Über Musik schreiben ist wie zu Pornographie tanzen. Folgende Alben sind die besten des Jahres:
Platz 10: Herr Neumann – Träumt weiter!
„Träumt weiter!“ ist nicht so gut wie es sein könnte, aber durchaus sehr gut und allemal besser als jeder andere deutsche Pop-Scheiß dieses Jahres. Besonders Clickclickdecker sollte sich schämen.
Platz 9:: Franz Nicolay – Major General
Der Alleskönner aus Brooklyn kann auf seinem ersten Solo-Album alles.
Platz 8: Chuck Ragan – Gold Country
Der Mann weiß einfach, wie man Country spielen muss.
Platz 7: Frank Turner – Poetry Of The Deed
„Singer/Songwriter“, wie man so schön sagt, mit Punk-Attitüde. Ich fand das Album erst langweilig, das ist meist ein gutes Zeichen. Tatsächlich ist nicht ein einziger schlechter Song darauf.
Platz 6: Buried Inside – Spoils Of Failure
Das mächtige zweite Album der mächtigen Buried Inside ist unmöglich in Worte zu fassen.
Platz 5: Sólstafir – Köld
Verdammt kalt, dieses Album. Man kann dazu weinen, feiern, saufen und vielleicht auch onanieren. Wenn man gut ist, schafft man alles gleichzeitig.
Platz 4: Ostara – The Only Solace
Selten hat ein Neofolk-Typ so kitschig und lebensfroh über den üblichen Neofolk-Unsinn gesungen.
Platz 3: Captain Planet – Inselwissen
Angeblich handelt „Blattsport“, der beste Song auf diesem vor besten Songs überquellenden Meisterwerk, das genau das richtige Maß an Weiterentwicklung beinhaltet, vom „Papierkrieg“, dem Sänger Arne bei seiner „Beamtenausbildung“ ausgesetzt ist (ZEIT, FAZ oder so). Egal.
Platz 2: Editors – In This Light And On This Evening
Neun boshaft kalte Popsongs und eine Bonus-EP mit fünf unsterblichen Balladen, die den Begriff „Weltschmerz“ echt mal mit Leben füllen: so könnte es aussehen, das Album des Jahres. Aber da ist ja noch…
Platz 1: The Twilight Sad – Forget The Night Ahead
…denn was diese Band hier veranstaltet, ist einfach nur übermenschlich schön. Vielleicht das beste Album der letzten zehn Jahre, keine Ahnung, auf jeden Fall hat mich Musik selten so gerührt wie die von The Twilight Sad.
Neulich war ich auf einem Konzert der Band Editors. Deren Album „In This Light And On This Evening“ hat mich die letzten zwei Monate lang tief berührt, insbesondere die beigelegte Bonus-CD, das Konzert hingegen war ein Kulturschock: ca. 2000 Leute füllten die Halle, überall hingen 1Live-Banner, die Leute sahen so aus wie ich mir die Leute vorstelle, vor denen ich bei Liedern wie „I Want A Forest“ oder „Walk The Fleet Road“ gedanklich flüchte. Dass sie mir bei einem Konzert der Band, die für diese Lieder verantwortlich ist, auflauern würden, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich suchte einen vernünftigen Platz, um es mir trotzdem möglichst störungsfrei anzuschauen, was relativ unmöglich war: überall waren sie, rempelten mich beim Versuch, nach vorne zu gelangen, an, ließen mich ihr schlechtes Parfum oder Deodorant oder Haargel riechen, und als die Band dann spielte, standen sie in Form zweier extrem gut gelaunter junger Frauen direkt vor mir und tanzten, als seien sie auf einem Wolfgang-Petry-Konzert, kreischend. Allerdings überwiegend zu den älteren Liedern: mit den neuen, unterkühlten und absolut brillanten, mit reichlich Synthesizer ausgestatteten Meisterwerken konnten sie bezeichnenderweise wenig anfangen, ja, sie hatten sogar etwas dagegen einzuwenden, versuchten sie doch „The Boxer“, eine Ballade über Nostalgie und Einsamkeit, dadurch zu zerstören, dass sie die Arme in die Luft streckten, um sie im Takt hin und her zu wedeln. Leider sind meine Blicke nicht tödlich. Auf Lieder der beinahe übermenschlich guten Bonus-CD verzichteten die Editors zum Glück, sie hätten in diesen Rahmen überhaupt nicht hinein gepasst.
No push and no shove
Spit your verbal mace
Hate can turn to love
Not for this human race
(Editors, Walk The Fleet Road)
Die Band hatte übrigens Spaß. Es ist interessant, dass so lebensfrohe Menschen derartige Musik produzieren können. Aber eigentlich ist es auch egal.
Was ich sehr empfehlen kann, ist die neue Titanic. Sie hat es – gemeinsam mit zwei Flaschen Bier und Jörg Juretzkas herzerfrischendem Roman „Das Schwein kam mit der Post“ – mit nahezu jeder zufällig aufgeschlagenen Seite geschafft, einen meiner regelrecht brutalen Anfälle von Kummer der romantischen Natur mit ebenso brutaler Entschlossenheit zur Hölle zu jagen, etwas, was die vorherige Ausgabe, die mit Westerwelle auf dem Cover, nur mit der Wallraff-Satire am Ende hinbekommen hat. Die neue Ausgabe macht das schon mit dem Titelbild, und danach wird alles nur noch besser, aber das kann ja jeder selber sich anschauen, wenn er nicht gerade weinen muss. Denn von der Hölle kommt er wieder, der Kummer, und Titanic ist irgendwann ausgelesen, aber bis dahin: top!
Die Hölle liegt zwischen Köln und Aachen, denn dort taten Titanic, Juretzka und Hansa Pils ihr gutes Werk. Es ist eine Un-Gegend: wann immer man aus dem Fenster schaut, sind da Grasflächen, Lärmschutzwände oder ein Atomkraftwerk, manchmal auch Bahnhöfe, die heißen „Horrem“ oder „Langerwehe“ und sehen auch so aus. Mehr ist da nicht. Da muss man durch, wenn man nach Aachen will. Viele Gründe dafür gibt es nicht, einer davon ist Fußball. An dieser Stelle sei meinem Hass gegenüber modernen Fußballarenen Ausdruck verliehen, doch Halt! War nicht die moderne Fußballarena in Duisburg neulich ein leuchtendes Vorbild? Sie war es: Eintritt für sechs Euro, überdacht, Toiletten und Gastronomie im Block, perfekte Sicht, gute Atmosphäre usw. Aachen hingegen macht alles falsch: Eintritt für 12,50 Euro, überall steht „Event“, und überall sind Ticketschalter, aber man kann an ihnen keine Karten für den Gästeblock kaufen, das geht nur im Gästebereich, der beginnt 100m abseits des Stadions, man muss durch eine Unterführung, und schließlich steht man an einem Block, vor dem einem echtes Bier angeboten wird, aber das bekommt man nicht, und das ist angeblich „immer so“. Der Block selber ist eng, die Toiletten unten, das Stadion komplett in gelb, was will man eigentlich hier? Ach ja, den ersten Saisonsieg sehen. Hat geklappt.
Auf der Rückfahrt gab es dann „Felsgold“-Pils, sehr gut allein schon deshalb, weil es dort, wo andere Bierflaschen blumige Sprüche oder irgendwelche Bilder aufbieten, ohne Not die GDA-Nährwerttabelle für Bier abdruckt. So lernt man noch was, nämlich, dass in Bier 19% des Tagesbedarfs an Zucker steckt. Geil! Schmecken tut es nach Pisse.
Nein: nach gar nichts. Wie schmeckt Urin? Eine Frage für zukünftige Bloggergenerationen, nicht für mich. Ich widme mich daher nun wieder meinen Studien.