Französische Arbeiter und Jugendliche trotzen dem Ausnahmezustand und protestieren gegen die Sparpolitik
Von
Anthony Torres
2. April 2016
Massen von Arbeitern und Jugendlichen haben am Donnerstag überall in Frankreich gegen die Arbeitsmarktreform der Ministerin für Arbeit Myriam El Khomri protestiert. Laut Gewerkschaftsangaben waren es 1,2 Millionen und laut Polizei 390.000. Schüler, Studenten und eine wachsende Zahl von Arbeitern widersetzten sich dem von Präsident Hollande verhängten undemokratischen Ausnahmezustand und einem großen Aufmarsch schwer bewaffneter Bereitschaftspolizei, um gegen die Sparpolitik der Sozialistischen Partei (PS) zu demonstrieren.
Nach Angaben von Gewerkschaften und Studentenorganisationen gab es über 200 Protestmärsche, Demonstrationen und Kundgebungen in ganz Frankreich. Sie schätzen, dass an den Demonstrationen in Paris, Marseille, und Toulouse über 100.000 Menschen teilnahmen und Zehntausende in Nantes, Bordeaux, und Montpellier.
Laut Bildungsministerium waren am Donnerstagmorgen in ganz Frankreich 176 von 2.500 öffentlichen Gymnasien geschlossen. Organisationen der Gymnasiasten erklärten, dass sogar 250 öffentliche Schulen versperrt seien. In Paris waren von den Behörden etwa 20 weiterführende Schulen vorsorglich geschlossen worden. Diesen Schritt bezeichnete der Gewerkschafter aus dem Bildungsministerium, Philippe Tournier, als „beispiellos“.
Werft- und Hafenarbeiter blockierten in Le Havre und Rouen Dutzende von Brücken und Zufahrten zu Städten, Gewerbegebieten und Häfen. Auch in Marseille befanden sie sich zusammen mit Eisenbahnarbeitern, Beschäftigten von Air France und den Stahlwerken von Arcelor-Mittal im Ausstand.
Das Transportwesen und die öffentlichen Verkehrsmittel waren ebenfalls von Streikaktionen betroffen. Nur die Hälfte der regionalen Züge verkehrte und der Verkehr bei den TGV-Hochgeschwindigkeitszügen wurde je nach Region um 25 bis 50 Prozent reduziert. Auch der Flughafen Orly in Paris wurde bestreikt. 20 Prozent der Flüge in Orly und ein Drittel der Flüge in Marseille wurden vorsorglich annulliert.
Die PS-Regierung, die gehofft hatte, dass die Demonstrationen der Jugendlichen bald abebben würden, wird durch die wachsenden Proteste in zunehmendem Maße in Schrecken versetzt. Regierungssprecher Stéphane Le Foll rief nach einer Kabinettssitzung aus der Residenz des Premierministers dazu auf, „alle sollten sich beruhigen... Wir können nicht einigen Leuten die Gelegenheit bieten, Schaden anzurichten oder Gewalttaten zu begehen. Deshalb rufe ich alle dazu auf, ruhig zu bleiben und die Ordnung der Republik zu respektieren. Wir können Gewalt nicht akzeptieren.“
Tatsächlich setzte die PS Sicherheitskräfte in einem Umfang ein, der eines Polizeistaats würdig wäre, um den Widerstand unter Arbeitern und Jugendlichen gegen ihre reaktionäre Politik einzuschüchtern. Die Protestmärsche fanden unter der Überwachung großer Aufgebote schwerbewaffneter Bereitschaftspolizisten der CRS und der Gendarmerie Mobile statt.
In Paris umringten zahlreiche Einheiten aus Hunderten von Bereitschaftspolizisten, ausgerüstet mit schweren Schutzschildern, Schlagstöcken und Tränengasgranaten die Demonstrationen, speziell die der Jugendlichen. Noch vor Beginn der Demonstrationen konnte man zahlreiche Polizisten in Zivil beobachten, die sich in Gruppen mit der Bereitschaftspolizei versammelten.
Ein Student berichtete der WSWS, an seiner Universität hätten Agenten des Geheimdienstes Renseignements Généraux (RG) an Studenten-Sit-Ins teilgenommen, ihre Kontaktdaten verteilt und die Studenten aufgefordert, jedes verdächtige Verhalten ihrer Kommilitonen beim französischen Inlandsgeheimdienst anzuzeigen.
Eine Reihe von Demonstrationen endete mit Zusammenstößen mit der Polizei, darunter in Paris, Nantes und Rennes. Im Raum Paris nahm die Polizei ein Dutzend Demonstranten fest, weil sie Brandgeschosse geworfen hatten. In Nantes wurden Wasserwerfer gegen Demonstranten eingesetzt.
In Rennes, wo laut Schätzungen der Gewerkschaften 8.000 Menschen auf die Straße gingen, setzten die Sicherheitskräfte große Mengen Tränengas ein. Sieben Polizisten sollen verletzt worden sein und es gab ca. 50 Festnahmen.
Nach vier Jahren, in denen der Widerstand der Arbeiter gegen Hollandes Spardiktat von den Gewerkschaftsbürokraten und den politischen Verbündeten der PS, wie der Linksfront und der Neuen Antikapitalistischen Partei, unterdrückt wurde, nehmen die Klassenspannungen in Frankreich explosive Ausmaße an. 71 Prozent der Bevölkerung sind gegen die Arbeitsmarktreformen. Diese würden die Arbeitswoche verlängern und den Gewerkschaften erlauben, mit den Unternehmern zusammenzuarbeiten und die Bestimmungen des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) zu missachten, das die Rechte der Arbeiter schützt.
Viele Menschen, die an den Demonstrationen teilnahmen, weisen die offiziellen Versuche zurück, die Bewegung mit dem Hinweis auf den Ausnahmezustand oder das Risiko terroristischer Gewalttaten einzuschüchtern. Die Anschläge in Paris oder Brüssel wurden von islamistischen Netzwerken begangen, die von den Nato-Mächten in ihrem Krieg für einen Regimewechsel in Syrien unterstützt werden.
Die herrschende Elite hat jedoch kein Interesse an einem Kompromiss, der die Forderungen der Arbeiter berücksichtigt. Wirtschaftskreise, die PS und die Gewerkschaften dringen darauf, die Wettbewerbsfähigkeit des französischen Kapitalismus zu verbessern und werden von der zutiefst labilen globalen wirtschaftlichen und militärischen Situation angetrieben, ihre Kürzungen um jeden Preis durchzupeitschen und die historischen Rechte der Arbeiter abzuschaffen.
Der einzige Weg vorwärts für Arbeiter und Jugendliche im Kampf gegen die Gesetze von El Khomri besteht darin, den Gewerkschaftsbürokratien den Kampf aus den Händen zu nehmen, mit den politischen Satelliten der PS zu brechen und immer breitere Schichten der Arbeiterklasse im Kampf zu mobilisieren. Das bedeutet, sich von dem rein nationalen Rahmen zu lösen und einen Kampf zu führen, in dem die Arbeiter international aufgerufen werden, gegen Kriegstreiberei, Angriffe auf demokratische Rechte, Hollandes Ausnahmezustand und die Spardiktate der Europäischen Union zu kämpfen.
Arbeiter und Jugendliche brauchen ihre eigenen Kampforganisationen, frei vom Einfluss der alten Parteien und Gewerkschaften, die eine lange Tradition des Verrats und des Ausverkaufs gesellschaftlicher Kämpfe haben. Die Gewerkschaftsbürokratie steht dem Gesetz positiv gegenüber, am offensten die mit der PS verbundene Confédération française démocratique du travail (CFDT). Die stalinistische Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) und ihre Verbündeten versuchen ihrerseits die PS-Regierung zu stabilisieren und sie abzudecken, indem sie Korrekturen am El-Khomri-Gesetz fordert, damit es dann besser durchgesetzt werden kann.
Aus Angst, die Kontrolle über die Massenopposition völlig zu verlieren, wenn sie nicht zu weiteren Protesten aufrufen, haben die Gewerkschaftsbürokratien für den 5. und 9. April zu neuen Aktionstagen aufgerufen.
Am Donnerstag gab die Vizevorsitzende der CFDT Véronique Descacq die groteske Behauptung von sich, eine etwaige Rücknahme des El-Khomri-Gesetzes wäre „eine Niederlage für die Arbeiter“. Auf RTL erklärte sie: „Heute haben wir uns für unsere Vorschläge Gehör verschafft und wir werden weiter mit den Parlamentariern sprechen. Einige der CFDT-Vertreter sind auf die Straße gegangen. Aber wir haben alle denselben Standpunkt. Wir müssen unseren Einfluss geltend machen, damit der Text verändert und besser wird.“
Die CGT ihrerseits veröffentlichte vor den Demonstrationen eine gemeinsame Stellungnahme mit anderen Gewerkschaften, in der sie erklären: „Nach dem Aktionstag vom 31. März muss die Regierung reagieren. Wenn sie das nicht tut, dann werden die unterzeichnenden Organisationen Arbeiter und Jugendliche einladen, um zu diskutieren, ob sie ihre Aktionen und die Mobilisierung in den kommenden Tagen fortsetzen wollen, einschließlich Streiks und Demonstrationen.“
Mit ihrer Einladung zu einer Diskussion versucht die CGT zu verdecken, dass sie auf ein Ende der Proteste drängt und im Wesentlichen dieselbe Politik verfolgt wie die PS.