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Warum Langsamfahrer uns alle gefährden

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Foto: Ollo/Vetta/Getty Images

Von GUIDO BELLBERG

Die Zeiten haben sich geändert, aber das ist noch nicht bei allen angekommen. Jahrzehntelang hat man uns erzählt, dass Raserei der Grund allen Übels sei und sicherlich passieren Unfälle auch durch zu schnelles Fahren. Wenn man aber regelmäßig auf Autobahnen unterwegs ist, bekommt man einen anderen Eindruck. Die Autofahrer, die am gefährlichsten für andere Verkehrsteilnehmer sind, sind oft die unberechenbaren Schleicher. Denn die leben in ihrer eigenen, abgeschotteten Welt, in der sie sich nicht um andere Fahrzeuge kümmern müssen. Einer Welt, in der es vollkommen in Ordnung ist, einfach so auf die linke Spur zu wechseln und dabei so langsam zu fahren, dass alle, die sich bereits auf dieser Spur befinden, hart bis voll bremsen müssen. Weil Rückspiegel schließlich kompliziert sind und Geschwindigkeiten generell nicht einschätzbar. Oder Lkw auch in 1200 Metern Entfernung noch gefährlich sind.

Besonders auf Autobahnabschnitten, die durch eher ländliche Gegenden führen, muss man mittlerweile ständig damit rechnen, von rechts attackiert zu werden. Die Anzahl der Autofahrerinnen und Autofahrer, die meinen, es sei völlig angemessen, auf einer zweispurigen Autobahn einen Lkw, der 85 km/h fährt, mit 100 oder weniger Stundenkilometern zu überholen, ist hoch. Tendenz steigend. Dabei ist das Überholen selbst natürlich nicht das Problem, sondern das unerwartete Herausscheren auf die linke Spur, im Volksmund auch Überholspur genannt. „Überholspur“. Nicht etwa „Ewiglangenebeneinanderhereiernspur“ oder „Verkehrsberuhigungspur“.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich haben auch langsame Fahrerinnen und Fahrer das Recht zu überholen. Aber eben nicht unter Missachtung der anderen Verkehrsteilnehmer und auf Kosten der Sicherheit. „Rücksichtnahme“ heißt das Zauberwort, das gilt für die Langsamen wie die Schnellen. Wir sollten die Diskussion endlich von emotionalisierenden Begriffen wie „Raser“, „aggressiv“ oder „drängeln“ befreien, denn sie sind nicht selten reine Propaganda und plumpe Diffamierung. Und ziemlich subjektiv, denn seien wir ehrlich: Der Fahrer, der mit 180 km/h auf der linken Spur fährt und der dann den plötzlich vor ihm ausscherenden Pkw mit der Lichthupe auf die gefährliche Situation aufmerksam macht, der kann natürlich mit dem Etikett „aggressiv“ markiert werden, aber trifft das wirklich den Kern der Sache? Der Schnelle auf der linken Spur ist an sich ja keine Gefahr, denn wenn der Langsame (rechts) den Schnellen (links) einfach vorbeiziehen lässt bevor er ausschert, entsteht die unangenehme Situation erst gar nicht. Die Gefährdung geht also oft von demjenigen aus, der – obwohl er es offensichtlich ja nicht eilig hat – nicht 20 Sekunden zusätzlich warten kann, bis er seinerseits vom Schnelleren überholt wurde.

Frank May | picture alliance
Foto: Frank May/picture alliance

Es ist eben nicht in Ordnung einfach so auf die linke Spur zu ziehen, sobald ein echter (oder eingebildeter) Lkw irgendwo am Horizont auftaucht. Schon gar nicht, ohne auf das zu achten, was auf der neuen Spur gerade vor sich geht. Und wenn man die Geschwindigkeit der anderen nur schwer einschätzen kann, hat man auf einer Überholspur eigentlich sowieso nichts verloren oder sollte zumindest eine Extraportion Sicherheit einkalkulieren.

Intelligenz, Rücksichtnahme und Gelassenheit sind große und wertvolle menschliche Tugenden. Und gelassen ist nicht etwa der, der 120 km/h generell als ausreichend empfindet („In Holland klappt das mit 130 aber super!“) und daraus das Recht ableitet, seine persönliche Halluzination vom idealen Tempo allen anderen Menschen aufzuzwingen, sondern der, der auch einmal abwarten kann, bis er überholt wurde. Nicht selten wird jedoch Gelassenheit mit Langsamkeit vertauscht. Völlig falsch. Nur weil jemand 160,190 oder gar 210 Stundenkilometer schnell fährt, ist er nicht per se angespannt, aggressiv oder ungeduldig. Sicher gibt es hirnlose Raser, aber eben auch jede Menge flotte Langstreckenfahrer. Und für die macht es einen Riesenunterschied ob sie 120 oder 180 km/h fahren.

Ja, die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen unsere Autos. Noch vor 20 Jahren war die Durchschnittsgeschwindigkeit auf Autobahnen einfach deutlich geringer. Mittlerweile sind unsere Autos, selbst die günstigen, so gut, sicher und schnell, dass die meisten Menschen zügiger als früher unterwegs sind. Die einzigen Autos, die sich der allgemeinen Entwicklung nicht angepasst haben, sind Lkw, die dürfen immer noch 80 (und fahren weiterhin 90). Dadurch ist die Schere zwischen linker Spur und rechter Spur wesentlich weiter aufgegangen.

In der guten alten Zeit war die linke Spur tatsächlich einmal zum Überholen da. Heute, bei dem Verkehrsaufkommen, das in Deutschland herrscht und der schieren Masse Lkw aus aller Herren Länder, die die rechte Fahrspur verstopfen, ist sie mehr oder weniger zum Hauptverkehrsweg für viele Fahrer geworden. Egal, ob das erstrebenswert oder erlaubt ist, die Ausnutzung der gesamten Autobahnbreite hat den Riesenvorteil, dass die langsamen Lkw und die zügigen Pkw sauber voneinander getrennt sind.

Aber immerhin, die meisten Lkw-Fahrer sind Profis und Profis können das Verkehrsgeschehen gut einschätzen. Bevor Sie die Hand heben: Natürlich rege auch ich mich mindestens zweimal im Monat über einen rücksichtslosen Lkw-Fahrer auf, aber vollkommen hirnlos fahrende Pkw trifft man mittlerweile auf jeder Fahrt. Das Gemeine: Egal, ob man ein erfahrener und aufmerksamer Fahrer ist oder nicht, man kann eigentlich nichts tun. Die Fahrerinnen und Fahrer, über die wir gerade sprechen, sind einfach unberechenbar. Scheren sie nun aus oder nicht? Haben sie bemerkt, dass auf der linken Spur noch andere Verkehrsteilnehmer sind? Ist „Spiegel“ nach wie vor ein Fremdwort für sie? Werden sie noch lange WhatsApp-Nachrichten schreiben und gleichzeitig rauchen? Man weiß es nicht und erfährt es erst, wenn es im Zweifel zu spät ist.

Das Problem ist bekannt und man kann ewig darüber diskutieren, ob das unsoziale Verhalten einiger Langsamfahrer absichtlich oder schlicht aus Unfähigkeit erfolgt, aber wie sehen eigentlich mögliche Lösungen aus? Nicht selten wird ja ein generelles Überholverbot für Lkw auf zweispurigen Autobahn in die Diskussion eingeworfen. Andererseits: Zumindest auf eher ländlichen Autobahnabschnitten sind eher die langsamen Pkw das Problem, warum sollte man dafür die Lkw-Fahrer bestrafen?

Was sicher helfen würde, wäre die Einführung einer Mindestgeschwindigkeit zum Überholen, ja, zur generellen Benutzung der linken Spur, aber wie sollte das funktionieren? Die Geschwindigkeit muss ja dem aktuellen Verkehrsgeschehen angepasst sein. Sicher, man könnte die Benutzung der linken Spur für Fahrer, die langsamer als 130 km/h unterwegs sind, generell verbieten, aber in der Realität ist das einfach nicht umsetzbar und irgendwie (der Oma im Polo gegenüber) auch ungerecht.

Ein anderer Ansatz: Lkw endlich schneller machen, technisch wären wahrscheinlich auch Geschwindigkeiten von 100 oder mehr km/h machbar, aber stattdessen wird über die Einführung von noch längeren und damit langsameren Lastern diskutiert.

Zu guter Letzt könnte man aber auch einfach eine sozialistische (und damit vielleicht sogar mehrheitsfähige) Lösung wählen und allen Autos eine absolute Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h verordnen. Nicht wenige Fortschrittsverhinderer und Berufsbetroffene wären begeistert, denn, merke, „in Holland klappt das ja auch“. Genau wie das Kiffen übrigens, was unter Umständen ja auch der Grund für die ganze Schleicherei ist.

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