Europäische Zentralbank senkt Leitzins und pumpt mehr Geld in die Finanzmärkte
Von
Nick Beams
12. März 2016
Die Europäische Zentralbank (EZB) setzte am Donnerstag neue Maßnahmen der Quantitativen Lockerung um, darunter die Ausweitung ihres Aufkaufs von Wertpapieren, eine weitere Verringerung der Zinssätze und eine Erhöhung der Finanzierung von Banken. Diese Schritte sind eine ziemlich verzweifelte Reaktion auf die immer schlechteren wirtschaftlichen Prognosen für die Eurozone und die ganze Welt.
Die EZB senkte ihren Einlagenzinssatz von Minus 0,3 Prozent auf Minus 0,4 Prozent und erhöhte die monatliche Summe, für die sie Wertpapiere aufkauft, von 60 Milliarden Euro pro Monat auf 80 Milliarden. Zudem kauft die EZB erstmals auch Schulden von Unternehmen außerhalb der Finanzbranche auf. Bisher wurden im Rahmen des Programms der quantitativen Lockerung nur Staatsschulden aufgekauft. Dies soll noch bis März 2017 weitergeführt werden, wenn nötig aber auch länger.
Sie beschloss außerdem, den Banken weitere Kredite in Form sogenannter langfristiger Refinanzierungsoperationen zu gewähren, die Zinssätze dafür betragen bis zu Minus 0,4 Prozent, d.h. sie bezahlt die Banken praktisch dafür, dass sie sich Geld leihen.
Die unmittelbaren Auswirkungen der Maßnahmen waren jedoch das genaue Gegenteil des Beabsichtigten. Die europäischen Märkte stiegen zunächst an, weil die Ausweitung des Aufkaufprogramms um zwanzig Milliarden Euro höher war als erwartet, zum Ende des Tages stürzten sie jedoch stark ab. Der Euro sank zuerst im Vergleich zum Dollar, danach verzeichnete er allerdings einen der größten Anstiege an einem Tag in der Geschichte der Währung. Der Dow Jones sank um bis zu 178 Punkte, zum Börsenschluss lag er nur fünf Punkte niedriger als zu Beginn.
Die Ursache für die Unruhen an den Devisen- und Kapitalmärkten scheinen die Äußerungen von EZB-Präsident Mario Draghi zu sein, es werde keine weiteren Zinssenkungen geben. Er hatte erklärt, die Zinssätze würden „sehr, sehr lange Zeit niedrig bleiben ... aber wir rechnen nicht damit, dass es nötig sein wird, sie noch weiter zu senken.“
Er deutete an, die Zentralbank könne nicht so weit ins Negative gehen wie sie wolle, da dies Folgen für das Bankensystem hätte. Ende Januar führte die Bank von Japan Negativzinsen ein, seither haben es ihr mehrere Länder gleichgetan, die zusammen ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Inzwischen gibt es erhebliche Bedenken, dass das nachteilige Folgen für die Geschäftsmodelle der Banken haben und zu einem deutlichen Rückgang der Aktienkurse führen könnte.
Draghi gab in seiner vorbereiteten Rede eine pessimistische Einschätzung der Wirtschaft der Eurozone ab. Das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im vierten Quartal 2015 lag bei 0,3 Prozent. Es wurde zwar durch Binnennachfrage gestärkt, aber „durch negative Nettoexporte verschlechtert.“ Die jüngsten Umfragen deuten darauf hin, dass die Konjunktur zu Beginn des Jahres schwächer ist als erwartet.
Seine Bewertung der unmittelbaren Prognosen war in sich widersprüchlich. Zuerst erklärte er, die EZB rechne mit einem „Wirtschaftsaufschwung in gemäßigtem Tempo“. Das ist das übliche Mantra aller globalen Finanzinstitute, obwohl sich die Prognosen der Weltwirtschaft weiter verschlechtern.
Weiter erklärte Draghi: „Allerdings wird der Wirtschaftsaufschwung im Euroraum weiterhin gehemmt von den verschlechterten Wachstumsprognosen der Schwellenmärkte, unbeständigen Finanzmärkten, den notwendigen Bilanzkorrekturen in mehreren Sektoren [d.h. die Reduzierung von hohen notleidenden Krediten durch die europäischen Banken] und das langsame Tempo, in dem Strukturreformen umgesetzt werden.“
Letzteres bezog sich auf die seit langem erhobene Forderung der EZB, die Arbeitsmärkte im ganzen Euroraum flexibler zu gestalten, d.h. die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.
Insgesamt bleiben die Risiken im Euroraum wegen „erhöhter Unsicherheiten der Weltwirtschaft und geopolitischer Risiken“ „weiterhin abwärtsgerichtet“. Die EZB hat ihre Wachstumsprognosen seit ihrem Treffen im Dezember nach unten korrigiert.
Die offizielle Absicht hinter dem Programm der geldpolitischen Ankurbelung ist es, die Inflationsrate in der Eurozone auf nahe, aber nicht höher als zwei Prozent zu bringen. Doch die Preise entwickeln sich in die entgegengesetzte Richtung. Im Februar betrug die Inflationsrate 0,2 Prozent, im Januar 0,3 Prozent, und laut der Prognose der EZB wird sie im Jahr 2016 nur 0,1 Prozent erreichen.
Während der Fragestunde versuchte Draghi, sich zu Vorwürfen zu äußern, die Politik der Zentralbank sei wirkungslos und die EZB habe „keine Munition mehr.“ Er behauptete, die neuen Maßnahmen seien „sehr bedeutend“ und es sei töricht zu glauben, man könne zu einer Inflation von zwei Prozent zurückkehren, solange sich die Wirtschaft nicht erholt hat. Aber sobald im Euroraum ein solider Aufschwung herrsche, würden die Löhne und Preise wieder steigen.
Die Behauptung, das Programm der EZB und der anderen Zentralbanken werde zu einem Aufschwung führen, wird von der wirtschaftlichen Realität umfassend widerlegt. Die Wirtschaft der Eurozone befindet sich auch mehr als sieben Jahre nach dem Finanzkrach von 2008 noch nicht auf dem Niveau, auf dem sie vor der Finanzkrise lag.
Draghis weitere Äußerungen machten die tatsächliche Natur der sogenannten „unkonventionellen Maßnahmen“ deutlich, welche die Finanzbehörden eingeführt haben. „Angenommen, wir hätten gar nicht gehandelt? … was wäre dann passiert? Und natürlich rechnen wir damit, dass es dann zu einer katastrophalen Deflation gekommen wäre.“
Mit anderen Worten, das Vorgehen der EZB soll keinen wirklichen Wirtschaftsaufschwung schaffen, sondern das Finanzsystem durch eine Überbrückungsoperation vor einem Zusammenbruch wie in den 1930ern bewahren. Seine deutlichste Auswirkung war die Erhöhung der Vermögen der Finanzbranche und die Erhöhung der sozialen Ungleichheit. Dass das Programm ständig ausgeweitet wurde, zeigt außerdem, dass die tieferen Widersprüche im Finanzsystem nicht gelöst wurden, sondern dass sie sich verschärfen.
Im Vorfeld des EZB-Treffens wies der Chefinvestmentstratege der Bank of America, Michael Hartnett, darauf hin, dass die Politik der Zentralbanken in den letzten sieben Jahren nicht zu mehr Wirtschaftswachstum geführt hat.
Er erklärte: „Die 'sieben Jahre andauernde Funktionsstörung' ist, dass die grundlegende Entwicklung der Märkte weiterhin deflationär ist, obwohl weltweit 619mal die Zinsen gesenkt wurden, die Zentralbanken Wertpapiere im Wert von 10,4 Billionen Dollar aufgekauft haben und weltweit auf Staatsschulden in Höhe von neun Billionen Dollar – fast dreiundzwanzig Prozent aller Staatsschulden der Welt – null Prozent Zinsen anfallen.“ Weiter erklärte er, es gebe kein Anzeichen dafür, dass die geldpolitische Ankurbelung „in der nahen Zukunft“ das BIP steigern werde.
Die jüngsten Maßnahmen werden zwar nicht für ein Wachstum der Realwirtschaft sorgen, aber sie werden dennoch Folgen haben. Obwohl Draghi unbeirrbar das Gegenteil behauptet, stellen sie eine Verschärfung der Währungskriege dar, mit denen die Staaten versuchen, durch die Senkung des Werts ihrer eigenen Währung ihre Position auf den Weltmärkten zu Lasten ihrer Rivalen zu stärken.
Um derartige Kritik abzublocken, verwies Draghi auf das jüngste G20-Gipfeltreffen in Shanghai, bei dem sich alle Länder „aufrichtig darauf geeinigt haben, einen solchen Krieg zu vermeiden.“ Danach räumte er jedoch ein, einige der jüngsten Maßnahmen würden sich auch auf den Devisenmarkt auswirken.
Sie werden außerdem große Auswirkungen auf die Anleihenmärkte haben. Weitere Wertpapieraufkäufe werden den Preis der Anleihen erhöhen und die Zinsen senken (diese beiden Werte stehen in umgekehrtem Verhältnis zueinander), in einigen Fällen sogar in den negativen Bereich. Das bedeutet, dass Investitionen in Anleihen nicht wegen der Zinserträge getätigt werden, sondern um die Anleihen bei sinkenden Zinsen zu einem höheren Preis wieder zu verkaufen.
Ein Analyst erklärte zugespitzt, bei Anleihen mit Negativzinsen „betet man praktisch um die Gelegenheit, sie einem noch Dümmeren verkaufen zu können.“
Mit anderen Worten, die Maßnahmen der EZB werden die Realwirtschaft nicht ankurbeln, sondern dazu beitragen, den Anleihenmarkt in ein riesiges, von ständigem Geldzufluss abhängiges Schneeballsystem zu verwandeln und damit die Bedingungen für eine weitere Finanzkrise schaffen.