Die Abrechnung steht noch aus – 40 Jahre Klassenkämpfe in
Portugal. Diskussionsveranstaltung zur „Nelkenrevolution /
PREC“ mit
Charles Reeve und
Ricardo Noronha
[The pay off is yet to come - 40 years of class struggle in Portugal. Discussion on the "carnation revolution" / PREC with Charles Reeve and Ricardo Noronha]
[Ajustar contas ainda abertas – 40 anos de luta de classes em Portugal. Debate acerca da “
Revolução dos Cravos/PREC”, com Charles Reeve e Ricardo Noronha]
1/3 -
Introduction = in german;
2/3 - Charles Reeve = in portuguese with german translation
3/3 - Ricardo Noronha + discussion - in english
Es gibt
Orte und Jahreszahlen, die in linken Ohren sofort vertraut klingen und bei Vielen eine Flut von Assoziationen, Bildern und Namen hervorrufen.
St. Petersburg 1917,
Barcelona 1936 oder
Paris 1968 sind längst zu mythischen Chiffren für die
Siege und Niederlagen der sozialen
Revolution geworden. „Lissabon
1974“ bringt dagegen nichts zum Klingen, ruft keine Namen,
Bilder und Parolen hervor. Lissabon 1974 steht in keiner lebendigen Beziehung mehr zu uns, und das wofür die Chiffre einsteht, ist nahezu völlig aus dem historischen Bewusstsein einer sich revolutionär verstehenden Linken gelöscht. Und das obwohl – oder vielleicht: gerade weil – das, was am 25.
April 1974 in Lissabon mit einem linken Militärputsch in
Gang kam, sich rasant zu der radikalsten und umfassendsten sozialen Revolution ausweitete, die Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg erschüttert hat. Denn auf die Absetzung eines faschistischen und kolonialistischen Regimes folgte in Portugal eine riesige Bewegung der Besetzungen, die sich innerhalb weniger Monate zehntausende Wohnhäuser, Betriebe und Landgüter aneignete und sie unter die räteförmige Selbstverwaltung der ausgebeuteten Klassen stellte. Seither gab es wohl keinen praktischen Angriff auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse mehr, der den herrschenden Klassen so gefährlich geworden wäre!
Wir möchten an diesem Abend über jene Ereignisse diskutieren. Dafür konnten wir mit Charles Reeve und Ricardo Noronha zwei ganz besondere internationale Gäste gewinnen.
Charles Reeve (*
1945) desertierte 1967 aus der portugiesischen Kolonialarmee und lebt seitdem im Pariser Exil. Er war in den Jahren 1974/75 aktiver Teilnehmer des revolutionären Prozesses in Portugal. Bereits im Frühjahr
1976 legte er eine kritische
Analyse des Scheiterns der „Nelkenrevolution“ in seiner Broschüre Die portugiesische Erfahrung vor. Die hierin enthaltenen Einsichten sind bis heute maßgebend und wurden von Reeve in mehreren über die letzten 40 Jahre verfassten Artikeln und Essays zum
Thema kontinuierlich vertieft, zuletzt in seinem neusten
Text Das Unvorhersehbare – unser Territorium. Reeve schreibt unter anderem für die Zeitschrift
Wildcat und berichtet seit den 1970ern aus verschiedenen Kontinenten über die Kämpfe und Lebensbedingungen eines in permanenter Umwälzung begriffenen Weltproletariats. Zuletzt erschien
2001 von ihm Die
Hölle auf
Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und
Business in
China in deutscher Übersetzung bei Edition
Nautilus.
Ricardo Noronha arbeitet als Sozial- und Wirtschaftshistoriker am
Institut für Zeitgeschichte der Universität Lissabon. Er forscht vor allem zur Einbindung des semi-peripheren Portugal in die europäische und weltkapitalistische Ökonomie und zur Nationalisierung des Bankwesens im Rahmen der „Nelkenrevolution“ (siehe seinen Aufsatz “Die Banken im Dienste des Volkes” in dem
Buch “Portugal 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution” vom Laika-Verlag). Unlängst veröffentlichte er unter dem
Titel Never has a winter been so long ein Thesenpapier auf der Homepage der Gruppe Affect (
New York), in dem er seine Einschätzung der komplizierten Konflikte und Alternativen 1974-75 prägnant verdichtet. In der Vergangenheit hat Noronha sich auch mit dem Spanischen Bürgerkrieg 1936-39, dem italienischen Operaismus und der Situationistischen
Internationale auseinandergesetzt.
Gemeinsam wollen wir danach fragen, wie und warum die damals durch die Aktion der Ausgebeuteten kurzfristig eroberten ungeheuren Möglichkeiten zur Emanzipation wieder zerschlagen werden konnten? Welche
Rolle spielten Staat und
Kapital, aber auch die linken Organisationen, also Sozialdemokraten und Gewerkschaften, Parteikommunisten und linksradikale Grüppchen in dieser Auseinandersetzung? Worin bestanden die entscheidenden Schwächen der Bewegung, die eine teils gewaltsame, teils „samtene“ Konterrevolution möglich machten? Und nicht zuletzt: wo stehen Portugal und die portugiesische Bewegung heute, nach 40 Jahren bürgerlicher Konterrevolution und 5 Jahren Schuldenkrise?
Siehe auch
Charles Reeves neuen Text "Das Unvorhersehbare - unser Territorium", übersetzt von translib
Leipzig:
http://translibleipzig.files.wordpress.com/2014/06/charlesreeve_dasunvorhersehbare2
.pdf
- published: 30 Jul 2014
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