Fünf Jahre Haft für früheren Auschwitz Wachmann Reinhold Hanning - 17.6.2016
Urteile wie dieses werden erst seit diesem Jahrzehnt gefällt: Reinhold Hanning bekommt eine Haftstrafe von fünf Jahren, weil er Wache geschoben hat im
Konzentrationslager Auschwitz - Beihilfe zum Mord in mindestens 170.
000 Fällen, so das Urteil, obwohl dem ehemaligen SS-Mann keine einzige direkte Tatbeteiligung nachgewiesen wurde. Den Detmolder Richterinnen reicht als Begründung aus, dass er dabei gewesen ist.
Kühlt sich die deutsche
Justiz, die über Jahrzehnte ehemalige führende Nazis unbehelligt ließ, nun das Mütchen an einem, der ein kleiner Befehlsempfänger war - damals gerade mal Anfang 20? Nach dem
Motto: Die Großen lässt man laufen, die Kleinen hängt man? Und überhaupt: Hätten die chronisch unterbesetzten Justizbehörden nicht Wichtigeres zu tun, als monatelang ihre Arbeitskraft in ein solch aufwändiges Verfahren zu stecken?
Mord verjährt nicht. Und egal, ob der Täter nun 19 oder 90 ist, er muss verurteilt werden. Das sind die klaren juristischen Argumente, warum dieser Prozess stattfinden musste. Aber es gibt noch ein anderes: Der
Holocaust war das größte Verbrechen aller Zeiten.
Noch heute leben Opfer, die miterlebten, wie die Täter erst brutal mordeten und sich dann nach dem Kriegsende ein neues, sorgenfreies
Leben aufbauen konnte.Die bundesdeutsche Justiz war lange, bis auf wenige Ausnahmen, auf dem rechten Auge blind. Für eine Verurteilung musste ehemaligen Nazi-Schergen konkret nachgewiesen werden, dass sie an Tötungsaktionen beteiligt waren. Wo es keine Zeugen gab, war dieser Beweis kaum zu erbringen.
Warum sich diese Rechtsauffassung erst so spät geändert hat, bleibt ein Rätsel der Justizgeschichte.
Mit dem Münchener Urteil gegen
John Demjanjuk vor fünf Jahren hat der Sinneswandel eingesetzt. Nun reicht es aus, dass man Teil der Tötungsmaschinerie war, um verurteilt zu werden.
Egal, ob
Koch im Offizierskasino oder
Soldat auf dem Wachturm: Wer in Konzentrationslagern Dienst geleistet hat, war ein Rädchen im mordenden Getriebe.
Leider starb
Demjanjuk zu früh. Das Revisionsverfahren wurde eingestellt, bevor es ein höchstrichterliches Urteil gab.
Deutschland als Ganzes muss aber noch ein ganz anderes Interesse an dem Detmolder Prozess haben. Denn er zeigt erneut, dass sich die Bundesrepublik inzwischen ihrer historischen Verantwortung voll und ganz stellt. Es wird nichts verschleiert, nichts beschönigt, nichts verharmlost. Vor Gericht wurde das
Morden in allen grausamen Einzelheiten beschrieben, obwohl diese
Details inzwischen hinreichend erforscht und bekannt sind.
Es war der Richterin wichtig, den Zeugen das Wort zu geben, um der Nachwelt vom
Leiden und Sterben in diesem Höllenkreis zu berichten.
Diese Herangehensweise wurde von den meisten Überlebenden, die als Nebenkläger aufgetreten sind, sehr wertgeschätzt. Sie könnte auch ein Vorbild sein. Seit Wochen kann man erleben, wie die
Türkei mit dem Vorwurf umgeht, dass der osmanische Vorgängerstaat einen Völkermord an den Armeniern begangen hat. Während in Deutschland Holocaust-Leugnung bestraft wird, ist es in der Türkei genau umgekehrt: Man muss um sein Leben fürchten, wenn man den Mord an bis zu 1,5 Millionen Menschen als Genozid bezeichnet.
Gerade Deutschland habe nicht das Recht, die Türkei zu maßregeln, empörten sich Ankaras Politiker. In der türkischen Presse wurde Bundeskanzlerin
Angela Merkel in Nazi-Uniform dargestellt, weil sie die Bundestagsabstimmung nicht verhindert hatte.
Auch wegen dieser aktuellen außenpolitischen Debatte ist das
Signal, das aus
Detmold ausgeht, jetzt so bedeutend. Denn keiner, der jünger als 85 ist, muss sich heute schuldig fühlen. Er war zur NS-Zeit entweder zu jung, um Verbrechen zu begehen, oder noch nicht geboren. Aber jeder Deutsche muss wissen und anerkennen, was damals passiert ist, was die Eltern- und Großeltern-Generation angerichtet hat. Deutschland stellt sich dieser Vergangenheit und nennt die Verbrecher und ihre Verbrechen beim Namen. Man kann nichts ungeschehen machen, aber die Opfer und ihre Nachfahren sollten nicht noch mehr dadurch leiden, dass ihr
Martyrium relativiert und kleingeredet wird. Und wer von den Tätern noch lebt und prozessfähig ist, der wird auch verurteilt, selbst wenn er zu alt sein wird, die
Strafe abzusitzen.
Das Urteil von Detmold wird in
Revision gehen. Man kann sich nur wünschen, dass Hanning das
Ende dieses jahrelangen Verfahrens noch erleben wird und Deutschlands höchste
Richter diese Rechtsauffassung bestätigen werden.
Quelle:
http://www.tagesschau.de/inland/heussen-analyse-auschwitz-101
.html