Ja, die 2010er laufen gerade Gefahr, als das einfallsloseste Jahrzehnt in die Kunstgeschichte einzugehen. Im Kino werden nahezu ausschließlich Remakes und Fortsetzungen produziert. „Terminator“ hat mit dem angekündigten sechsten Teil inzwischen fast so viele Folgen wie die „Fast and the Furious“-Reihe. Und musikalisch feiert jeden Tag ein anderer Star aus den Neunzigern sein Comeback. Ja, die Damen von All Saints haben dieses Jahr tatsächlich ein Album veröffentlicht.
Auch über Britney Spears wird geschrieben, der „gefallene Kinderstar“ sei mit ihrem neuen Album „Glory“ zurück. Die Platte sei endlich auch ihr Comeback. Doch das ist ein ungerechtes Missverständnis. Britney Spears war nie weg. Wir haben sie nur einfach nicht mehr beachtet.
Bereits ihr letztes Album, „Britney Jean“, das vor gerade einmal drei Jahren erschien, wurde zum Comeback hoch oder runter geschrieben. Und was ist mit „Femme Fatale“ zwei Jahre davor? Oder „Circus“ von 2008? Diese Aufzählung ließe sich fast nahtlos bis zur ihrem Debüt „… Baby One More Time“ aus dem Jahr 1999 fortführen. Die längste Veröffentlichungspause dauerte vier Jahre. So viel Zeit lag zwischen ihren Alben „In The Zone“ von 2003 und „Blackout“.
Kaugummis mit Wassermelonen-Geschmack
Letztes Jahr wurde Britney Spears vom „Forbes“-Magazin zur fünft meist verdienenden Sängerin erklärt. Letztes Jahr. Noch vor Rihanna. Warum haben wir trotzdem ständig das Gefühl, Britney habe im Alter von nur 34 Jahren bereits ihre Karriere hinter sich?
Zum einen, weil Spears wie ein Anachronismus in der heutigen Popwelt wirkt. Sie stammt aus einer Zeit, in der Authentizität und Mündigkeit für Sängerinnen und Sänger hieß, sie entscheiden höchstens selbst, welche Geschmacksrichtung ihr Kaugummi haben soll („Wassermelone“ für Britney). Labels und Manager kümmerten sich um den Rest. Es war die Zeit von Leuten wie dem gerade im Gefängnis verstorbenen Lou Pearlman, der die Backstreet Boys und NSYNC erfand.
Fremdbestimmter Plastikpop a là Spice Girls, Hansons, Christina Aguilera und eben Britney Spears führte um die Jahrhundertwende die Charts an. Es war, finanziell gesehen, das goldene Zeitalter der Plattenfirmen. Damals ließ sich noch richtig Geld verdienen – mit physischen CDs, die in der analogen Welt verkauft wurden (auch Singles, falls sich jemand daran erinnert) – und das meiste davon teilten sich Label und Management.
An Britney haftet diese Zeit noch immer wie der Patschuligeruch, den man nicht aus Secondhand-Klamotten waschen kann. Sie wirkt wie die Marionette ihres langjährigen Managers Larry Rudolph und ihres Vaters James, der seit ihrem Zusammenbruch 2008 als ihr legaler Vormund eingesetzt ist. Größere finanzielle wie auch persönliche Entscheidungen darf die Sängerin nicht selbst fällen. Die genauen Gründe dafür, das heißt, welche psychischen Erkrankungen sie derart inkompetent machen sollen, wurden nie öffentlich gemacht.
Verschiedene offizielle Dokumentarfilme, die über die Jahre versucht haben, Britney als künstlerische Herrscherin in ihrem eigenen Popreich darzustellen, konnten diesen Anschein nie korrigieren. Und so wirkt dieses Bild heute zwischen emanzipierten Stars wie Rihanna, Beyoncé, Adele, Miley Cyrus (sie scheint ihren Kontrollverlust selbst gut unter Kontrolle zu haben) und Katy Perry völlig aus der Zeit gefallen. Als sei Britney sehr lange weg gewesen und habe einen Trend verpasst.
Ein weiterer Grund, warum jede neue Britney-Platte wie ein Comeback wirkt, liegt darin, dass ihre Karriere von Anfang bis zum vermeintlichen Ende lückenlos dokumentiert wurde. Britney Spears war schon immer da, so das Gefühl. Seit Britney acht Jahre alt ist, steht sie auf irgendwelchen Bühnen. Von Off-Broadway-Musicals über den „Mickey Mouse Club“ gemeinsam mit Justin Timberlake, Christina Aguilera und Ryan Gosling (den vergisst man gern) bis zur Halbzeit-Show des Super Bowl 2001.
Und dann war sie irgendwann scheinbar weg. Da war der rasierte Kopf, der geschwungene Regenschirm und der öffentliche Zusammenbruch. Es ist das Schicksal der meisten Kinderstars, dass Google eines Tages „tot“ als erstes vorschlägt, wenn man ihren Namen in die Suchleiste eingibt. Fragen Sie mal Macaulay Culkin, wie sich das anfühlt.
Für Britney Spears ging die persönliche Kernschmelze damit einher, dass endgültig niemand mehr über ihre Musik berichtete. Eigentlich hatten sich alle sowieso schon mehr für ihr Privatleben interessiert, seit sie im Musikvideo zu „…Baby One More Time“ 1998 als kurzberocktes Schulmädchen zu sehen war.
Ihre Trennung von Kevin Federline, dem Vater ihrer beiden Söhne, die Einlieferungen in psychiatrische und Entzugskliniken und die Vormundschaft durch ihren Vater und einen Anwalt lieferten zwischen 2007 und 2008 so viel Britney-Stoff, dass man diese Phase für ihre produktivste halten könnte. Als es ihr langsam besser ging, schien sie sich immer mehr aus der Aufmerksamkeit zu verabschieden. Mit jedem neuen Album dachte man an das Comeback eines gefallenen Kinderstars.
Britney in Las Vegas
Auch in den letzten drei Jahren seit „Britney Jean“ war die Sängerin nicht untätig. Dreimal jede Woche trat sie mit ihrer 90-minütigen Show „Britney: Piece of Me“ im Planet Hollywood Resort in Las Vegas auf. Noch bis Dezember läuft ihre „Residency“ in der Casino-Stadt. 35 Millionen Dollar soll sie dafür bekommen haben. Fast immer sind die Auftritte ausverkauft. Für etwa 2000 Dollar können Hardcore-Fans die Sängerin vor jeder Show treffen und sie fragen, wie es ihr geht.
Klar, Las Vegas klingt eher nach alten Leuten an Slotmaschinen, die sich am Abend eine Show mit Elton John, Cher oder Céline Dion anschauen. Doch für Britney Spears, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, ist es auch eine geregelte Arbeit. Sie kann weiter singen, tanzen und auf der Bühne stehen. Nur eine Stunde dauert der Flug zurück nach Los Angeles, zu ihren Kindern. Das ist ziemlich unglamourös, fast schon langweilig. Nichts worüber man berichten müsste.
Aber ja, sie hat ein neues Album veröffentlich. „Glory“ ist die neunte Britney-Spears-Platte. Genau danach hört sie sich auch an. Wer den Britney-Sound immer mochte, wird auch „Glory“ mögen. Wer mit ihrem Popstückchen nie etwas anfangen konnte, den wird diese Platte auch nicht bekehren. Die „Deluxe Version“ kommt mit 17 Songs daher.
Im Text geht es hauptsächlich, wie könnte es anders sein, um Sex. Wenig subtil fordert sie einen fiktiven Partner in „Invitation“ auf: „Put your love all over me.“ In der Single „Make Me“ ermahnt sie vielleicht den Rapper G-Eazy, der als einziger Featuregast auf dem Album vertreten ist: „You know what you have to do tonight.“ Und „Slumber Party“ verheißt: „We ain’t gonna sleep tonight“. Da glaubt man ihr tatsächlich, wenn sie in „Change your mind“ singt: „I’m desperate, so desperate“.
Musikalisch ist kein wirklicher Hit dabei. „Glory“ ist elektronischer Britney-Pop mit leicht variierenden Vorzeichen. „Just Like Me“ bietet etwas Akustikgitarre. „Clumsy“ deutet Electroswing an, driftet aber zu Eurodance ab. „Love Me Down“ erinnert an frühe Stücke von Jennifer Lopez. In „What You Need“ und „Private Show“ versucht Britney sich andeutungsweise an R 'n' B.
Ihre Stimme quietscht dazu, als sei sie noch immer 17. Gelegentlich hilft Autotune aus. Immer werden die Gesangspuren übereinandergelegt, um Volumen zu produzieren. „Glory“ ist weder Meisterwerk, noch große Enttäuschung. Es ist die Fortsetzung eines Weges, den Britney seit fast 20 Jahren geht.