Selten, sehr selten, kann man sozusagen “den direkten Text” hören, wenn die ganz hohe Politik sagt, was sie denkt, und nicht das, was die Regeln der Diplomatie erfordern oder die politische Gelegenheit. Ich habe den Verdacht, dass die kürzlichen Erklärungen von Lawrow direkt an jene gerichtet sind, die sich die verdammte russische Frage stellen “Versteht der Kreml das, was passiert?”
Im Interview mit der Agentur TASS (à propos, ich gratuliere den Kollegen zur Rückkehr zum historischen Namen!!), hat Lawrow das Tüpfelchen aufs -i- gesetzt auf die Frage, wie der Kreml die Situation an der Westfront sieht: der Konflikt der Vereinigten Staaten mit uns hat einen grundlegenden, wichtigen und wohl vorherbedachten Charakter. Ich zitiere:
“Hätte es nicht die Krim und den Südwesten der Ukraine gegeben, hätte der Westen was andres erfunden. Das Ziel war ganz klar: auf jeden Fall Russland aus dem Gleichgewicht bringen. Die Aufgabe ist seit langem formuliert worden. Nehmt Syrien. Es war schon zwei Jahre davor, dass die ganze Welt mit dem Finger auf uns zeigte als die Verteidiger des Diktators, der sein eigenes Volk tyrannisiert.”
Für die besonders Begabten wiederholt Lawrow diese Anspielung nochmal mit ganz direkten Worten:
“Ich wiederhole: Wenn es den Wunsch gibt, findet sich ein Vorwand. Es ist nicht erst seit gestern, dass Washington und gewisse europäische Staaten beschlossen haben, Russland zu isolieren.”
Folglich hat auch der Kreml das nicht erst gestern verstanden, dass die Situation auf der Achse Syrien – Iran – Ukraine wie auf einer Kette liegt und Episoden einer großen Kampagne zur Zerstörung Russlands sind.
In diesem Kontext möchte ich ein paar jüngere Ereignisse in aller Kürze kommentieren:
1. Der Waffenstillstand: Meiner Meinung nach wird er nicht lange dauern. Betreffs seiner Zweckmäßigkeit: das Stromnetz wiederherstellen, die Gasleitung Lugansk/Donetsk reparieren/in Ordnung bringen, die seit weiß wie vielen Jahren nicht benutzt hat, Eskorten mit humanitärer Hilfe bringen und “humanitärer Hilfe” – was besser in der Ruhepause als unterm Bombenhagel geschieht. Das Vorhandensein von Gas und Licht in der Republik Lugansk ist ein wichtiges Mittel für die künftigen Etappen des Konfliktes.
Ich wette 9 zu 1, dass der militärische Konflikt (mit periodischen Verhandlungen) lange dauern wird und beten wir zu Gott, dass ein Verhandlungsende in diesem Jahr noch sichtbar wird.
2. Die Umkehr-Blockierung in die Ukraine durch Gazprom. Den Europäern ist das Signal geschickt worden, dass “der Winter bevorsteht” und dass es Gazprom/Kreml absolut ernst damit ist, den Gas-Konflikt bis zum Ende zu führen.
3. Strelkow in Moskau. Er lebt – das ist gut. Er glaubt an gewisse Leute und arbeitet mit gewissen Leuten – das ist schlecht. Sehr schlecht. In erster Linie für ihn selbst.
4. Die Vereinigung EU-Ukraine ist auf das Jahr 2016 verschoben worden. Zu spät, meine Herren. Putin schlug (über Janukowitsch) diese Kompromiss-Variante während der vergangenen Wiederholung des Konfliktes vor. Jetzt kann man dies erledigen als Eingeständnis Brüssels, dass Moskau am Anfang Recht hatte, aber nun nicht mehr. Die Hürden sind stark erhöht worden seit eine solche Variante aktuell war.
5. Die Sanktionen – je mehr, umso besser. Wichtig ist, dass sie sich zeitlich hinziehen, weil bei uns noch nicht alles fertig ist für die Alternativen für SWIFT und die anderen Komponenten des Finanzsystems, aber man arbeitet hartnäckig daran. Die Geschwindigkeit, mit der das jetzt geht ist beinahe ideal.
6. Der Vertrag mit Iran über das Öl beginnt sich herauszukristallisieren. Man muss den komischen Kumpels in Washington danken, die beschlossen haben, Ende August neue Sanktionen dem Iran aufzuerlegen – es war ein unerwarteter Schritt, sozusagen “Diplomatie à la Klitchko”, die nicht alle schätzen konnten. Teheran schätzte sie nicht. Man kann sagen, dass die iranische Führung den IQ-Test erfolgreich bestand.
7. Putin hat Indien, Iran und Pakistan in die SOZ [Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. AdÜ.] eingeladen. Selbst wenn nur eine der Einladungen Wirklichkeit wird, wird es ein immenser Sieg für die anti-amerikanische Koalition sein.
8. Die Anspielungen auf die Möglichkeit des Ausstiegs Russlands aus verschiedenen internationalen Verträgen. Nicht der Europäischen Menschenrechtskommission (EGMR), nein. EGMR ist eine Bagatelle. Viel interessanter sind die verschiedenen Abkommen der atomaren Bewaffnung, einschließlich jener, die die Aufstellung von Atomwaffen im Weltraum und auf den Unterwasser-Sockeln (in der Nähe der Vereinigten Staaten) verbieten – diese Richtung ist viel interessanter. Sie erfordern keine besonderen Investitionen, mehrere Technologien hat man schon, und für die USA ist das ein Alptraum. Das Ende des Herbstes wird sehr heiß. Vielleicht zu sehr.
Mit Dank an Olga, die den Text aus dem Russischen ins Französische übersetzte.
Zu punkt 5.,sanktionen: Robert Craig hat russland in seiner kürzlichen stellungnahme zur fünften kolonne in russland viel wahres geschrieben.Er rät aber zu scharfen sanktionen im gassektor und einer schnelleren gangart. Daraus schliesse ich: ein wahrer freund des Putin-Strelkov Russland ist Craig nicht. “Je mehr (sanktionen) desto besser” lese ich hier unter punkt 5. Das ist natürlich so gemeint, dass russland die sanktionen in vielfalt braucht, um aufgescheucht zu werden , die abhängigkeit vom westen zu verringern, und um die neuen allianzen zu füttern. “Je mehr (sanktionen) desto besser” halte ich für eine zu aggressive einstellung.Ich würde sagen: “je weniger und langsamer, um so besser”, denn selbst die neue gasleitung nach China steht noch nicht. Wer weiss ob nicht die westliche allianz der willigen konfliktbefürworter weiter bröckelt und wohin das führt. Vielleicht kommt “Le Pen” bald in frankreich an die macht und die steigt aus dem NATO schauspiel aus.
Strelkov ist die lebende Vision Putins für Russland. Wenn Putin absolut freie Hand hätte, würde er Strelkovs Ansichten verwirklichen. Kommt das ungefähr hin?
wieso hat wladimir putin nicht ‹absolut› freie hand?
Nun, als Politiker ist man immer an gewisse “Sachzwänge” gebunden. Allein schon das Parteisystem, die demokratischen Abläufe müssen bedient werden, selbst wenn man nur das Allernötigste macht. Es gibt immer Lobbyverbände, welche man zufriedenstellen muss. In einem grossen Land wie Russland existieren dermassen viele Interessen. Absolute Macht gibt es nicht, selbst der Sonnenkönig hatte seine Abhängigkeiten und musste Kompromisse eingehen.
Es ist kaum möglich, eine Monarchie zu reanimieren, wenn man schon in einer Demokratie steckt. Endet immer in einer Diktatur, die ganzen (adeligen) Strukturen fehlen halt. Eine Diktatur mit Familienerbe wie in Nordkorea ist eine Groteske. (Ich las, Strelkov wäre Monarchist)
Des weiteren besitzen beide Personen eine Affinität zur russisch orthodoxen Kirche, Strelkov praktiziert aktiv, Putin passiv. Selbst wenn man persönlich dran glaubt – als Staatskirche bleibt es nur noch Folklore, da ebenfalls die grosse Mehrheit der Russen Heiden sind und ansonsten die Kirche als solches Gott abgesagt hat.
strelkow ist ein hardliner, oder besser gesagt ein hitzkopf. se sehr ine strategie in der ukraine war, bis nach lwow und kiew zu gehen. da sind doch die ansichten der beiden sehr unterschiedlich.
Zu 1) Der Waffenstillstand wird vermutlich längstens bis zum 26.09. dauern. Dann endet das Manöver „Rapid Trident-2014“ unter der Ägide des Pentagons. Bis dahin stehen neue Strategien und Taktiken fest – und von den 1.300 Militärangehörigen aus 15 Ländern, den 700 Waffensystemen und >50 Militärfahrzeugen werden wahrscheinlich einige davon direkt in den Südosten verlegt. Die Regierung in Kiew steht oder fällt mit diesem kriegerischen Feldzug im eigenen Land, für den ukrainischen Staat in seiner bisherigen Form trifft das ebenfalls zu – letzten Endes auch für die westliche Politik, die keinen Gesichtsverlust, sprich Niederlage, hinnehmen werden.