößt gelegentlich an Grenzen. „Es gibt einige Fälle, die wir abgebrochen haben, weil der- oder diejenige im Radikalisierungsprozess schon so weit war, dass es keinen Sinn mehr machte“, erklärt Kriminaloberrat Schmidt. Doch: „Wir schließen die Fallakte nicht, sondern legen den Sachverhalt auf Wiedervorlage.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.