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Alkoholismus Mama ist jetzt in der Suchtklinik. Fabian (7) auch

2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben bei alkoholabhängigen Eltern. Wenn die einen Entzug machen, bedeutet meist Trennung. Weil das schmerzhaft für Kinder und Mütter ist, wagen Kliniken neue Wege.
Von Anja-Maria Meister | Stand: 24.09.2016 | Lesedauer: 6 Minuten
Tausende Kinder leben in Familien mit alkoholkranken Eltern Tausende Kinder leben in Familien mit alkoholkranken Eltern

Sind die Eltern alkoholkrank, ist das auch für die Kinder eine Belastung

Sind die Eltern alkoholkrank, ist das auch für die Kinder eine Belastung

Quelle: dpa

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Fabian sitzt am Küchentisch und malt. Als seine Mutter hereinkommt, springt er auf und läuft mit dem Bild in der Hand auf sie zu: „Mama, Mama, schau mal.“ Ganz normaler Familienalltag? Für Ulrike Hummel und ihren siebenjährigen Sohn ist das alles andere als normal: Die 42-Jährige ist gerade zur Reha in der Fachklinik „Haus Immanuel“, sie versucht, von ihrer Alkoholsucht loszukommen. Die Küche, in der Fabian malt, gehört zum Kindergarten in der Reha-Einrichtung im oberfränkischen Hutschdorf. Und es ist etwas ganz Besonderes, dass die Mama den Kopf frei hat für das Bild, das der Sohn gemalt hat, dass sie ganz für ihn da sein kann.

2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben bei alkoholabhängigen Eltern, allein in Bayern geht man von 400.000 aus. 400.000 Kinder und Jugendliche, die schon früh gelernt haben, „dass der Suchtstoff bei meiner Mutter im Vordergrund steht, nicht ich. Dass ich Erwachsenen nicht vertrauen kann“, wie Beate Jezussek, Sozialpädagogin, Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin im „Kindernest“ es beschreibt.

Frauen haben Angst, ihre Kinder zu verlieren

Fachleute glauben, die Gefahr, dass diese Kinder selbst süchtig werden, ist vier- bis sechsmal höher als bei anderen Kindern. „Hier gilt es, frühzeitig gegenzusteuern und Hilfe anzubieten“, sagt deshalb auch Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Sie betont: „Ein gemeinsamer Klinikaufenthalt erspart allen Beteiligten eine längere Trennung und kann ein Weg aus einer scheinbar ausweglosen Situation sein. Wichtig ist für Familien nicht nur der Sieg über die Sucht, sondern auch, dass Kinder Kinder bleiben und möglichst normal aufwachsen können.“ Doch bis das in Bayern für viele Patienten möglich ist, müssen noch viele Hürden überwunden werden.

„Nur etwa zehn Prozent der Süchtigen finden den Weg in die professionelle Suchthilfe“, sagt Andreas Koch, Geschäftsführer des Bundesverbands der Stationären Suchthilfe e.V. (BUSS). Und Frauen tun sich ohnehin schwer: Zu groß sei die Angst, die Kinder zu verlieren, wenn man die Sucht zugebe.

Bislang nur 80 Plätze für Kinder

Bei Ulrike Hummel, alleinerziehende Dreherin aus Ingolstadt, kam der Anstoß vom Arbeitgeber. Und sie sagt: „Ohne mein Kind wäre ich nicht hier.“ Allerdings gibt es im Freistaat nur drei solche Einrichtungen und damit nur rund 80 Plätze für Kinder.

Diese speziellen Angebote sind teuer. Bei Suchtentwöhnung gehört zum Beispiel Sport zur Therapie, dreimal pro Woche auch in Hutschdorf – plus Mutter-Kind-Turnen. Also braucht es eine angemessene Turnhalle. Oder das „Kindernest“: Die Betreuungseinrichtung hat einen speziell ausgestatteten Kletter- und Turnraum, weil Kinder alkoholkranker Eltern motorisch oft unterentwickelt sind. „Da spielt Scham eine Rolle: Ich zeige mich doch nicht alkoholisiert auf dem Spielplatz“, berichtet die Pädagogin Jezussek, „und so hockt das Kind mit der Mutter in der Wohnung.“ Darüber hinaus muss das „Kindernest“ den Anforderungen des bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes genügen, was Qualifikation der Erzieherinnen, Personalschüssel und bauliche Gegebenheiten angeht.

Kinder könnten selbst suchtkrank werden

An der Wichtigkeit zweifelt Gotthard Lehner, der Leiter der Fachklinik, aber keine Sekunde: „Wenn ich da nichts tue, dann sind die Kinder in 20 Jahren meine nächsten Patienten.“

Doch Rentenversicherungen zum Beispiel bezahlen für das mitgebrachte Kind lediglich den Satz, den sie auch für eine Haushaltshilfe zahlen würden, wenn die Kinder zu Hause blieben. Das sind etwa 69 Euro pro Tag. Denn: „Ziel einer medizinischen Rehabilitation ist Abstinenz und Arbeitsfähigkeit der Betroffenen“, erklärt Gotthard Lehner.

 Aus Sicht der Kassen und der Gesellschaft ist das volkswirtschaftliche Notwendigkeit. In einer Präsentation der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern heißt es dazu: Eine medizinische Reha-Maßnahme koste ca. 4500 Euro. Dem gegenüber stünde der „Nutzen“: erhaltene Beiträge (durchschnittlich 549 Euro pro Monat) und eingesparte Erwerbsminderungsrente (durchschnittlich 638 monatlich). Eine Reha habe sich also „in ca. vier Monaten amortisiert“, steht da zu lesen. Aber: Kinder Alkoholkranker sind in diese Rechnung nicht inbegriffen.

Projekt ist auf Spenden angewiesen

Für Lehner bedeutet das: Spendensammeln. „Wir konnten das ‚Kindernest‘ nur deshalb in Betrieb nehmen, weil die Benefizaktion von ‚Sternstunden‘ des Bayerischen Rundfunks und ‚BILD hilft‘ mit jeweils 90.000 Euro die Umbaumaßnahmen des Gebäudes bezahlt haben.“ Die Liste ist noch länger: Ein privater Spender hat den Spielplatz vor dem Haus mit etwa 20.000 Euro finanziert, der Sportplatz in der Nähe des „Kindernests“ wurde auch von der Benefizaktion „Sternstunden“ mit 60.000 Euro bezuschusst, und immer wieder kommen Einzelspenden zum Beispiel von Rotary.

Die Finanzierung der stationären Suchthilfe hat darüber hinaus ein strukturelles Problem: „Sie ist schlicht unterfinanziert“, sagt Andreas Koch, Geschäftsführer des Bundesverbands der Stationären Suchthilfe e.V. (BUSS). Seine Zahlen besagen, dass seit 2010 14 Prozent der Suchtreha-Betten im Freistaat weggefallen sind, weil Kliniken schließen mussten. „Marktbereinigung sagen die Versicherer“, so Lehner, „aber ich glaube, der Investitionsbedarf war zu hoch.“ Gebäude müssten zum Beispiel modernisiert werden, um barrierefrei zu sein. Doch Rücklagen für Investitionen ließen sich nicht bilden, denn Tagessätze von etwa 120 Euro reichten dafür nicht aus.

Kompetenzstreit zwischen Behörden

„In der Psychiatrie ist es dreimal so viel“, gibt Lehner zu bedenken. Es existiert auch keine Schiedsstelle für Streitpunkte wie in anderen Bereichen des Sozialwesens. Es beteiligt sich auch kein zweiter Partner an Baumaßnahmen, wie bei den Krankenhäusern, wo das Land mitbezahlt. Und: „Es gibt kein Kostenerstattungsprinzip, im Sozialgesetzbuch ist lediglich von ‚angemessener Vergütung‘ die Rede“, so Koch. Ein weiteres Problem: Der Bereich der stationären Suchthilfe ist ein „Fleckenteppich“, so sieht es auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Zuständig sind Bund und Land, Gesundheits- und Sozialministerium, Kranken- und Rentenversicherungen. Die Jugendhilfe aber ist gar nicht richtig eingebunden.

Erst 2014 verlief ein gut gemeinter Versuch der Einigung zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern auf Ebene des Freistaats – angestoßen vom Sozialministerium – im Sande. Jetzt macht der Landtag Druck: „Da muss sich etwas tun“, findet der CSU-Sozialpolitiker Joachim Unterländer, der die Staatsregierung per Landtagsbeschluss im Herbst 2015 aufgefordert hat, alle Akteure an einem runden Tisch zu versammeln, um die Probleme der Suchtfachkliniken zu „bewältigen“.

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Der Tisch tagte bereits, ebenso die Arbeitsgruppen, ansonsten hält sich das Sozialministerium bedeckt: „Die Staatsregierung ist in diesem Fall moderierend tätig und bemüht sich, mit allen Beteiligten einen gangbaren Weg zu erarbeiten“, heißt es aus dem Haus. Der Geschäftsführer des BUSS geht aber davon aus, dass noch in diesem Herbst Sozialministerin Emilia Müller dem Landtag berichten wird.

Dann wird Ulrike Hummel wahrscheinlich nicht mehr in Hutschdorf sein. Ihr Sohn Fabian ist jetzt schon wieder in Ingolstadt, er wurde am 13. September eingeschult. Die Mutter macht dann eine Eingliederung, mit zunächst wenigen Arbeitsstunden. „Das ist mir wichtig, dass ich erst einmal daheim das alles geregelt bekomme. Ich will den Kontakt, den ich jetzt zu meinem Sohn habe, nicht riskieren.“ Auch das hat Ulrike Hummel bei ihrem langen Aufenthalt mit ihrem Kind in Hutschdorf gelernt.