Kultur

Barbarische Kultur

07.08.16

Die Renaissance war die absolute Hölle

Aufklärung, Humanismus, kulturelle Blüte? Von wegen. Die frühe Neuzeit war ein dunkles Zeitalter. Und zwar noch um einiges grausamer und blutiger als das zu Unrecht gescholtene Mittelalter.

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Von Europakorrespondent

Renaissance? Das war doch die Epoche ab 1400, die das Fundament unserer glorreichen Zivilisation legte. Die Zeit von Vernunftphilosophie und Buchdruck. Alles geschah gleichzeitig: die Entdeckung der weiten Welt per Schiff, der Planeten durchs Fernrohr und der Blutbahnen durchs Mikroskop. Vieles wurde damals besser, wie der Name sagt. Die Wiedergeburt der Kultur.

Aber vielleicht war auch alles ganz anders. Eine neue Renaissance-Ausstellung in Zürich lässt nichts vom vor allem optischen Reiz des italienischen "Rinascimento" weg. Aber dann verfliegt plötzlich der ganze Zauber der Erfinder und Perspektivenmaler, der Bücherfreaks und Mediziner. Und ins Bild rücken unangenehm moderne Visionen von Massenmord und Terrorherrschaft. Wenn wir die Renaissance mit dem Historiker Jacob Burckhardt tatsächlich als "Führerin unseres Weltalters" annehmen wollen, dann nur im ganzen Paket, das große Grauen inklusive.

Eigentlich wundersam: Von den Religionskriegen, den zahllosen Scharmützeln von Condottieri und Landsknechten, die den Alltag der Renaissance ausmachten, blieb an der Epoche wenig haften. Das liegt an der vielen Kunst und an Intellektuellen wie dem italienischen Poeten Francesco Petrarca, der Gut und Böse in der Historie säuberlich einteilte.

Höflinge wie Petrarca dienten eher den Fürsten und Monarchen, die sich trotz allen Blutvergießens als Glanzlichter ihrer Zeit feiern lassen wollten. Finster wirkte da nur das lange Mittelalter zwischen antiker Geburt und Wiedergeburt – und ist es für unsere Wahrnehmung bis heute geblieben.

Eine tief religiöse Epoche

Aber wo war denn der große Bruch zwischen dem rückständigen Mittelalter und der innovativen Renaissance? Bernd Roeck, der in Zürich Geschichte lehrt und die Schau maßgeblich konzipierte, legt im Katalog eine eindrucksvolle Liste von Erfindungen und Neuerungen an – die aber allesamt ins Mittelalter fallen: Papier kam aus China, Windmühlen und Medizin sickerten aus dem arabischen Kulturkreis ein, die Null revolutionierte von Indien her die Buchführung, um 1300 ersannen toskanische Tüftler die Brille und verdoppelten so für Schreiber und Rechner die Lebensarbeitszeit.

Als in Bologna und Paris, Heidelberg und Padua die ersten Universitäten gegründet wurden, stand das gar nicht so finstere Mittelalter in Hochblüte. Und alles, was danach an Edition antiker Philosophen oder Gemälden mit Tiefenschärfe hinzukam, spricht für eine Weiterwirkung, keinesfalls für den großen Bruch.

Die größten Fortschritte machte fraglos die Kunst. Der pixelgenaue Detailrealismus auf den Ölbildern von Jan van Eyck oder Hans Memling brachte das exklusive Publikum ebenso zum Staunen wie die mathematische Berechnung der Perspektive, in deren Räumen nach 1400 italienische Künstler Fenster in die Welt öffneten.

Und doch bleibt die Renaissance – von einzelnen, streng verfolgten Zweiflern und Ketzern abgesehen – eine tief religiöse Epoche. Nicht so sehr Lorenzo der Prächtige und Leonardo da Vinci prägten ihre Zeit, sondern eher der fanatische Bilderverbrenner Savonarola oder der sture deutsche Augustinermönch Martin Luther, der mit der Bibel in der Hand – aber gewiss nicht als Skeptiker – das römische Papsttum attackierte.

Hexenjagd als Schlüsselerlebnis

Es ist die Überproduktion wundervoller Hofkunst, die auch in der Zürcher Ausstellung die Oberfläche der Renaissance glänzen lässt. Diese "Bilderrevolution" und der Geniekult der Michelangelo, Raffael, Dürer überpinselte alle Schattenseiten.

Vor Sebastiano del Piombos Kolumbus-Porträt (aus dem Metropolitan Museum in New York) oder vor dem haptischen Detailreichtum von Holbeins "Darmstädter Madonna" (heute in der Sammlung Würth) übersieht man gerne, dass solche fraglosen Errungenschaften nur eine Weltverbesserung und -verschönerung für eine kleine Elite bedeutete.

Ob der polnische Chorherr Mikołaj Kopernik in Frombork an der Ostsee den Heliozentrismus widerlegte oder ein anonymer Tüftler etwa gleichzeitig die Schraube erfand – die nützlichen Auswirkungen solch genialer Momente bekam kaum ein Zeitgenosse zu spüren.

Fast die gesamte Kunst der Renaissance wurde ohnehin von einer kirchlich geprägten Elite in Auftrag gegeben. Nicht einmal von den neuen Massenmedien des gedruckten Pamphletes profitierten die Analphabeten in ihren Hütten.

Ohnehin kannten die frühen Drucker keinen Bildungsauftrag und verdienten das meiste Geld mit Beichtbrevieren, Heiligenkalendern und Hexenhämmern. Hexenverfolgung, die wir gerne fälschlich ins Mittelalter verlegen, wird aus dieser Perspektive zu einem Schlüsselereignis dessen, was Roeck und seine Ausstellungsmacher "tragische Renaissance" nennen.

Kreuzzug von Glaubenskriegern

Man könnte es getrost "blutige Renaissance" nennen. Denn die ideologischen Neuerungen nach 1500 brachen über die ahnungslosen Menschen wie eine Furie herein. Der großartige Sozialhistoriker Robert Muchembled dreht in bester Tradition der französischen Annales-Schule die Perspektive um und schildert im Katalog die Triumphzeit der Renaissance von 1520 bis 1650 als eine einzige große Katastrophe.

Luthers Abfall von der Papstkirche wurde von Beginn an von Fürsten gesponsort, die ihre Steuern lieber selbst behalten wollten. Danach entstand die Gewissenspolizei. Bei Millionen von Europäern kam die Reformation nicht als Gewissensbefreiung an, sondern als Kreuzzug von Glaubenskriegern.

Sonderbar also, dass wir die Renaissance mit humanistischer Toleranz und Gelehrsamkeit assoziieren, in Wahrheit aber die innerchristliche Intoleranz an allen Fronten triumphierte. Muchembled macht den spanischen Monarchen Philipp II. und die päpstliche Gegenreformation für das Übermaß der Gräuel verantwortlich. Über einen Korridor von Genua bis Belgien verbreiteten Jesuiten in Schulen und Universitäten ihre erbarmungslose Lehre der siegreichen Papstkirche – und die protestantischen Widersacher zogen gleich.

Um 1600 waren es jesuitische Inquisitoren wie Martin Anton Delrio oder Juan Maldonado, die ihre Lektion in Renaissance am teuflischsten gelernt hatten. Als ausgewiesene Humanisten, Meister der antiken Sprachen und der biblischen Philologie ließen sie in den Niederlanden und in Lothringen die Scheiterhaufen vermeintlicher Ketzer lodern. Die meisten Opfer waren ungebildete Frauen.

Angst vor dem Teufel und der Hölle

Muchembled geht so weit, die Hysterie um die Hexen aktiv mit dem Kampf der Konfessionen kurzzuschließen. Wer in Protestanten (oder wahlweise Katholiken) widerwärtige Häretiker sah, der witterte den Teufel in allen Ritzen und war nur zu gerne bereit, dessen Anhänger mit großem Behagen zu Tode zu foltern.

Wie das vorging, schildert Pieter Brueghel mit seinem Meisterwerk des "Bethlehemitischen Kindermords" (aus dem Brukenthal-Museum in Sibiu) als Augenzeuge: Eine Bande von berittenen Killern fällt über wehrlose Bauernfrauen und ihre Babys her. Derart geschundene Opfer der Doktrin und des Territorialstaates wussten meist gar nicht, welch intellektuelle Perversion sie ihren Peinigern unter der Folter gestehen sollten.

Der Humanismus, diese Blüte abendländischer Geistesnoblesse, mündete schließlich in "Angst vor dem Teufel und der Hölle". Parallel zur "Kleinen Eiszeit" nach 1560 und ihren schneereichen Wintern wurde das 17. Jahrhundert dann zur Eiszeit des Geistes, in der – fast wie im Sowjetkommunismus oder im Faschismus – die militante Intoleranz gegenüber jedweder Abweichung triumphierte.

Sex wird als Teufelswerk verdammt

In den Glaubenskämpfen, vor allem im Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges, dezimierte die Soldateska unter dem Jubel linientreuer Theologen Mitteleuropas Bevölkerung wie niemals zuvor. Fortan war es auch vorbei mit den aufkeimenden Rechten der Frauen oder mit den bunten Idealgewändern, die Jacob Burckhardt bei den fidelen Florentiner Hofhumanisten noch ausgemacht hatte.

Schwarze Trauerkluft bestimmte jetzt den Dresscode; die Nackten auf den Gemälden der Renaissance wurden übermalt und Sex als Teufelswerk verdammt. Diese giftigen Früchte der Gegenreformation wurden nicht von den frommen Humanisten, sondern erst viel später von den Denkern der Aufklärung abgeräumt – freilich ohne großen Bezug zu Helden der Renaissance wie Erasmus von Rotterdam, Michelangelo oder Gutenberg.

Jacob Burckhardt, der unser Bild von Europas Wiedergeburt stark geprägt hat, muss man mit diesem Wissen um die blutige Renaissance neu lesen. Im Schweizerischen Nationalmuseum steht jetzt sein Basler Schreibtisch als humanistische Reliquie in der Vitrine. Während Burckhardt im Kämmerlein Italiens Kunst inventarisierte, machte sich dieser besonnene Basler Bürger und Preußenverächter über die sozialen Profite all der Schönheit und die Negativzinsen der Philologie keine Illusionen.

Seine "Cultur der Renaissance in Italien" ist gespickt mit abfälligen Urteilen über speichelleckerische Humanisten, sadistische Söldnerführer und größenwahnsinnige Päpste. Dass ein Aufschwung der Kunst und des Wissens automatisch das Leben der Menschen verbessert, hätte der Erzskeptiker Burckhardt ohnehin nie geglaubt.

Er sagte nur, dass die Renaissance die "Führerin unseres Weltalters heißen muss". Was er verschwieg: Sie hat die Menschen nicht ins Paradies geführt, sondern in die Hölle.