Sein Traum von Europa. Albert Camus und das Deutschland der NS-Nihilisten

Wenig ist darüber bekannt: Auch die Nazis hatten etwas mit Europa, ja mit einem vereinten Europa im Sinn. Mitten im Zweiten Weltkrieg begann im nationalsozialistischen Deutschland eine Diskussion über die Neuordnung des Kontinents. Dieses vereinte Europa sollte natürlich ein deutsches Europa werden, ein von Deutschland geführtes und unterworfenes, ein germanisiertes Europa. Wie stark aber die Idee von einem gemeinsamen europäischen Raum war, zeigt sich daran, dass selbst in diesem imperialen und kolonialistischen Diskurs die Ahnung und Gewissheit mitschwang, dass es etwas gibt, das alle europäischen Völker gemein haben. Und dass Europa eine übernationale, die Nationen überragende Wesenheit ist.

Das hat man noch während des Krieges in Großbritannien und den USA sehr genau registriert – und zwar interessanterweise nicht nur als Gefahr. Seit 1942 häuften sich in britischen und amerikanischen Zeitungen Kommentare und Analysen zu diesem Thema. Sie waren in ihrer Zielrichtig in der Regel sehr klar. Erstens darf es das germanisierte, die Gleichheit der Völker negierende Europa auf keinen Fall geben. Zweitens aber dürfe man einen Teil der Idee nicht deswegen verwerfen, weil ihn die Nazis aufgebracht hatten. Mit Gewalt hätten die Nationalsozialisten einen europäischen Raum, auch wirtschaftlich, geschaffen. Es wäre ein Fehler, so die angelsächsischen Kommentatoren, nach dem Krieg wieder zum alten System von einander unabhängigen Nationalstaaten zurückzukehren. Einer, der sich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der deutschen Herr-Knecht-Idee eines vereinten Europas auseinandergesetzt hat, war Albert Camus.

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Albert Camus (3. von rechts) mit der Redaktion des „Combat“

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Alternativen für Deutschland

Einem Kalauer zufolge ist weniger manchmal mehr. In diesem Sinne hatte der bewusste Minimalist Karl Popper recht, als er sagte, der größte Vorteil der Demokratie bestehe darin, dass man in ihr die Regierung abwählen könne. Dass die Bevölkerung sich ihrer ohne Bürgerkrieg entledigen kann. Damit das funktioniert, bedarf es politischer Kräfte, vulgo: Parteien, die eine bunte Wettbewerbssituation garantieren. Die also deutlich voneinander unterschieden sind, in ihren Vorhaben wie in ihrem Personal. Der Wähler soll die Chance haben, wirklich (aus)wählen zu können: zwischen verschiedenen, markant voneinander abgehobenen Angeboten. Darum ist es heute schlecht bestellt, in Deutschland wie anderswo. Weiterlesen

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Alte Sehnsüchte und neue Ängste. Der Erfolg der AfD

Rituale lösen keine Probleme, können aber beruhigen. Seit die AfD „dank“ der Flüchtlingsfrage einen zweiten Frühling erlebt, reagiert das politische und kommentierende Deutschland von Wahl zu Wahl in gleicher Weise auf den Aufstieg dieser Nein-Partei. Im Roman „Tadellöser & Wolff“ des aus Rostock im heutigen Mecklenburg-Vorpommern stammenden Schriftstellers Walter Kempowski sagt die Mutter ein ums andere Mal im Ton fatalistischer Alarmiertheit: „Kinder, wie isses nun bloß möglich?“ Wie ist es bloß möglich, dass eine solche Partei solche Wahlerfolge erzielt? Wie konnte es zu dieser im Drehbuch der Republik nicht vorgesehenen Anomalie kommen?

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Vereinigt Euch! Der unglaubliche Europa-Diskurs zwischen den Weltkriegen

Die Überzeugung, die Vorfahren seien bornierter, weniger intelligent, in jedem Fall aber naiver gewesen als man selbst, ist ein gern bemühtes Vourteil. Auch unser Verständnis von Europa und der europäischen Einigung blieb davon nicht verschont. Die große Europa-Erzählung, die seit Jahrzehnten beständig weitergereicht wird, geht von der selten hinterfragten Annahme aus, dass die europäische Einigung auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs erwachsen sei. Dieser habe, als die schrecklichste denkbare Konsequenz eines übersteigerten Nationalismus, den Völkern Europas erstmals nachhaltig klargemacht, dass sie sich in Zukunft zusammentun müssten. Das gebieterische „Nie wieder“ sei das Gründungsmotto der europäischen Einigung gewesen.

Wie im Grunde immer, ist die Wahrheit komplizierter als die populäre These suggeriert. Das macht ein Blick auf die Epoche von 1914 bis 1945, also vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich. In dieser Zeit ist in Europa, aber auch in den USA häufig und intensiv über die Vereinigung Europas und über das, was Europas Staaten verbindet, debattiert worden. Das ist wenig bekannt. Einige Beispiele sollen einen Eindruck von dieser überraschenden Wirklichkeit vermitteln. Sie sind allesamt einer hervorragenden wissenschaftlichen Untersuchung von Florian Greiner entnommen, der seit ihrem Erscheinen im Jahre 2014 aber längst nicht die öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde, die sie verdient. Florian Greiners Untersuchung ist eines jener Bücher, die eine Tür zu neuen und überraschenden Einsichten aufstoßen. Er weist auf einen Traditionsstrang hin, der aus zwei Gründen bisher unbeachtet blieb. Erstens aus der eingangs genannten überzogenen Wertschätzung der Gegenwart und der entsprechenden Geringschätzung der Generationen, die uns lange vorangegangen sind. Und zweitens, weil der Mythos, die europäische Einigung sei erst nach 1945 in Gang gekommen, tief ins öffentlichen Bewusstsein Europas eingeschrieben ist.

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Europa ist tot, es lebe Europa!

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Vor einem knappen Jahr – also nach Putins Annexion der Krim, nach der großen europäischen Uneinigkeit in der Flüchtlingsfrage und noch lange vor der EU-Abstimmung der Briten – wurde mir bange um die Europäische Union. Ich meinte und meine, man müsse das europäische Stückwerk gegen die neuen Nationalisten verteidigen, die ernsthaft an die Schimäre des voll souveränen Nationalstaats glauben. Ich meinte und meine aber auch, man müsse die Europäische Union ebenso gegen ihre falschen Freunde verteidigen: gegen die Hurra-Europäer, die immer nur eine Antwort auf alle europäische Unbill kennen: Mehr Europa! Ich möchte genauso denen entgegentreten, die die EU Artikel für Artikel für gescheitert erklären. Mir kam der Gedanke, ein Buch zur Verteidigung der europäischen Einigung zu schreiben – ein Plädoyer für eine offenere, flexiblere Europäische Union.

In knapp zwei Wochen erscheint nun das Buch im C. Bertelsmann Verlag in München. Der Titel: „Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Weltmacht muss sich neu erfinden“. Ich möchte es meinen Freunden und Kritikern ans Herz legen. Um den Umfang des Buches nicht zu sprengen, musste ich manche Passagen wieder herausnehmen. Andere Themen wurden aus demselben Grund nur gestreift oder fanden gar keinen Eingang in das Buch. Bis zu dessen Erscheinen werde ich einiges von dem, was mir lieb ist, in diesen Blog stellen.

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Angela Merkel hört zu

Politik ist vornehmlich eine Rede- und Überzeugungskunst. In dem Sinne ist auch Angela Merkel eine Redepolitikerin – wie sie es soeben mit ihrer Verstehens- und Verständigungsreise durch mehr oder minder widerspenstige EU-Staaten getan hat. Das ist aber nur ihre eine Seite. Auf der andern kann es harsch zugehen. Die Bundeskanzlerin hat auch eine sehr undialogische Seite. Weiterlesen

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Keine Angst vor Rechtspopulisten

Dass im öffentlichen Umgang mit ihnen etwas nicht stimmt, macht schon das Wort deutlich, mit dem sie bezeichnet werden: Populisten. Es ist eine Hilfsbezeichnung, eine Verlegenheitslösung. Sie ist bekanntlich vom lateinischen populus, Volk hergeleitet. Zwar ist „das“ Volk wahrlich kein Garant für Weisheit und politische Umsicht: Das Land, dem es unumschränkt herrschte, wäre ein furchtbarer Ort. Was aber – so hat es der ehemalige AfD-Politiker Konrad Adam unzählige Male gesagt – soll falsch daran sein, wenn Politiker und Parteien aufs Volk und seine Meinungen achten und versuchen, ihnen wie vermittelt auch immer gerecht zu werden? Natürlich nichts. Und deswegen sind Populisten nicht hinreichend gekennzeichnet, wenn man sie Populisten nennt. Was an ihnen stört und erschrecken lässt, ist ja nicht der Umstand, dass sie den gemeinen Bürgern zuhören (was sie im Übrigen oft gar nicht tun). Das Problem, das wir mit ihnen haben, liegt darin, dass sie keine tragfähigen Ideen zur Lösung politischer Probleme haben. Sondern nur rabiate Ideen. Nennen wir sie daher – zumindest für die Länge dieses kleinen Artikels – politische Grobianisten oder, weil das besser klingt, Grobiane.

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Anhänger der „Goldenen Morgenröte“ Griechenlands

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Ein geborener Sozi. Zum Tod von Henning Voscherau

Er war ein weltläufiger Mensch, wie es nicht viele in der Partei, der SPD, gibt. Ein echter Hanseat. Und zugleich war Henning Voscherau ein Heimatmensch, ganz und gar mit seiner Stadt an der Elbe verbunden: in Hamburg geboren, in Hamburg studierte er, in Hamburg arbeitete er sein Leben lang, (fast) nur in Hamburg hat er Politik gemacht, in Hamburg blieb er, als er Rufe nach anderswohin bekam. Und nun ist er in Hamburg gestorben. Ein Hanseat eben. Henning Voscherau gehörte zu einer ganz besonderen Spezies sozialdemokratischer Politiker.

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Henning Voscherau (1941-2016)

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Der Geist von Ventotene

 

Um der schlechten Verfassung Europas Abhilfe zu schaffen, treffen sich in diesen Wochen europäische Politiker in unterschiedlicher Besetzung. Keine Gipfel werden das sein, sondern Workshops. Man will ausloten, was vielleicht möglich ist. Das erste dieser Treffen findet heute in Italien statt, François Hollande, Angela Merkel und Gastgeber Matteo Renzi kommen zusammen. Wenn die Drei mit dem Hubschrauber vom Flughafen Neapel-Capodichino auf die karge, 60 Kilometer entfernte und nur knapp zwei Quadratkilometer große Insel Ventotene fliegen, nähern sie sich einem Ort, der in Italien einen fast mythischen Klang hat. Denn auf dieser Insel entstand mitten im Zweiten Weltkrieg ein frühes Manifest der europäischen Einigung und des europäischen Föderalismus. Es handelt sich um das nach der Insel benannte „Manifest von Ventotene“. Weiterlesen

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Der Mann, der Karl Marx entlarvte. Zum Tod von Ernst Nolte

Ernst Nolte ist Unrecht getan worden. Und er hat sich zu unhaltbaren Thesen hinreißen lassen. Solche, die wieder einzufangen er zu störrisch war, die er vielleicht auch wirklich so meinte, wie er sie formulierte. Jahrzehntelang war der Historiker Ernst Nolte unter deutschen Kollegen geradezu verfemt. Er starb heute 93 Jahre alt in Berlin.

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Ernst Nolte (1923-2016)

Lange bestach er durch die Ausdauer, mit der er für die historische Kunst des Vergleichens – gerade auch des Vergleichens zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus – stritt. Doch er machte viel zunichte mit der störrisch und böse wiederholten Behauptung, der Holocaust sei eine Antwort auf den sowjetischen Gulag gewesen. Der Gulag sei das „Prius“ des Holocaust, ihm also ursächlich und verursachend vorausgegangen. 1986 führte das in Deutschland zum berühmt gewordenen Historikerstreit. Das ist umso bedauerlicher, als sich dieser im Rückblick längst als eine intellektuelle Nullnummer erwiesen hat. Noltes unselige Äußerungen waren für andere nur Anlass, um zu einer Verteidigung von Demokratie und Fortschrittlichkeit zu blasen, die damals aber gar nicht gefährdet waren: Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ war ebenso eine Nullnummer wie der Schlachtruf der Republikverteidiger um Jürgen Habermas. Weiterlesen

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