Logbuch “Schizophrene Ökologien” 6: Peripatetische Annäherungen an Christian Krachts literarisches Réduit (Fortsetzung)

Martin Bartelmus unterwegs zum Bau, 18:24, Düsseldorf, 07.07.2015, ca. 18:45, aufgenommen mit Iphone 4

Sergej Rickenbacher auf der Suche, Botanischer Garten Düsseldorf, 07.07.2015, ca. 18:45, aufgenommen mit Iphone 4

Der immaterielle Diskurs, der sich z.B. in der Rauchsprache manifestiert, korreliert mit einem Gegenständlich-Werden von Tieren und Sonden, die in der Welt sind, ohne einen Zugang zum Sein zu besitzen. Die Benutzung einer Heidegger’schen Begrifflichkeit geschah nicht zufällig im Gespräch, sondern wird vom Roman aufgegeben. Besonders in der Begegnung des Komissärs mit dem wahnsinnigen Maler Roerich wird eindeutig und zum Teil wortwörtlich auf Heideggers Kunstwerk-Aufsatz Bezug genommen (Entbergen, Kunsthandwerk, Aletheia, Hervorbringen des Nichtanwesenden ins Anwesende etc.).

Sowohl das Satori-Prinzip als auch das Kunsthandwerk wird im Text mit einer ostasiatischen Philosophie gleichgeschaltet: Aletheia sei wie das koreanische Wu und das hindustanische Samadhi. Wie bei Dath und Schmidt verschränkt Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kulterelle , obwohl der kulturelle Zugang zu den zitierten Prinzipien eigentlich fehlt. [Anm. d. Verf.: Während Wu wahrscheinlich den daoistischen Begriff Wu Wei meint, der eine Nichthandeln im Sinne eines Unterlassens von Handlungen gegen die Natur meint, entspricht Samadhi in gewissen Yoga-Schulen der Erleuchtung, die sich als völlige Ruhe des Geistes äußert] Dennoch wird durch die Konstitution eines Assoziationsraums eine Allgegenwärtigkeit produziert. In der Zerbrochenheit der Welt zeichnen sich universelle Linien ab. Allerdings muss die Frage geklärt werden, ob es sich dabei nicht um eine ironische Farce handelt bzw. nur um erfundene Begriffe handelt. Der Roman könnte also tatsächlich die Existenz universeller Gesetze behaupten und somit ein Versuch darstellen, die Schizophrenie der globalen Ökologie zu überwinden. Oder er stellt das Scheitern eines solchen Versuchs aus. Die Dekodierung der kulturellen Chiffren würde nicht zu einem Verstehen führen.

Das Ende des Romans legt nahe, dass das Buch als eine eigene Existenzweise begriffen werden soll, die gar nicht zwingend in der Realität geerdet sein muss. Der Kommissär wird zum Heiler, der erstens in die Zukunft und die Vergangenheit sehen kann und zweitens ein Schreibender ist, der in die Landschaft schreibt. Die griechische Tragödie Ödipus aufgreifend erblindet der zum Heiler sich wandelnde Kommissär. Damit ist der Blick, der Vergangenes und Zukünftiges erfassen, nach Innen, auf das daimon, gerichtet. Die Schrift bildet diesen Innenraum, dem gleichzeitig die Fähigkeit zur Erinnerung wie zur Prognose, ja vielleicht zur Kreation, zugeschrieben wird. Damit driftet aber Sehen und Schreiben auseinander, was auch mit der Entgrenzung des Mediums einher geht, da nicht mehr in Bücher geschrieben wird.

Diese Zuwendung zum Innenraum durch den Kommissär imitiert das Graben des Réduits in den Berg. Insofern kann auch ein intertextueller Bezug zu Franz Kafkas Der Bau hergestellt werden, wobei Krachts Adaption eine Umstülpung oder ein Negativ darstellt. Nicht mehr das Hören ist bedrohlich, sondern das Sprechen. Im Vergleich zu Schmidts Die Gelehrtenrepublik gilt es zu konstatieren, dass zwar in beiden Romanen mittels einer Randzone die Gesellschaft thematisiert wird, jedoch auf unterschiedliche Weise. Während in Die Gelehrtenrepublik Henry Winer zur exterritorialiserten Gelehrtenrepublik reist, die im Pazifik zwischen den Rossbreiten kreuzt, taucht der Kommissär ins Innerste der SSR. Zudem kehrt Winer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück, während für den Kommissär das Réduit einen Transitraum darstellt: Er tritt in das Tunnelsystem von Norden ein und verlässt es Richtung Süden – vom Tessin aus immer weiter Afrika zustrebend.

Schmidts Gelehrtenrepublik ist somit eher nach dem Prinzip der Kartographie organisiert und Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten nach der Archäologie oder des Bergbaus, was sich auch in der narrativen Struktur zu äußern scheint. Schmidts Narration ist mäandernd. Dagegen nimmt sich Krachts Sprache zielgerichtet aus – und führt wie der Bergbau in Sackgassen. Immer wieder sind Sätze eingestreut, die den Leser völlig ratlos zurücklassen. Allerdings befriedigte uns weder der Begriff ‚Archäologie’ noch der Begriff ‚Bergbau’ für Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Hier gilt es unser Wandeln durch die schizophrenen Ökologien fortzusetzen.



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grk1678 (2015, 22. Juli). Logbuch “Schizophrene Ökologien” 6: Peripatetische Annäherungen an Christian Krachts literarisches Réduit (Fortsetzung). Materialität & Produktion. Abgerufen am 13. März 2024, von https://doi.org/10.58079/p7se

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