Monica Lierhaus und ihr Leben “danach”

Die Sportjournalistin Monica Lierhaus hat in einem Interview mitgeteilt, dass sie sich 2009 gegen eine Gehirnoperation entschieden hätte, wenn ihr damals schon klar gewesen wäre, wie es ihr heute geht. So wäre ihr „vieles erspart geblieben“. Für diese Aussage erntete sie reichlich Kritik. Die querschnittsgelähmte Journalistin Christiane Link schreibt etwa:

„Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, das sei Monica Lierhaus’ persönliche Auffassung, dass sie sich die letzten Jahre lieber erspart hätte. Das Problem ist, jeder mit einer derartigen Prominenz vertritt in solchen Interviews eine Haltung und macht diese Haltung durch die eigene Prominenz salonfähig und vielleicht sogar populär. […] Monica Lierhaus kann über ihr Leben denken, wie sie möchte. Aber indem sie ihre negative Einstellung in die Welt herausposaunt, transportiert sie ein Bild, das Menschen in einer ähnlichen Situation wie sie selbst, schadet anstatt nutzt.“

Was ist das für eine Logik? Weiterlesen

Frauke Petry ist, was Bernd Lucke war

Jetzt ist Bernd Lucke aus der AfD ausgetreten. Die Pegida-Fraktion hat endgültig gegen die Gartenzwergspießer gewonnen. Das ist mir im Grunde egal, ich fand die AfD mit Lucke nicht attraktiv und ich finde sie nun noch hässlicher. Auch in den Medien wird darauf hingewiesen, dass der Sieg von Frauke Petry ein Sieg der nationalistischen Kräfte in der Partei war, die nun offen islamfeindlich und rechtsextrem ist. Schon wieder? An der Berichterstattung rund um Lucke kann man gut erkennen, wie inflationär die Presse mit Superlativen umgeht. Denn die Lucke-AfD war auch schon islamfeindlich und rechtsradikal, da waren sich die meisten Pressevertreter einig. Nun ist Frau Petry da und plötzlich erhält Bernd Lucke eine liberal-demokratische Adelung, als ob er die Stimme der Vernunft in dieser Partei gewesen war.

Vielleicht war er das, aber so wurde er nicht dargestellt. Es ist erstaunlich, mit was für einer Gleichgültigkeit da in den Redaktionsstuben die Rollen neu verteilt werden, aber die Texte die gleichen bleiben. Jetzt ist also Frauke Petry das, was Bernd Lucke bislang war. Womöglich mit dem Unterschied, dass die Warnungen in ihrem Fall sogar berechtigt sind. Aber wer weiß da schon, was ist die Steigerung von Ausländerfeind? Radikaler Ausländerfeind? Neo-Ausländerfeind? Unsere Sprache hat nicht ohne Grund Steigerungsformen. Wenn man aber von Beginn an nur mit dem Superlativ arbeitet, bleibt keine Luft mehr nach oben. Dann ist Bernd Lucke gleich Frauke Petry und alles ist beliebig und alles ist gleich.

Eigentlich wäre die AfD-Berichterstattung eine gute Möglichkeit, um mediale Selbstkritik zu üben. Wenn zutrifft, was in den letzten Jahren über Bernd Lucke geschrieben wurde, kann die Republik aufatmen, dass ein gefährlicher Populist gerade eine schmerzhafte Niederlage einstecken musste. Das passt aber nicht mit dem Bild zusammen, das nun plötzlich von ihm gezeichnet wird. Warum macht eine verlorene Wahl Bernd Lucke vom Populisten zum Liberalen? Oder war er immer ein liberaler Demokrat und wurde über Jahre hinweg falsch dargestellt?

Es wäre fast spannend zu wissen, was aus Frauke Petry werden würde, sollte sie in einem Jahr aus Protest die Partei verlassen. Aktuell ist sie Islamfeindin und Ausländerhasserin Nummer eins. Aber was heißt das schon, das war Lucke ja auch. Gut möglich, dass sie sich nach einem Austritt irgendwie auf die Bezeichnung „Konservative“ retten könnte. Schließlich sind superlative Medien maßlos, aber nur selten wirklich nachtragend. Dafür fehlt ihnen die Ernsthaftigkeit, sonst würde sie besser auf ihre Wortwahl achten.

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

Wer sind eigentlich “die”?

Wenn sich Menschen dumm stellen, haben sie fast immer gute Gründe dafür. Wenn der eitle Chef dachte, dass Sydney die Hauptstadt von Australien ist, wird der karrierewillige Mitarbeiter nicht „Canberra“ sagen, sondern stattdessen „ja, hät ich auch gedacht“ murmeln. Dummstellen ist in vielen Situationen eine kluge Strategie. Man kommt damit leichter durchs Leben.

Während es im Berufsleben das opportunistische Dummstellen gibt, gibt es im Bereich der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen das Dummstellen aus Mangel an Argumenten. Besonders extrem findet das nach islamistischen Anschlägen statt. Alleine vorgestern gab es welche in Frankreich, in Tunesien, im Irak und in Kuwait. Alles im Fastenmonat Ramadan, wo innere Einkehr und Frieden im Mittelpunkt stehen sollen.

Ich postete dazu: Der islamische Fastenmonat Ramadan: Eine Zeit des Friedens, die von Nichtmoslems mehr respektiert wird als von Moslems.  

Auf verschiedenen Kanälen bekam ich dafür empörte Reaktionen (wobei die meisten  positiv waren, ich will mich hier nicht zum tapferen Helden verklären). Wenn man die üblichen Beleidigungen und obligatorische Rassismus-Vorwürfe weglässt, bleibt vor allem diese verkniffene Frage übrig: „Wer sind die(!) Moslems“?

Das ist eine klassische Dummstell-Haltung. Gepaart mit einer erstaunlich Bereitschaft, unangenehme Tatsachen zu ignorieren, indem man vom eigentlichen Thema ablenkt. Rhetorische Stilmittel wie Satire, Sarkasmus oder Polemik werden bewusst ausgeblendet, weil es ja um ein höheres Ziel geht. Nämlich darum, den Islam vor ungerechtfertigten Pauschalisierungen zu beschützen.

Ich kann mit dieser Haltung nichts anfangen. Besonders aus einem Grund: Im Westen ist es üblich, rhetorisch nicht gerade zurückhaltend mit denen umzugehen, die auf der gesellschaftlichen Bühne auftreten. Seien es Prominente oder Institutionen. Die katholische Kirche kann das bestätigen. Warum sollte man ausgerechnet den Islam aus dieser Art von Kritik rausnehmen? Das wäre ein Doppelstandard, mit dem die vermeintlichen Streiter für eine multikulturelle Gesellschaft genau das verhindern, was für sie angeblich der Fall ist. Nämlich: „Der Islam gehört mittlerweile auch zu Deutschland.“

Erstaunlicherweise sind jene, die sich da auf das Sprachgefühl von Vorschulkindern erniedrigen, sehr nachsichtig, wenn es um Pauschalurteile wie „Der Islam ist Frieden“  (was als widerlegt gelten darf) oder „Die Türken sind gastfreundlich“ geht. Da gibt es kein kritisches Nachhaken, kein „was ist der(!) Islam“ und „wer sind die(!) Türken“?

Wer mit infantilem Eifer den Islam gegen polemische Einwürfe in Schutz nimmt, weil diese Religion eine solche Behandlung nicht ertragen kann, sollte eine Sonderbehandlung für eben diese Religion einfordern. Das wäre zumindest ehrlich (und die Forderung, die Meinungsfreiheit abzuschaffen). Man kann aber nicht einerseits behaupten, dass der Islam zu unserer liberalen Demokratie gehört und andererseits empört sein, wenn er wie alle anderen Protagonisten auf der westlichen Gesellschaftsbühne behandelt wird. Was sollen da denn bitte „die(!) Katholiken“, „die(!) Amerikaner“ oder „die(!) Veganer“ sagen?

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

Mit Blackfacing zur schwarzen Aktivistin

Eine Weiße, die sich als Schwarze ausgibt und zu einer der führenden Aktivistinnen wird. Dieser Fall beschäftigt gerade die USA. Aufgeflogen ist die Lüge, nachdem die Eltern von Rachel Dolezal sie öffentlich machten.

Konservative Medien werfen liberalen Medien nun vor, doppelte Standards in Bezug auf Geschlechter- und Identitätswechsel anzulegen. Denn als vor wenigen Wochen aus dem früheren Spitzensportler Bruce Jenner öffentlichkeitswirksam eine Caitlyn Jenner wurde, feierten diese Medien das als einen Schritt in die richtige Richtung. Jeder sollte sein Geschlecht ändern können, wenn er meint, im falschen geboren zu sein.

Diese Haltung teile ich. Wobei es sich hierbei wohl um ein Problem handelt, das weit davon entfernt ist, zu einem Massenphänomen zu werden. Auch wenn die Fülle an Berichten darüber einen anderen Eindruck machen. Die Kritik der Heuchelei geht im Fall dieser Weißen, die sich im Grunde durch Blackfacing eine andere Biografie und eine ganze Karriere ins Gesicht schmierte, aber am Ziel vorbei. Problematisch ist ja nicht in erster Linie, dass da eine Weiße zu einer Schwarzen werden will, sondern dass sich da jemand zu einer Funktionärin machte, die mit Verweis auf die Diskriminierung, die sie und alle anderen Schwarzen erleiden, Politik betrieb. Damit missbraucht sie die leidvolle Geschichte der Schwarzen in den USA als notwendiges Fundament in ihrer ganz persönlichen Neuerfindung als Opfer.

Das unterscheidet den Fall Rachel Dolezal vom Fall Caitlyn Jenner. Jenner hat niemanden getäuscht, sondern einen persönlichen Entschluss in die Tat umgesetzt. Dolezal hat eine Lüge zu ihrem Leben erklärt und jeden getäuscht, der mit ihr zu tun hatte. Sie ist eine Hochstaplerin, die offenbar schwere psychische Probleme hat. Sie ist aber kein neues Phänomen, das erst seit der Möglichkeit von Geschlechtsumwandlungen auftaucht.

Andere Identitäten annehmen, hat eine lange Tradition, meistens geschieht es aus Not, um Diskriminierung zu entgehen. Manchmal geschieht es aber auch, um aus einer vermeintlichen Täter- in eine Opfergruppe zu wechseln und sich so zu entlasten. Rachel Dolezal wiederum hat ihre Biografie gefälscht, um sich eine Diskriminierung einbilden zu können und vor allem, um als diskriminiert wahrgenommen zu werden. Sie ist eine Lügnerin und Betrügerin. Das sagt etwas über die Untiefen der menschlichen Psyche aus, aber nichts über wechselnde Geschlechteridentitäten.

Und es sagt etwas darüber aus, wie sich die Rolle von Minderheiten in westlichen Gesellschaften gewandelt hat. Mittlerweile kann es unter Umständen attraktiv erscheinen, einer anzugehören. Im Jahr 1950 oder im Jahr 1880 hätte sicherlich keine Weiße den Wunsch verspürt, als schwarze Aktivistin wahrgenommen zu werden.

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

Städtepartnerschaften mit Sodom und Gomorra

Über die Gleichstellung der Homosexuellen diskutiert man nicht einfach. Man diskutiert immer mindestens „hoch emotional“, „verbissen“ oder „aggressiv“. Und alle verstehen das, es geht schließlich um die Gleichstellung. Wann hat sich das eigentlich so entwickelt, dass dieses Thema automatisch mit überschäumenden Emotionen verbunden wird? Ich frage, weil ich diese Einschätzung nicht teile. Ich gerate dabei nicht in Wut oder Zorn und bin auch sonst weit von großen emotionalen Gesten entfernt. Ich bin für die Gleichstellung Homosexueller und dafür, dass gleichgeschlechtliche Paare das Recht auf eine Traumhochzeit habe und danach optional auf eine Ehe, die in die Brüche geht und dann noch eine Hochzeit und noch eine Scheidung. So oft sie wollen. Warum sollte das ein Privileg der Heterosexuellen sein, in der Ehe zu scheitern? Oder glücklich zu werden, was ja auch vorkommen kann.

Dieses Thema hat eigentlich gar kein Aufregerpotenzial, wenn man es nicht künstlich hinzufügt. Wir leben nicht in einem christlichen oder islamischen Gottesstaat, wo die religiösen Regeln klar gegen eine Homoehe sind. Wir leben in einer offenen Gesellschaft und wenn zwei Menschen ihre Liebe durch eine Hochzeit erster Klasse aktenkundig machen wollen, sollte da nichts dagegen sprechen. Niemand hätte dadurch einen Verlust, aber die Betroffenen einen Gewinn. Es ist auch nicht so, dass die Öffnung der Ehe für Homosexuelle gleichbedeutend damit ist, Städtepartnerschaften mit Sodom und Gomorra abzuschließen. Wer diese Ängste hat, hat andere Probleme als das Eheversprechen von Martin für Thomas und von Linda für Susanne.

Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer hat beispielsweise die Befürchtung, dass nach den Homosexuellen dann auch die Ehe zwischen Geschwistern anstehen würde. Vermutlich ist ihr nicht einmal bewusst, was an dieser Überlegung so verräterisch ist. Heterosexuelle stehen darin für das Normale, während Homosexuelle das Bindeglied sind zwischen dem Abartigen und dem Normalen. Wenn man aber das Halbabartige (man würde es wohl eher halbnormal nennen, weil das netter klingt) zulässt, klopft als nächstes eben das richtig Abartige an die Türe und fordert auch seine Rechte ein. Und es wird nie aufhören! Nach den Homosexuellen werden die abartigen Brüder und Schwestern heiraten wollen, die immerhin noch heterosexuell sind. Aber dann kommen Bruder und Bruder und Schwester und Schwester und verlangen die Ja-Wort-Adelung. Zustände wie in den beiden neuen Partnerstädten stehen zu befürchten. Also besser die Halbnormalen nicht ehelichen lassen, um  alles weitere im Keim zu ersticken.

Wer Homosexualität als Defizitlebensentwurf ansieht, kann tatsächlich in der Öffnung der Ehe eine solche Tabuverletzung sehen, die einen verheerende Kettenreaktion zur Folge hat. In der Gesellschaft setzt sich aber die Einstellung immer weiter durch, dass es dieses Defizit nicht gibt. Deswegen ist es immer schwerer zu vermitteln, warum das Team Mann/Frau vor den Teams Mann/Mann oder Frau/Frau juristisch privilegiert werden sollte. In der Rhetorik vieler Gegner der Homoehe schrumpft die Bedeutung der Ehe dabei auf die Größe des Bettes zusammen, das als Kindermachlabor gegen jene Paare in Stellung gebracht wird, die keinen eigenen Nachwuchs zeugen können. Wer so unromantische Vorstellungen von der Ehe hat, sollte besser gleich die Finger davon lassen.

Wenn das aber wirklich der letzte Trumpf ist, muss auch festgelegt werden, wie hoch eigentlich die Vertragsstrafen sind, wenn ein Hetero-Paar trotz Eheprivileg keine Kinder zeugt oder damit viel zu lange wartet. Ordnung muss da jedenfalls sein. Da kann auch gerne drüber diskutiert werden. Natürlich „hoch emotional“, „verbissen“ und „aggressiv“.

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

Schwangere Hände Gottes

Schwangere Hände!

Warum soll es das nicht geben? Ein türkischer Imam ist gerade zu einer gewissen Berühmtheit gelangt, weil er Männer vor den Gefahren der Selbstbefriedigung warnte. Die Hand könnte dabei schwanger werden und dem Gläubigen später im Paradies mitsamt dem Nachwuchs das ewige Leben schwer machen.

Es gibt ein paar theologische Kleinigkeiten, die der Imam im Zusammenhang mit der Hand noch nicht aufgeklärt hat: Ist eine Hand neun Monate schwanger? Wie sieht der Däumling aus, der dann auf die Welt kommt? Ist er ein Mensch oder nur eine Hand oder ein Hybrid? Ist er Fortpflanzungsfähig und wenn ja, was passiert, wenn er sich wiederum selbst befriedigt? Außerdem wäre auch wichtig zu erfahren, ob diese Warnung nur für Moslems gilt? Und was passiert eigentlich bei Frauen nach der Selbstbefriedigung? Da gibt es auf jeden Fall  noch weiteren Aufklärungsbedarf.

Interessant aber ist, warum eigentlich mit einem solchen Gejohle auf diese Hand-Geschichte reagiert wird? Schließlich hat kein Wissenschaftler diese Behauptung geäußert, sondern ein religiöser Würdenträger. Eigentlich sollte man meinen, dass gerade in einem christlich geprägten Land wie Deutschland mehr Verständnis für solche Überlegungen vorhanden ist. Schließlich besticht auch die christliche Theologie nicht unbedingt nur durch messerscharfe Logik. Dass eine Frau ein Kind auf die Welt bringt, das sein eigener Vater ist, klingt auch ziemlich spektakulär. (Ach so, besagte Frau ist weiterhin Jungfrau.) Warum sollte eine schwangere Hand in einem solchen Pantheon keinen Platz haben?

Ich habe damit kein Problem. Warum auch? Ich kann akzeptieren, dass es sich bei Religionen um eine Sphäre handelt, in der Falsifizierbarkeit keine Bedeutung hat. Wenn das so ist, ist nun einmal alles gleich sinnvoll, weil alles gleich absurd ist. Die Teilung des Meeres ist die Auferstehung Christi ist die schwangere Hand.

Wer speziell mit dieser Hand ein Problem hat, als ob dieses nicht einfach nur ein Ergebnis der irrationalen Denkweise hinter Religionen ist, macht es sich zu einfach. Diese Fünffinger-Geschichte mag vielleicht in seiner Absurdität besonders amüsant klingen, aber sie entspringt eben einer Gedankenwelt, die für ganze Gesellschaften das moralische (weil religiöse) Fundament bildet. Ob man das beruhigend findet oder nicht, ist noch einmal eine ganz andere Sache.

Für alle, die Interesse an schwangeren Händen haben, dürfte in diesem Fall das religiöse Eck kaum geeignet sein. Stattdessen empfiehlt es sich, den Blick lieber ins Lager der Wissenschaften schweifen zu lassen, denn in der Gentechnik dürfte es mittlerweile tatsächlich möglich sein, eine schwangere Hand zu züchten.

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

 

Antisemitismus ist schlimm. Manchmal.

In diesen Tagen feiern Deutschland und Israel das 50-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen. Dazu gehört neben diversen offiziellen Veranstaltungen auch das Bekenntnis, Antisemitismus nicht zu dulden und überall zu bekämpfen. Deswegen träumt die Bundesregierung ja auch immer noch davon, die NPD zu verbieten. Als ob das Verschwinden dieser kümmerlichen Nazipartei auch das Verschwinden des Judenhasses zur Folge hätte. (In Wahrheit hat die NPD den nützlichen Effekt, dass an ihrer Nichtexistenz in Landtagen der fehlende Rückhalt ihrer Ideologie im Land ablesbar ist.)

Warum aber lässt es die deutsche Politik nicht ruhen, dass es die NPD noch offiziell gibt? Es reicht doch, dass sie keinen Einfluss hat und Udo Voigt in etwa das Charisma eines gescheiterten Blitzkrieges besitzt. Eigentlich gibt es genügend Gründe, sich mit anderen Protagonisten auf der globalen Antisemitismusbühne zu beschäftigen. Dort spielt Voigt ohnehin nur eine Nebenrolle ohne Sprechpart. Auf dieser Bühne ganz vorne mit dabei ist Recep Erdogan, ein Mann, der seine demokratische Phase zunehmend hinter sich hat und zu einem autoritären Führer mutiert.

Er hetzt in Richtung Israel: „Jene, die Hitler Tag und Nacht verurteilen, haben Hitler in Sachen Barbarei übertroffen.“ Außerdem teilt er seinen Landsleuten mit: „Die Israelis töten die Frauen im Gazastreifen, so dass sie keine palästinensischen Babys mehr zur Welt bringen können.“ Er bezeichnet den Zionismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder lässt über seinen Stellvertreter verbreiten, dass die „jüdische Diaspora“ hinter den Protesten in der Türkei steckt.

Natürlich kann man behaupten, dass er dabei doch nur „Israelkritik“ übte, aber so eine Sicht ist im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall eine schäbige Form der Unterstützung dieser antisemitischen Hetze. Denn natürlich weiß Erdogan genau, wie seine Worte beim (Wahl-)Volk ankommen. So wie auch Jürgen Möllemann einst auf das antisemitische Potenzial der deutschen Wähler hoffte, als er sich „sorgen“ darüber machte, dass Michel Friedmann und Ariel Scharon den Antisemitismus anheizen. Damals kam zu Recht niemand auf die Idee, Möllemann diese Sorge abzunehmen.

Im Fall von Erdogan hingegen, dessen Propaganda weit über die Türkei hinaus in die arabische und muslimische Welt hineinstrahlt, bleibt die deutsche Politik erstaunlich gleichgültig. Was doppelt erstaunlich ist, schließlich handelt es sich bei der Türkei um ein NATO-Mitglied und einen EU-Beitrittskandidaten.

Wenn aber unsere Politik sich nicht an Erdogans fataler Roller als Einpeitscher der Massen gegen den Zionismus und Israel (und die Unterscheidung zwischen Judentum und Israel wird in dieser Weltregion gerne noch weniger gezogen, als in Deutschland) stört, sollte man den rhetorischen Totalausfall Udo Voigt schlicht ignorieren.

Insgesamt ist die Gleichgültigkeit gegenüber Antisemitismus, der nicht der arisch-blonden-Klischeeschablone entspricht, erschreckend. Aus diesem Grund fällt es schwer, die pathetischen Worte gegen Judenhass ernst zu nehmen, die auf solchen Festakten gesprochen werden. Wer den Antisemitismus nur dort bekämpft, wo er einem in den ideologischen Kram passt, anstatt ihn dort zu bekämpfen, wo er sich zeigt, der kann es gleich sein lassen. Oder in den Worten von Erdogan: „Israel verfolgt dasselbe Ziel wie Hitler.“

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

„Ich bin eins zu eins David Rosen“

Das Internet bietet die Möglichkeit, mit Leichtigkeit in andere Rollen zu schlüpfen oder sich komplett neu zu erfinden. Vor wenigen Tagen hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass ein schwuler Facebookfreund von mir in Wahrheit eine Frau ist. Zu ihm gehörten eine ganze Reihe weitere (ebenfalls erfundener) Facebook-Personen, vor allem sein jüdischer Verlobter und die Ex-Frau, mit der er Kinder hat, über die regelmäßig Anekdoten gepostet wurden.

Mich interessiert, warum sich jemand die Mühe macht, nicht nur nicht unter dem eigenen Namen oder einem einfachen Fake-Account aktiv zu sein, sondern sich sogar ein ganzes Universum aus Haupt- und Nebenfiguren ausdenkt, die miteinander in Verbindung stehen. Deswegen habe ich mit der Schöpferin (die ihren Namen nicht in in diesem Text sehen möchte) gesprochen. Auch darüber, wie denn die Reaktionen von ihrem Online-Bekanntenkreis waren, nachdem klar wurde, dass es sich um keine reale Person handelt. Und los geht’s: 


– Warum haben Sie sich „David Rosen“ und sein Umfeld, zu dem unter anderem eine Ex-Frau und der aktuelle Verlobte zählen, überhaupt ausgedacht?

„David Rosen“: Ausdenken impliziert einen bewussten Plan, den hatte ich aber nicht. Auch wenn es erst einmal seltsam klingen mag, aber David Rosen und sein Umfeld sind in Jahren gewachsen.

 

– Warum sind Sie nicht unter Ihrem eigenen Namen auf Facebook aktiv geworden?

 „David Rosen“: Irgendwann, es war wohl so 2009, habe ich Facebook entdeckt und ich war neugierig, was das wohl so ist. Das wollte ich mal ausprobieren, aber – aus Gründen – dann lieber anonym. Also unter einem falschen Namen. Dabei fiel mir der Name des Zahnarztes meiner Au-pair Familie ein, den ich so poetisch und wunderschön fand: David Rosen. Damit habe ich mich angemeldet, um mal zu sehen, was Facebook ist und das zu erkunden. Über das Geschlecht habe ich mir keine Gedanken gemacht, wollte doch nur mal gucken.

 

– Warum war ihr Fakeprofil ausgerechnet ein Mann, der mit einem Juden verlobt ist?

„David Rosen“: Siehe oben, Zufall. David Rosen war zuerst gar nicht mit einem Juden verlobt, das ergab sich ja so.

 

– Wie viel Zeit haben Sie denn täglich in die Pflege Ihres Facebook-Universums  investiert? 

„David Rosen“: Es gab ja erst gar kein Facebook-Universum. Wie ich eben Zeit und Lust hatte, wobei es mal Phasen sehr intensiver Nutzung  und Empörung gab, also akute Ereignisse wie den Gaza Krieg und manchmal weniger. In letzter Zeit eher weniger.

 

– Gab es einen Punkt, an dem Sie merkten, jetzt hat „David Rosen“ endgültig ein Eigenleben entwickelt

„David Rosen“: Nein, denn David Rosen war immer eins zu eins ich. Ich musste dabei nur von Frau auf Mann switchen. Ich war immer genau David Rosen, habe mich nie verstellt. Im Gegenteil die Anonymität gab mir die Chance, eben genau so zu sein, wie ich bin. Es gab niemals einen Gap zwischen mir und David Rosen.

 

– Hatten Sie keine Skrupel, mit anderen Menschen über private Nachrichten intime Gespräche über Sexualität zu führen? Immerhin dachten Ihre Gesprächspartner, mit einem Homosexuellen zu chatten, nicht mit einer Frau, die sich als einer ausgibt.

„David Rosen“: Um das mal festzuhalten: David Rosen war erst kurz vor seinem Ableben offen homosexuell. Er war jahrelang davor ganz heterosexuell mit Tochter und Frau. Jahrelang. Und ehrlich gesagt kann ich mich an keine privaten Nachrichten erinnern, in denen es  intim um Sexualität ging.

 

– Wie lange waren Sie als „David Rosen“ aktiv und wie flog auf, dass es sich um einen Fake handelt?

„David Rosen“: Mein Account besteht, glaube ich, seit  2009, ich müsste nachschauen. Und zwar schon immer unter diesem Namen. Aufgeflogen ist es, weil mir unbekannte Personen in fast schon detektivischer Manier ein Foto, das ich während einer Israelveranstaltung von meinem Essen und einem Glas Wein machte, mit anderen Fotos von dort verglichen und so meine Position feststellten. Und da saß dann eben kein Mann.

 

– Wusste irgendwer davon, dass Sie hinter „David Rosen“ stecken?

„David Rosen“: Ja. Gute Freunde, die mich im echten Leben kennen. Denen stellte ich eine Freundschaftsanfrage und sagte, nicht wundern, ich bin es.

 

– Hätten Sie gerne irgendwann selbst aufgelöst, dass „David Rosen“ ein Fake ist oder wäre es ewig so weitergegangen, wenn es nach Ihnen gegangen wäre? 

„David Rosen“: Es gab immer Zeiten, in denen ich bereute, nicht unter meinem echten, zumindest Geschlecht, auf Facebook unterwegs gewesen zu sein. Gründe: Hätte ich mich Davida Rosen genannt, hätte ich auf Israeltagen oder Israeldemos anderen Facebookern begegnen können und sagen: Schau mal, hallo, ich bin Davida Rosen, ich heiße eigentlich so  und so, mag aber lieber anonym unterwegs sein und jeder hätte es verstanden. So aber war ich ein Mann. Das hätte dann wohl leider keiner  verstanden. Das war ein Fehler, den ich nicht in den kühnsten Träumen vorausahnen konnte.

 

– „David Rosen“ war einer der engagiertesten Israel-Verteidiger auf Facebook. War das eine Rolle, die sie sich für ihn ausdachten oder sprach da durch die Kunstfigur die Erschafferin?

„David Rosen“: Ich bin eins zu eins David Rosen und bin eine glühende Zionistin. Absolut, Facebook gab mir zudem die Möglichkeit, mich noch intensiver über Nahost zu informieren und in jeder nur möglichen Art und Weise Israel mit allen Mitteln zu verteidigen und dafür aktiv zu werden und sein. Ich hätte mich niemals verstellen können, dazu bin ich zu emotional.

 

– Waren Sie auf gewisse Weise stolz darauf, ihr Facebook-Umfeld so erfolgreich täuschen zu können

„David Rosen“: Nein! Das war niemals meine Intention, über etwas zu  täuschen! Ich wollte nur sehen, was ist Facebook, wie geht das und dann verselbständigte sich das. Name? Geschlecht? Leider passiert. Von Anfang an bewusst täuschen? Nein.

 

– Hat diese Facebook-Realität Ihren Alltag bestimmt oder handelte es sich nur um ein Hobby?

„David Rosen“: Facebook ist für mich eine sehr ausführliche Informationsquelle, in allererster Hinsicht. Insbesondere um auch mal andere Meinungen zu hören, sich zu informieren, zu diskutieren. Immer mehr wurde es aber auch zum Kampfplatz gegen Antisemiten und Israelhasser.

 

– Einen Großteil Ihrer Fake-Profile haben Sie mittlerweile gelöscht. Unter anderem den Verlobten von „David Rosen“. Fiel es Ihnen eigentlich schwer, sich nach so langer Zeit von diesen Personen zu trennen? 

„David Rosen“: Ja. Ich vermisse Jan Feinstein sehr. Es war eine sehr schöne Zeit und eigentlich hoffe ich, dass er mal aus Japan wiederkommt. Glücklicherweise vermissen ihn auch noch andere. War einfach schön und er ist ein ganz lieber Mensch. Eigentlich und sozusagen.

 

– Sind Sie froh, dass es aufgeflogen ist?

„David Rosen“: Jein. Einerseits nein, weil dadurch die Unbeschwertheit weg ist. Andererseits ja, denn nun kann ich Menschen, die mir auf Facebook wirklich lieb geworden sind, endlich kennenlernen. In den letzten Tagen habe ich mit ganz vielen lieben Facebookmenschen telefonieren können und ich freue mich, sie endlich mal im echten Leben treffen zu dürfen. Negativ: Dass viele frühere Facebookfreunde mich mittlerweile blockiert haben, weil sie sich von mir betrogen fühlen. Was nie meine Absicht war und wo ich auch nach wie vor nicht glaube, dass es zutrifft. Schließlich stehe ich voll hinter den Meinungen, die ich veröffentlichte.

 

– Werden Sie weiter auf Facebook aktiv sein? Und wenn ja, unter Ihrem eigentlichen Namen oder als David Rosen?

„David Rosen“: Das wird die Zukunft zeigen.

 

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

Game of Thrones und der Islamische Staat

In der ZEIT erschien gerade ein Beitrag zu Game of Thrones. Was nicht so überraschend ist, schließlich ist diese Fantasyserie eine der erfolgreichsten der Welt und Millionen Menschen schauen sich seit nunmehr fünf Staffeln an, welche der mächtigen Familien gerade auf dem Eisernen Thron sitzt. Es fließt viel Wein und noch mehr Blut, es gibt Intrigen und Allianzen (und Drachen!). Es ist auf jeden Fall keine friedliche Welt, in der die Helden dieser Serie sich durchkämpfen müssen.

Überraschend an der ZEIT-Kritik war jedoch, was sie bemängelt und wie sie es begründet. Dass Gewaltszenen oft detailliert gezeigt werde, findet der Autor nicht in Ordnung. Speziell mit Verweis auf eine öffentliche Enthauptung fragt er:

Kann Game of Thrones wirklich ignorieren, dass in Wirklichkeit seit vergangenem Jahr Hinrichtungsvideos der Terrormiliz IS zirkulieren, die ziemlich genau das Gleiche zeigen, nur in echt und nicht in mittelalterlichen Kostümen?

Was ist das für eine eigenartige Sichtweise? Natürlich kann eine Fernsehserie das ignorieren. Warum sollte eine Terrorbande über die Ästhetik einer Serie bestimmen dürfen? Wenn es sich in dieser Fantasywelt nun einmal um einen brutalen Ort handelt, werden auch brutale Dinge passieren. Zumal das Mittelalter, das dem Autor der Buchvorlage als Vorbild diente, in Sachen brutaler Tötungsvarianten außerordentlich kreativ war: Verbrennen, Ertränken, Vierteilen, Hängen, Enthaupten, von Mauern stoßen, von Tieren zerfleischen, Einmauern, Vergiften, Erdolchen usw. Das sind keine IS-Erfindungen.

Wer Änderungen an Kunstwerken vornehmen will, weil im echten Leben Terroristen Menschen auf sadistische Art hinrichten, zieht einen falschen Schluss. Der Islamische Staat ist eine Bedrohung für die Welt, Game of Thrones ist eine Fernsehserie. Das eine ist Massenmord, das andere Filmkunst. Das sind zwei sehr verschiedene Dinge, deswegen ergibt ihre Verknüpfung auch keinen Sinn. Wenn jemand die manchmal sehr heftigen Gewaltszenen dieser TV-Serie, die in einer von Gewalt zusammengehaltenen Welt spielt, nicht angemessen findet, sollte dafür bessere Argumente haben, als einen abenteuerlich konstruierten Bezug zu tatsächlichen Grausamkeiten (nach dieser Logik könnte jede Form von Kunst diskreditiert werden). Wie wäre es stattdessen, einfach andere Filme und Serien zu gucken?

Wer fordert, dass sich die Fiktion gefälligst der Realität unterzuordnen hat und deren Brutalität aussparen soll, hat eine merkwürdige Vorstellung von Kunst. Natürlich ist es nachvollziehbar, wenn jemand keine expliziten Gewaltszenen sehen will. Aber wenn dieser Widerwille vor allem mit realer Gewalt einer Terrororganisation begründet wird (würde es diese nicht geben, hätte der Autor auch kein Problem mit solchen Szenen), wird es irritierend. Warum sollte man dem Islamischen Staat das Recht zugestehen, Einfluss auf die Drehbücher einer der besten Serien der Welt zu nehmen?

Eine Serie lebt von vielen Elementen, vom Soundtrack, den Schauspielern, den Kulissen, den Dialogen, den Schnitten. Es muss Vieles passen, um eine fesselnde Atmosphäre zu erreichen. Bei Game of Thrones passt sehr Vieles. Die Brutalität ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Teil dieser unberechenbaren Atmosphäre, in der überraschend schnell wichtige Figuren dahinscheiden können. Dazu gehört auch, solche Szenen (manchmal detailliert) zu zeigen. Wem das nicht gefällt, der soll diese Serie nicht schauen, anstatt in ihre Ästhetik eingreifen zu wollen. Man kann Game of Thrones nicht vorwerfen, die menschlichen Grausamkeiten so genau getroffen zu haben.

Der Islamische Staat ist schon selbst fleißig genug im Beschädigen und Vernichten von Kunstwerke. Man muss ihm nicht auch noch aus Zeitungsredaktionen heraus Schützenhilfe leisten.  

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen

 

 

Wikileaks verbündet sich mit Nordkorea

Einer der Vorfahren von Ben Affleck war Sklavenhalter! Der Schauspieler hatte sich für eine Dokumentation auf die Suche nach seinen familiären Wurzeln gemacht. Als herauskam, dass nicht alle seine Vorfahren Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen waren, bat er den TV-Sender, das Detail mit den Sklaven doch bitte auszuklammern. Dieser kam der Bitte nach und verlor im Film kein Wort darüber. Warum jetzt trotzdem alle wissen, dass Affleck einen Skalvenhaltervorfahren hat, liegt an Wikileaks. Dieser Enthüllungsplattform, die einst mit dem Anspruch antrat, die Informationsfreiheit zu schützen und zu retten.

Früher wurden auf dieser Plattform militärische und diplomatische Geheimnisse veröffentlicht und es gab kontroverse Debatten darüber, ob das moralisch gerechtfertigt ist oder nicht. Nun aber hat Wikileaks Zehntausende interne Daten von Sony Pictures veröffentlicht. Da geht es nicht um Kriege, um Vertuschung von Foltermethoden oder um korrupte Politiker. Da geht es um Drehbücher und Filme, die der Unterhaltungskonzern vorbereitet hat. Da geht es um Sitzungsprotokolle, um Terminkalender und um E-Mails (darunter auch der Schriftwechsel in Sachen Affleck). Nichts davon gehört in die Öffentlichkeit. Nicht einmal in der besten aller Transparenzwelten hat die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf, über solche internen Abläufe informiert zu werden.

Wikileaks verfolgte schon immer eine tendenziell antiwestliche Agenda, vor allem gegen die USA gerichtet, und sprach sich selbst von jeder Mitschuld dafür frei, was die Enthüllungen zum Beispiel für das Leben von Afghanen bedeuten konnten, die als US-Informanten im Kampf gegen die Taliban enttarnt wurden. Julian Assange hatte schon immer die Moral eines Schreibtischtäters, dessen Narzissmus keinen Platz für Verantwortungsgefühl und Empathie kennt. Doch bislang überwogen für seine Verteidiger stets die Argumente für brisante Veröffentlichungen, weil dadurch unter anderem mehrere amerikanische Kriegsverbrechen bekannt wurden, die ansonsten nie aufgeklärt worden wären.

Mit den Veröffentlichungen der Sony Pictures-Daten tritt Wikileaks aber auch ganz offiziell in ein neues Stadium ein. Die Plattform macht sich damit zum Verbündeten Nordkoreas in dessen Krieg gegen Sony. Das Unternehmen hatte 2014 die Komödie „The Interview“ über Kim Jong Un veröffentlicht, die der Diktator um jeden Preis verhindern wollte. Als Rache dafür, dass der Film trotzdem veröffentlicht wurde, stahlen Hacker über Hunderttausend interne Sony-Daten. Experten sind sich sicher, dass es sich dabei um eine Aktion Nordkoreas handelt.

Wikileaks hat mit der Veröffentlichung dieser Daten nicht nur gezeigt, dass es keine Berührungsängste gegenüber Staaten hat, die die eigenen Bevölkerung in Hunger-KZs sterben lässt, sondern auch, dass die großen Worte über den Kampf für Informationsfreiheit nicht mehr sind als eine nobel klingende Fassade. In Wahrheit zeigt diese Plattform, dass es ihr um das Erzeugen von Aufmerksamkeit um jeden Preis geht. Denn in diesem Fall wurde kein Folterskandal aufgedeckt, sondern stattdessen, dass Sony u.a. die Filmrechte an Super Mario erwerben wollte. Wikileaks Umgang mit diesen internen Daten hat keine Ähnlichkeit mit der Aufklärung politische Skandale, sondern erinnert in seiner moralischen Verkommenheit dem Vorgehen von Kriminellen, die private Nacktbilder von Schauspielerinnen stehlen und online veröffentlichen..

Wenn Assange aber tatsächlich wieder eine sinnvolle Enthüllung bringen will, könnte er darüber Auskunft geben, was genau an den Vergewaltigungsvorwürfen dran ist, die mehrere Frauen gegen ihn erhoben haben. In dieser Sache ist er an Aufklärung nicht interessiert, versteckt sich in der ecuadorianischen Botschaft in London und hält nichts von Transparenz.

Dafür aber wissen zumindest jetzt alle, dass nicht alle Afflecks so gute Afflekcs waren, wie der Ben. Und auch Kim Jong Un kann zufrieden sein. Vielleicht revanchiert er sich damit, Assange Asyl zu gewähren. Verdient hätten sie sich gegenseitig.

Gideon Böss ist Schriftsteller. Sein aktueller Roman heißt Die Nachhaltigen