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Argentinien

Tanz Wie das Tango-Fieber die Welt erfasste

Von Ulrike Wiebrecht | Stand: 05.07.2016 | Lesedauer: 7 Minuten
Der Tango ist aus dem Leben der Argentinier nicht wegzudenken Der Tango ist aus dem Leben der Argentinier nicht wegzudenken

Der Tango ist aus dem Leben der Argentinier nicht wegzudenken

Der Tango ist aus dem Leben der Argentinier nicht wegzudenken

Quelle: Getty Images

Der Tango ist die kulturelle Visitenkarte Argentiniens. Doch längst hat sich der Musik- und Tanzstil zu einem universellen Phänomen entwickelt – und gehört seit 2009 zum Kulturerbe der Unesco.
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Samstagabend in Berlin-Kreuzberg. Die Bergmannstraße ist voller Menschen. Sie bevölkern Bars, Restaurants, Imbissbuden, die Kinos um die Ecke oder stehen einfach draußen mit einem Drink in der Hand auf der Straße und genießen die Sommernacht.

Währenddessen bahnen sich andere unbeachtet ihren Weg durch die Menge, laufen zielstrebig die Straße am Tempelhofer Berg hoch, biegen am Ende links ein und verschwinden in einem geschichtsträchtigen Brauereikomplex, in dem sich das „Walzerlinksgestrickt“ befindet. Gleich darauf werden sie ihre Jacken ablegen, die Schuhe wechseln, dann geht es aufs Parkett.

„Soñar y nada más“ – „Träumen und sonst nichts“ – schallt es aus der Anlage von DJ Michael Rühl, und schon drehen sich ein paar Dutzend Paare im Dreivierteltakt zu einem Tango-Walzer von Francisco Canaro. Die Frauen in mehr oder weniger tief dekolletierten Kleidchen, in High Heels mit bis zu sieben Zentimeter hohen Absätzen, die Männer in modischen Tanzschuhen und frischen Hemden – passend zum eleganten Ballsaal mit mehr als sechs Meter hoher Decke, großen Spiegeln und schweren, dunkelroten Samtvorhängen.

Wenn der Abend seinen Höhepunkt erreicht, werden sich mehrere Hundert Menschen auf immer engerem Raum bewegen. Doch nicht nur hier im „Walzerlinksgestrickt“, wie der Ballroom heißt. Auch im Tangoloft in einem Weddinger Hinterhof, im Bailongo im Galli Theater oder im Nou Mitte an der Chausseestraße. Und bevor sie hier erscheinen, sind manche nachmittags schon im Bebop nahe der Oberbaumbrücke, im Werk 36 in Schöneberg oder an der Strandbar Mitte mit Blick auf die Museumsinsel ins Schwitzen gekommen.

Universelle Sprache

Wen das Tango-Fieber erst mal ergriffen hat, den lässt es nicht mehr los. Im Fall von Berlin sind das Tausende von Menschen, die einmal im Monat, vielleicht aber auch sechsmal die Woche in einem der unzähligen Klubs tanzen. Begleitet von einer melodischen, oft melancholischen, mal mehr, mal weniger rhythmischen Musik, mal mit, mal ohne Gesang. Manchmal mischen sich auch Elektro-Klänge zeitgenössischer Ensembles wie Gotan Project mit hinein. Viele andere Stücke stammen dagegen aus den 1920er-, 1930er- oder 40er-Jahren.

Wie lässt es sich erklären, dass selbst blutjunge Menschen diesen sentimentalen Liedern von Liebe, Tod, Enttäuschung, Schmerz, Verlassenwerden, Heimweh oder Betrug heute noch etwas abgewinnen können? Und dass sie sich zu ihnen mit Schritten und Figuren bewegen, die älter sind als ihre Großmütter? Weltweit, von Indonesien über Russland, von der Schweiz bis Kanada, finden sich tagtäglich unzählige Menschen zu Milongas zusammen, wie die Tango-Bälle genannt werden. Den Globus umspannt ein riesiges multikulturelles Netzwerk von Aficionados, Tangolehrern, Schulen, Musikern, Orchestern. Für sie ist der Tango Argentino eine universelle Sprache, mit der sie sich ganz ohne Worte verstehen.

Tango ist die Paarung zweier Menschen, die der Welt ohnmächtig gegenüberstehen und nicht fähig sind, die Dinge zu ändern
Juan Carlos Copes, Tango-Tänzer

Wäre der Tanz tatsächlich nur „der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens“, wie Bernard Shaw schrieb und bestünde die Musik aus seichten Melodien, die oberflächliche Texte untermalen, wäre der Tango sicherlich längst verschwunden. Dass er überlebt hat und 2009 sogar in das immaterielle Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen wurde, dann deshalb, weil er „zutiefst in gefühlvoller und reflektierender Weise an die Grundthemen des Lebens rührt, so wie große Literatur es vermag und jede andere große Musik oder das Theater“, ist Tango-Experte Ralf Sartorius überzeugt, der allein dem Tango in Berlin bereits zwei Bücher gewidmet hat und an weiteren Bänden seiner Reihe „Tango Global“ arbeitet.

So universell der Tango ist, seine Wurzeln liegen in Buenos Aires und Montevideo am Río de la Plata. Und er gehört zu Argentinien wie das Rindfleisch, der Mate-Tee, die Gauchos aus der Pampa oder Maradona. Selbst wenn insgesamt mehr Argentinier Salsa und Folkloretänze wie Chacarera tanzen, Tango ist die Visitenkarte des Landes, sein Identitäts- und Markenzeichen. Denn nur hier konnte er vor weit mehr als hundert Jahren entstehen.

Tristesse der Mietskasernen

Damals vermischten sich die Rhythmen der Nachfahren afrikanischer Sklaven mit den kubanischen Habaneras und den Traditionen der Europäer, die aus wirtschaftlicher Not an den Rio de la Plata kamen. Um die sechs Millionen Zuwanderer sollen es insgesamt gewesen sein, von denen ein Teil in den Hafenstädten strandete und in Mietskasernen zusammengepfercht ständig am Rande des Existenzminimums lebte. Im Gepäck hatten sie nicht nur Polkas, Mazurkas und Walzer aus Europa, sondern auch eine gehörige Portion Heimweh, Sehnsucht, Einsamkeit, Hoffnung und Enttäuschung.

„Tango ist die Paarung zweier Menschen, die der Welt ohnmächtig gegenüberstehen und nicht fähig sind, die Dinge zu ändern“, bringt der große Tangotänzer Juan Carlos Copes, der zurzeit mit seiner ehemaligen Partnerin Maria Nieves im Film „Ein letzter Tango“ zu sehen ist, das ursprüngliche Lebensgefühl der Tangueros auf den Punkt. Mit ihrem multikulturellen Ambiente, den schwierigen Lebensbedingungen der Immigranten, dem chronischen Männerüberhang, den Bordellen, boten die Hafenstädte den perfekten Nährboden für die Entwicklung dieses ebenso sinnlichen wie raffinierten Tanz- und Musikstils.

Anfänglich war er rustikaler, erdbetonter. Da bestimmten auch Gitarre, Flöte und Violine die Musik, nach und nach setzten sich das Klavier und vor allem das aus Deutschland stammende Bandoneon durch. Von dem Krefelder Instrumentenbauer Heinrich Band um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden, verblieb das erste Exemplar am Río de la Plata, nachdem der verarmte Band mit ihm seine Rückreise nach Deutschland bezahlt hatte.

Um 1910 schwappte das Tango-Fieber erstmals nach Europa über, wo Tanz und Musik vor allem in den Salons von Paris Furore machten. Das förderte wiederum die Akzeptanz in der feinen Gesellschaft Argentiniens, die vorher über den damals noch recht anzüglichen Tanz und die zweideutigen Texte die Nase gerümpft hatte.

Die Herzen der Frauen erobert

Davon beflügelt, trat die Nueva Guardia, eine neue Garde von Musikern, an. Zu der gehörte auch der unsterbliche Carlos Gardel, der 1917 sein Lied „Mi noche triste“ (Meine traurige Nacht) aufnahm. Er machte schnell den gesungenen Tango populär und eroberte mit seiner Stimme nicht nur die Herzen der Frauen. Das goldene Zeitalter des Tango brach allerdings erst nach dessen frühem Tod – er starb 1935 bei einem Flugzeugabsturz in Kolumbien – an, als es durch den wirtschaftlichen Aufschwung genügend Geld für Orchester mit bis zu hundert Musikern und große Tanzveranstaltungen gab.

Unsterbliche Tango-Legende: Der weltberühmte Sänger Carlos Gardel (1890-1935) ist noch heute ein nationales Idol

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Unsterbliche Tango-Legende: Der weltberühmte Sänger Carlos Gardel (1890-1935) ist noch heute ein nationales Idol

Quelle: picture alliance / kpa

Bandoneon-Virtuose und Komponisten: Astor Piazzolla begründete den Tango Nuevo

Bandoneon-Virtuose und Komponisten: Astor Piazzolla begründete den Tango Nuevo

Bandoneon-Virtuose und Komponisten: Astor Piazzolla begründete den Tango Nuevo

Quelle: picture-alliance / Jazz Archiv

Ab Mitte der 1950er-Jahre wurde es dann still um den Tango. Die junge Generation begeisterte sich damals für Rock’n’Roll und Rockmusik. Zudem strich die Militärdiktatur auch jegliche Zuschüsse für derartige kulturelle Veranstaltungen. Schließlich entfachten Exilanten wie Astor Piazzolla, die in Paris und anderswo den Tango durch avantgardistische Elemente bereicherten, zusammen mit hochkarätigen Bühnen-Shows wie „Tango Argentino“ oder „Tango Pasión“ neues Interesse in Europa und infizierten auch die Menschen am Río de la Plata wieder neu mit dem Tango-Fieber.

Heute ist es aus dem Leben der Porteños, wie die Bewohner von Buenos Aires heißen, nicht wegzudenken. Kein Tag vergeht, ohne dass nicht mehrere Dutzend Milongas stattfinden. Nicht nur alte Milongueros, die den Tango noch von ihren Vätern und Großvätern erlernt haben, schwingen das Tanzbein. Auch ganz junge Tänzer und Tänzerinnen sind auf den Milongas zu sehen, darunter zahlreiche Ausländer. Das ist allerdings auch der Grund, warum der Tango seine Unschuld verloren hat.

Für viele ist er inzwischen zum Geschäft geworden. , in denen selbst gut ausgebildete Akademiker Mühe haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die hohe Inflation droht, jegliche Ersparnisse aufzuzehren, hat so mancher erkannt, dass der Tango eine einträgliche Einkommensquelle sein kann. Gegen harte Dollars geben oftmals selbst ernannte Maestros Tangounterricht, bieten sich als „Taxidancer“ an – die unerfahrene Damen oder Herren gegen Geld zu Tanzveranstaltungen begleiten. Einige von Touristen frequentierte Milongas haben ihre Eintrittspreise zum Teil so drastisch erhöht, dass die Einheimischen sie sich nicht mehr leisten können und wegbleiben.

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Trauriges Grundgefühl verbindet die Menschen

Doch am Grundgefühl, das die Menschen verbindet, am „traurigen Gedanken, den man tanzt“, an dem halten die Porteños fest – ob im schönen Ballsaal, in Turnhallen oder irgendeiner Privatwohnung.

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