Wir sind Ausnahmezustand

Gestern bat Thomas de Maiziere um „Vertrauensvorschuss“, und Schäuble sinniert wieder einmal über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Die Ereignisse in Paris werfen einen langen Schatten.

Im Internet gibt es, wie üblich, allerlei Spekulationen über Auffälligkeiten der Pariser Anschläge. Das beginnt mit wieder einmal aufgefundenen Pässen und geht über eine passend angesetzte Notfallübung von Feuerwehr und Rettungsdiensten bis hin zur auch nicht erstmaligen Tatsache, dass wieder einmal kein lebender Tatverdächtiger übrig bleibt, also niemand, dessen Schuld wirklich bewiesen werden müsste. Natürlich wird diese Debatte nicht enden; und es wird diese Debatte sein, entlang derer sich „Vertrauende“ und „Skeptiker“ voneinander trennen.

Das allerdings ist ein gewünschtes, und damit fast zwangsläufig falsches, Ergebnis. Denn die Anschläge von Paris, die Vermutungen über die Täter und die Verantwortlichen sind das eine, wie damit umgegangen wird aber das andere. Beides ist nur scheinbar miteinander verknüpft; in Wirklichkeit ist der Umgang, die staatliche Reaktion ein Ergebnis einer Entscheidung, die getrennt vom auslösenden Moment betrachtet werden muss. Um eine böse Absicht hinter der politischen Reaktion zu sehen, ist es nicht nötig, belegen zu können, dass das auslösende Ereignis selbst mit Billigung oder gar im Auftrag der Regierung stattfand. Die Konsequenzen stehen für sich.

Verblüffenderweise hatten sowohl die französische als auch die deutsche Regierung sofort mit der Einstellung zusätzlicher Polizei reagiert. Die Bundesregierung hat sogar eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Mali beschlossen. Wobei, so verblüffend war das gar nicht – diese Entscheidungen fielen samt und sonders bereits vor den Anschlägen. Interessant ist dabei nur die Frage, wie Flintenuschi der Bevölkerung den Einsatz in Mali schmackhaft gemacht hätte, wären die Pariser Anschläge nicht passiert…

Frankreich befindet sich nicht nur im Ausnahmezustand, der gleich auf drei Monate verlängert werden soll, es wurde auch ein ganzes Bündel an Gesetzen vorbereitet, die – wen überrascht das – die Bürgerrechte deutlich beschneiden. So ist etwa nicht nur der Einzug der Ausweise von „Gefährdern“ beabsichtigt (nun ja, es soll gerade günstig syrische Papiere geben), auch elektronische Fußfesseln sind beabsichtigt, schlicht auf Verdacht, und bei weitem nicht alle, die für die französische Polizei „Gefährder“ sind, sind Islamisten. (Und ehe sich hier jemand entspannt zurücklehnt – der deutsche Verfassungsschutz beobachtet seit letztem Jahr auch die „Prorussen“). Es ist also die gleiche Prozedur wie jedes Jahr: auf einen realen (oder auch nur vermeintlichen) Anschlag folgt eine weitere Verschärfung der Überwachung.

Dabei ist diese Reaktion gerade bei den Pariser Anschlägen absurd. Es wird zwar in den Medien viel von „Logistik“ und „Planung“ geschrieben; tatsächlich war das Pariser Blutbad, wenn man den Planungsaufwand betrachtet, nichts anderes als ein überdimensioniertes Columbine. Verglichen mit dem, was in der Bundesrepublik immer noch das Bild des Terrorismus prägt, den Handlungen der RAF, geradezu lächerlich. Das waren Attentate auf bestimmte ausgewählte Personen, die aufwendig recherchiert und vorbereitet werden mussten. Wieviel Vorbereitung braucht es, um mit einer automatischen Waffe blindlings in eine Menschenmenge zu feuern? Wenn eine Flucht gar nicht vorgesehen ist? Nicht wesentlich mehr als den Erwerb von Waffen und Munition. Gehen wir einmal davon aus, dass beides seit Beginn des Bürgerkriegs in der Ukraine in ganz Westeuropa deutlich einfacher geworden ist.

Die Wirksamkeit von Überwachungsmaßnahmen ist aber unmittelbar mit dem logistischen Aufwand verbunden. Wenn jemand mit falschen Papieren mehrere Autos mietet (wie das in den 1970ern vorkam), hinterlässt das verfolgbare Spuren. Wenn jemand in sein eigenes Auto steigt, nur um zu einem Anschlagsziel hinzufahren, oder eines für den selben Zweck aufbricht, weil Identifizierbarkeit des Fahrzeugs keine Rolle spielt, dann gibt es zwar Informationen über das Fahrzeug, aber eben erst hinterher. Bewachung von Objekten macht nur gegenüber Tätern Sinn, die es auf bestimmte Objekte abgesehen haben. Wenn es aber gar kein bestimmtes Objekt gibt, sondern die Ziele zufällig sind, dann ist es gleich, wieviele Polizisten oder Soldaten in der Landschaft verteilt werden, es wären immer zu wenige.

Die rechtlichen Konsequenzen in Frankreich sind also durch diese Anschläge logisch nicht zu begründen, da sie für den vorliegenden Fall völlig nutzlos sind. Sie standen schon länger auf der Wunschliste und wurden bei passender Gelegenheit aus dem Giftschrank geholt.

Aber machen sie nicht Sinn, um die Bevölkerung zu beruhigen?

Nach den Schlagzeilen, die die Zeit seit dem letzten Wochenende prägen, die beständig in großen Lettern das Wort „Krieg“ herausschreien, kann man das annehmen. Allerdings gibt es keine Gesetzmäßigkeit, auf Terror mit der Verwendung des Begriffs „Krieg“ zu reagieren. Es gibt auch keine Notwendigkeit, an die Stelle der normalen, menschlichen Trauer das große politische Pathos treten zu lassen, wie es nach Charlie Hebdo geschah und jetzt wieder. Dabei muss man sich noch nicht einmal die lange Liste der nicht entsprechend emotionalisierten (oder hier gar gänzlich verschwiegenen) Vorfälle ins Gedächtnis rufen, von Odessa bis Beirut. Es reicht, wahrzunehmen, dass Trauer etwas ganz anderes wäre als die erneute Beschwörung „europäischer Werte“, dass für wirkliche Trauer, wirkliches Mitgefühl, die beide doch eher leise und langsame Empfindungen sind, in dem ganzen staatstragenden Trara schlicht kein Platz mehr bleibt. Der Sprung von der Wahrnehmung eines Ereignisses zu seiner Bewertung erfolgt so schnell, dass gar keine Erschütterung mehr gespürt worden sein kann, die immer Zeit in Anspruch nimmt für das Nicht-Begreifen, für das Hinterfragen. Es wirkt eher wie ein fest einprogrammierter Mechanismus, der die konkreten Opfer sofort zum Verschwinden bringt und sie in einer jederzeit aktivierbaren obrigkeitlichen Erzählung ihrer Persönlichkeit entkleidet und in einem „wir“ aufgehen lässt, das nun durch den Terror bedroht sei.

Über das Hannoveraner Theater mag man da schon gar nicht mehr reden, dieser Coitus Interruptus der vaterländischen Standhaftigkeit auf einem Fußballplatz mitsamt ein- wie ausgeflogener Kanzlerin. Ich bin sicher nicht die Einzige, die dabei an die „Sauerlandbomber“ denken musste und die bei de Maizieres Aufforderung zu „Vertrauensvorschuss“ irgendwie die Stichworte NSU und V-Männer nicht aus dem Kopf bekam. Das wirkte, als hätte die Bunderegierung angesichts des Ausnahmezustands in Frankreich einen spontanen Anfall von Neid verspürt und sich irgend etwas aus dem Ärmel gezogen, um dieses schöne Spielzeug auch bekommen zu können.

Krieg, Krieg, Krieg, von Hollande bis BILD. Inzwischen muss man schon auf die Zeit vor dem ukrainischen Putsch zurückblicken, um noch zu erkennen, wie exotisch diese Vokabel vor nicht allzu langer Zeit in Deutschland noch war. Inzwischen wird sie regelmäßig zum Frühstück serviert. Jeder Anlass scheint zur geistigen Mobilmachung recht zu sein; irgendwie muss man wohl dieses störrisch friedfertige Volk kriegstauglich machen. Nichts ist besser dafür geeignet als ein beständiges Gefühl der Bedrohung, und eben daran wurde in den letzten Tagen erneut mit aller Kraft gearbeitet.

Da verwundert es nicht, dass das eingesetzte Pathos ins Wilhelminische abrutscht und so gar nichts mehr vom nüchternen demokratischen Stil erkennen lässt, der einmal in der Bonner Republik zu finden war. „Denn egal, ob wir diesen Krieg gewollt haben (und natürlich wollten wir ihn nicht) – unser Feind führt ihn jeden Tag. Erbarmungslosigkeit und Blutdurst in den Taten und der Vernichtungswillen in den Worten von ISIS können daran keinerlei Zweifel lassen. Die zivilisierte Welt hat eine moralische Pflicht, nicht vor diesem Krieg zurückzuschrecken,“ schreibt der Chefredakteur von Bild.de. Stillgestanden!

Die zweite Ebene der mentalen Kriegsvorbereitung, der Gebrauch der Flüchtlinge zur Verbreitung einer Atmosphäre des Bürgerkriegs, konnte natürlich nicht unberücksichtigt bleiben. De Maizieres Äußerung, der in Paris gefundene syrische Pass sei eine „false flag“, erfüllt diese Aufgabe mit besonderer Perfidie. Ein propagandistischer Trick, eine Information in den Köpfen zu verankern, indem man sich gleichzeitig von ihr distanziert, wie es auch mit dem Satz „denken sie jetzt nicht an einen blauen Elefanten“ funktioniert. Diese Aussage folgt der von mir bereits erwähnten Doppelstrategie: die „Gläubigen“, die de Maziere den gewünschten Vertrauensvorschuss geben, nehmen die Distanzierung wahr und glauben, er wolle die Flüchtlinge schützen, während die „Ungläubigen“, die ihm nicht vertrauen, genau durch seine Aussage die Vermutung bestätigt sehen, unter den Flüchtlingen seien ISIS-Agenten. Beide Versionen dienen der Bekräftigung der beiden Lager, die gebildet werden sollen, um aneinander zu geraten und den offenbar ersehnten Notstand endlich zu erreichen (wenn nicht noch ein realer oder vermeintlicher ISIS-Anschlag auf deutschem Boden zu Hilfe kommt).

Ob tatsächlich gegen ISIS gehandelt wird, ließe sich weniger an französischen Bombenabwürfen festmachen als an ganz anderen Punkten. Wenn beispielsweise geplante Waffenverkäufe an Saudi-Arabien plötzlich nicht mehr stattfänden, oder ernsthaft gegen all jene vorgegangen würde, die ISIS das billige Öl abkaufen. Hollande jedenfalls würde ich nicht trauen, was immer er beteuert, und das einzige, was mich angesichts der gestrigen Erklärung Putins, den französischen Flottenverband als Verbündete zu behandeln, vorerst beruhigt, ist die Tatsache, dass die Moskwa die Charles de Gaulle im Bedarfsfall unter den Meeresspiegel legen kann. Deutsche Gedankenspiele um die Entsendung von Bundeswehrsoldaten nach Syrien können nach wie vor ebensogut in einer Rettung von ISIS enden wie in deren Bekämpfung. Schließlich hat die Truppe, vom imperialistischen Standpunkt aus gesehen, durchaus ihre Vorteile. Zur Bedienung der Ölförderanlagen braucht es diese ganze Bevölkerung ohnehin nicht, die Truppe verkauft das dem syrischen und irakischen Volk gestohlene Öl sensationell billig und sie ist gezwungen, dies zu tun, weil dieses Raubgut die einzige Einnahmequelle ist, die ihre Herrschaft ermöglicht; dass ihr Verhalten und ihre Ideologie unappetitlich sind, kann da gerne übersehen werden (und man könnte bedenkenlos darauf wetten, dass bei einer versuchten Rekonstruktion der gesprengten Denkmäler von Palmyra entscheidende Teile fehlen werden, die in westlichen Privatsammlungen verschwunden sind). Wichtig ist nur, die Fiktion aufrechtzuerhalten, der Westen sei das arme unschuldige Opfer dieses Monsters.

Die Strategie des Chaos, die von den westlichen Mächten in Libyen, Syrien und andernorts verfolgt wird, ist übrigens nichts Neues. Es ist schlicht das übliche Vorgehen, wenn eine koloniale Herrschaft erst (wieder) etabliert werden muss. Der erste Schritt bestand schon im vergangenen Jahrhundert darin, die vorhandenen staatlichen Gebilde und die vorhandene Infrastruktur zu zerschlagen. Darin gleichen sich die französische Eroberung Algeriens und die Opiumkriege gegen das Kaiserreich China. Der Grund dafür ist einfach – keine Kolonialmacht hatte je genug Truppen, um ein Land zu erobern, das als Staat noch funktioniert. Erst auf den Trümmern lässt sich die Kontrolle mit relativ wenig Personal halten.

Unter diesem Gesichtspunkt ist ISIS ein zentrales Stück einer Strategie, über die sich alle einig sind, die darauf hoffen, sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Dazu gehört auch die Bundesrepublik, die nicht umsonst schon vor Jahren mit Hilfe der SWP in Kooperation mit den US-Diensten eine syrische Ersatzregierung ausgebildet hat, die man noch immer gern zum Einsatz brächte. Wenn nur dieses dumme Russland da nicht im Wege stände.

Wiener Verhandlungen hin oder her, die Reaktion auf die Pariser Anschläge belegt, dass die Kriegsvorbereitungen immer noch fortgesetzt werden, gleich, mit welcher Rhetorik Verhandlungsbereitschaft vorgetäuscht wird. Nach wie vor ist nicht damit zu rechnen, dass der Bevölkerung reiner Wein eingeschenkt wird, weder was Syrien betrifft, noch zum Thema Ukraine. Solange die Strategie der emotionalen Überwältigung weiter genutzt wird, sollte man keine politische Wende erhoffen. Und genau darauf achten, welche Schritte in Richtung Ausnahmezustand uns demnächst untergejubelt werden sollen.

p.s.: Versteckt im Kirchenprogramm gab es am Sonntag eine Reportage, die einmal halbwegs vernünftig aus dem Donbass berichtete. Es ging um einen Russlanddeutschen, der in der Donezker Armee diente. Nebenbei wurde wieder einmal belegt, wo der bundesdeutsche Staat seine Terroristen sieht – gegen den jungen Mann wird wegen “Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung” ermittelt…