Franz Xaver Kroetz „Kemal Altun: Nein"
Autorenrezitation:
Franz Xaver Kroetz
Text:
Du Staat, du deutscher
vom 30.
August 1983,
paß auf,
ich muß dir ein paar
Zeilen sagen.
Es ist aus zwischen uns.
Staatenlos wär ich lieber,
als Bürger von dir.
Staat, daß das Faß heut überlief,
an diesem milden Tag,
hat seinen
Grund in einem Tod,
der an dir kleben bleibt.
Verdächtigt hab ich dich schon oft,
heut hast du dich bewiesen.
Die Nachricht war ganz kurz,
war sachlich. Schnell vorbei.
Heut früh ist einer
aus dem Fenster gesprungen,
der deinen
Schutz, wollte,
aus dem 6.
Stock des
Berliner Verwaltungsgerichts,
und gestorben auf dem
Rasen
hinter dem Haus.
Der zu uns kam, und der nichts
wollte als bleiben dürfen, leben können,
atmen, der sprang heute aus deinem
Fenster.
Jetzt liegt er im Gerichtsmedizinischen,
und später kommt er in die Kühlkammer.
Wird dann weiter verhandelt,
ob nun, da mehr nicht übrig ist,
der Leichnam Asyl auf deutschem
Boden kriegt,
oder auch der noch auf türkischen muß?
Ich kann dein Gesicht nicht mehr erkennen,
du deutscher Staat vom 30. August 1983.
Wie alt bist du?
Ich weiß von manchem Fenstersturz,
als letztem Aufbegehren, gegen
GESTAPO, KZ und Vergasung.
Für den, der jetzt tot ist,
hat sich die demokratische
Welt eingesetzt.
Man bat, man flehte, man hoffte.
Woher wußte der
Tote, daß
dieser deutsche Staat nicht zu rühren ist?
Kannte er die deutsche Geschichte so gut?
Für mich hast du heute getötet, Staat,
nicht selbst, noch nicht, doch hast
du einen Tod erzwungen, du lieferst aus --
als wüßtest du von
GAR NICHTS --
Verfolgte eines Faschistenregimes
lieferst du an das Faschistenregime aus.
Staat, du hast so manchen alten
Nazi
freundlich an deiner
Brust,
wie konntest du dem jungen Demokraten
den Weg durchs Fenster weisen?
In welchem Namen kannst du sowas tun,
in welchem Auftrag?
In meinem auch? Bin ich dein Eigentum
so wie mein Paß?
Ich will nicht mehr.
Will nicht mehr Bürger genannt werden
eines Staats, der mit Systemen paktiert,
die nach dem riechen, was auf den letzten
europäischen Schlachtfeldern zerrieben schien.
Ich will nicht mehr Bürger genannt werden
eines Staats, der sich mit jedem freundlich
beschnuppert, der nach Unrecht,
Terror,
Folter,
Blut und
Elend riecht --
nach deutscher Vergangenheit also.
Staat du, vom 30. August 1983,
ich hab noch viel auf der Zunge,
aber es schändet nur den heute
von dir Getöteten, er allein wär genug zu sagen:
Staat, du bist der meine nicht mehr,
mir ekelt vor dir,
aus altem Nazischoß gekrochner,
groß gewordner
Bastard.
Mag sein, die Zeilen sind verbittert,
maßlos auch und haßerfüllt,
und sie entzwein mich mit mir selbst.
Ich kann nicht anders.
Als heut die Nachricht kam,
nach dem Mittagsglockenläuten,
war dieser
Sprung aus dem Berliner Fenster
mir zuviel.
Ich schäme mich.
Heimat? - Ich möchte staatenlos sein,
ein Ausgewiesener wenigstens,
die
Zeit ist doch gekommen, daß man sagt:
Bis hierher ist zuviel.
Mir brennt die Stirn.
Der Sprung des jungen Türken in den Tod,
der ist von mir auch mitverschuldet.
Staat, du, vom 30. August 1983,
ich schwieg zuviel von dir,
und tat zuwenig gegen dich.
Das muß sich ändern.
Bilder:
Collage erstellt aus
Fotos und Bildern die mir begegneten
. . im Netz und Andernorts