Verdichtete Gegenwart weitet die Aufmerksamkeit. Es ist populär geworden, im Gleitflug über die Zeiten der Vergangenheiten zu schweben. Das „History Manifesto“ des Harvard-Historikers David Armitage forderte von seiner Zunft eine Geschichte der großen Ideen. Fachfremde erfüllten das Desiderat. Der Psychologe Steven Pinker mit seiner umstrittenen These von der sinkenden Gewalt in der Geschichte oder der Geograph Jared Diamond mit seinen Ausführungen darüber, warum Zivilisationen bleiben oder untergehen. Beide Male Geschichte im Erklärgestus, unter große, streitbare Thesen gespannt und nach Erfolgsprinzipien befragt. Der Fachhistoriker misstraut dem großen Radius.
Autor: Thomas Thiel, Redakteur im Feuilleton.
Andere wählen den noch größeren. Big History, seit den neunziger Jahren im Entstehen, wenn man nicht bis zu Alexander von Humboldts „Kosmos“ zurückgehen will, bedient ein populäres Interesse. Der israelische Militärhistoriker Yuval Noah Harari wurde mit seinen Vorlesungen zur Geschichte der Menschheit über Nacht zum Youtube-Star. David Christian, dem Großmeister der Metadisziplin, rannten Studenten die Tür ein, als er sein Standardwerk „Maps of Time“ an der australischen Macquarie University als Vorlesung anbot.
Der Funke sprang über den Ozean, als Bill Gates die jüngst in Deutschland erschienene DVD-Version in den Rekorder schob, als kognitives Begleitprogramm für sein tägliches Laufbandtraining. Begeistert griff er zum Telefon, um Christian für seine umstrittenen Ambitionen im amerikanischen Bildungssystem zu gewinnen. Big History steht heute auf den Lehrplänen von über fünfzig amerikanischen Colleges. Es gibt eine eigene Fakultät an der University of Southern Maine, im Netz lässt das Big History Project freie digitale Lehrmodule kursieren. Und noch sehen wir erst den Beginn des Eroberungszugs, geht es nach Gates, dem seine historische Exkursion einen stattlichen Anteil seines Vermögens wert ist.
Der Rahmen der Natur
In Fachkreisen ist Big History umstritten. Ihr faustischer Anspruch gilt als naiv. Dass sie nicht historisch-kritisch vorgeht, sondern den Synthesen von Physikern, Paläontologen, Biologen blind vertraut, wird von ihren Protagonisten offen eingestanden. Großhistoriker sind Elstern, die zusammenklauben, was sie in fremdem Nestern finden. Methodisch ist die Big History damit etwas Drittes, keine direkte Konkurrenz zur Fachwissenschaft. Auch keine unmittelbare Fortsetzung der Global- und Weltgeschichte, als die sie gelegentlich verstanden wird. Die jugendliche Freude am Großen wird von der Sicherheit kompensiert, ein Publikum auch andernorts zu finden.
Im History Channel läuft derzeit eine zehnteilige Serie, die sich an Christians Konzept orientiert. Von der Dritten Kultur um den Verleger John Brockman wurden der Energetiker Christian und der Asket Harari mit offenen Armen empfangen. Christian durfte seine Mission dem begeisterten Auditorium der kalifornischen Ted-Talks vortragen. Hier schloss sich der Schaltkreis zu den Weltverbesserungsträumen der kalifornischen Ideologie. Big History transportiert auch eine ethische und anthropologische Botschaft. Was ist der Mensch, in welchem Rahmen bewegt er sich? Fragen dieser Art ergeben sich wie von selbst, wenn man ihn in die kosmische Optik stellt.