Montag, 24. Juni 2013

8. Thesen zur Kritik an der Arbeitskritik

1. Arbeit ist vom Arbeitsfetisch zu unterscheiden. Arbeit als produktive Tätigkeit, als Mittel zum Erreichen eines bestimmten Zwecks, ist als solche weder zu kritisieren noch lässt sie sich abschaffen. Der Maßstab einer Arbeit ist der Zweck, dem sie dient. Die Denkform des Arbeitsfetisches hingegen sieht in der Arbeit selbst einen Wert, misst ihr etwa eine besondere moralische Qualität zu. Sie hängt als ideologische Erscheinung mit der Lohnarbeit zusammen, in der der Inhalt der Arbeit von ihrem Zweck getrennt wird, die Arbeit zur abstrakten entlohnten Arbeitszeit wird. Derartig ist diese Ideologie eine Kompensation für die von der subjektive Seite einer Arbeitenden Person her oftmals vollkommen sinnlose verrichtete Arbeit. Gleichzeitig ist dieser Fetisch Ausdruck der ideologischen Macht der Kapitalistenklasse, die sich an der gesellschaftlichen Arbeit bereichern und somit kein geringes Interesse haben, ihr Heiligkeit zuzusprechen.

2. Disziplin als Stetigkeit und Entschlossenheit, mit der ein Ziel verfolgt wird, ist ebenfalls nicht besser oder schlechter als das entsprechende Ziel. Abzulehnen ist Disziplin als Selbstzweck und Lebensprinzip.

3. Verachtung der Arbeit hat eine lange Tradition in aristokratischen Gruppierungen, von antiken Griechen über mitteleuropäischen Adel hin zu akademischen Intellektuellen, die sich durch eine vermeintliche Ideologiekritik geistig über die breite Masse erhoben fühlen. Verachtung der Arbeit hängt eng mit der Verachtung der Arbeitenden zusammen.

4. Wer die Ablehnung von Luxus oder Müßiggang kritisiert, ohne deren Exklusivität und ihre Verwurzelung in Ausbeutungsverhältnissen zu berücksichtigen, strickt an einer Herrschaftsideologie und einer Delegitimierung des Klassenkampfes. Luxus für alle ist die Negation des Luxus.

5. Vorenthaltung von Arbeitskraft ist ein Kampfmittel. Es kann als Boykott, Streik oder Sabotage sowohl gegen ein kapitalistisches Arbeitsregime als auch gegen eine antikapitalistische Revolution eingesetzt werden. Wer einer Revolution seine Arbeitskraft entzieht, verhält sich als ihr Gegner.

6. Wer von Transferleistungen oder Almosen lebt, ist in die Interessen desjenigen verstrickt, der ihm diese zukommen lässt. Solche Personen brauchen ihre Herren, sei es die Kirche oder der Staat, doch ihre Herren brauchen sie nicht gleichermaßen. Es gibt Aufstände aber keine Revolutionen des Subproletariats.

7. Wer Arbeit als ideologisches Gespenst kritisiert, das durch Kritik ausgetrieben werden könne, denkt nicht anders als der deutsche revolutionäre Philosoph aus der deutschen Ideologie, der glaubt, die Menschen ertränken, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären.

8. Gleicher Arbeitszwang für alle (Das kommunistische Manifest) ist bei Lichte besehen eine vernünftige Forderung. Besser wäre vielleicht noch: Kein Arbeitszwang für niemand.

Donnerstag, 14. Februar 2013

Ein militarisierter Soziologe plädiert für die Drohnen-Aufrüstung

Ich wurde eben auf den Artikel "Warum die Bundeswehr Drohnen braucht" des Militärsoziologen Detlef Buch aufmerksam gemacht. Ein Musterbeispiel für Demagogie und suggestive Rhetorik, wenn man mich fragt. Ich konnte nicht widerstehen und musste den Text kurz kommentieren.
"Wieder einmal werden unnötig Ängste um den Kauf und den Einsatz von Waffensystemen geschürt. Die Ängste bedienen deutsche anti-militärische Phobien und gehen komplett an der Realität vorbei - auch dieses Mal beim Thema Drohnen."
Man beachte die Semantik: Es werden Ängste geschürt, die Phobien bedienen, welche darüber hinaus völlig an der Realität vorbei gehen. Ein streng genommen völlig sinnloser Satz, der im Grunde nur in dreifacher Ausführung impliziert, dass KritikerInnen der Drohnen völlig irrational ja geradezu geisteskrank sind. So sieht der Anfang einer sachlichen Auseinandersetzung mit einem Thema aus.
"Zunächst einmal wäre es besser, viel besser, eine Übersetzung aus dem Englischen zu Rate zu ziehen: Dort heißen die Drohnen nämlich "Unmanned Aircraft Systems", also unbemannte fliegende Systeme."
Na, solange das System nicht Windows ist, was da rumfliegt... erstklassige Übersetzung! Aber Euphemismen sind natürlich grundsätzlich was feines, das beruhigt gleich das Gemüt!
"Und manch einer wird es kaum glauben, aber die Bundeswehr setzt sie seit Jahren erfolgreich ein. Sie heißen Heron 1, ALADIN, Mikado, Luna oder KZO. Bisher dienen sie zum Beispiel zur Aufklärung von Zielen oder sollen feststellen, ob der Einsatz anderer Waffensysteme erfolgreich war, sprich zur Trefferanalyse."
Wenn etwas seit Jahren im Einsatz ist, wird es dadurch natürlich unproblematisch. So wie Streubomben, Anti-Personen-Minen und Uranmunition. Nennt man wohl die Normativität des Faktischen oder so.
"Solche fliegenden Killermaschinen, wie manch einer sie gerne bezeichnet, passen nicht ins Selbstbild unserer Gesellschaft. Denn die lehnt Gewalt zunehmend ab und orientiert sich an femininen Normen und Werten. Begriffe wie Kampf, Ehre, Stolz, Sterben, Krieg und Töten und Getötetwerden sind quasi verbannt aus dem kollektiven Miteinander. Ersetzt wurden sie durch Begrifflichkeiten wie Verständnis, Konsensfähigkeit und Frieden."
Da wollte sich der Detlef beim Frühstücksei mit seiner Frau über Stolz, Ehre und Töten unterhalten, doch es kam nichts aus seinem Mund heraus außer Friede, Freude Eierkuchen! Diese fiesen femininen Normen! Kein Wunder, dass er da anfangen muss, Propagandartikel zu schreiben!
"Natürlich sind das lautere und erstrebenswerte Tugenden. Nur verkennen sie völlig die Situation, in der sich deutsche Soldaten befinden - jene Männer und Frauen, die unser Souverän in den Kampfeinsatz ans Ende der Welt schickt. (...) Unsere Gesellschaft verdrängt gerne, wozu Militär eigentlich da ist und wozu es ausgebildet wird: schlichtweg zur Anwendung physischer Gewalt. Doch das ist der Kern des Militärischen. Und ob die Mittel der Gewaltanwendung nun Kampfdrohnen, Panzerhaubitzen oder Eurofighter heißen, ist letztlich ganz egal."
Wer außer irgendwelchen Vollidioten, die die Propaganda davon glauben, dass die Bundeswehr in Afghanistan angeblich nur Krankenhäuser baut, Katzen von den Bäumen holt oder den Einheimischen beibringt, wie sie ihren Namen tanzen, denkt eigentlich irgend etwas anderes, als dass das Militär ein Gewaltmittel ist? Der Abschnitt tut eigentlich etwas anderes: Er impliziert, dass der Zweck des Militärs, die Gewalt, auch jedes Mittel der Gewalt legitimiert. Dies ist natürlich ein logischer Fehlschluss. Davon muss gleich mit einer dreisten Behauptung abgelenkt werden:
"Die Debatte um Drohnen für die Bundeswehr ist deshalb in Wahrheit eine Debatte darüber, wie viel Realität unsere Gesellschaft verträgt."
Die Botschaft ist erneut: Buch repräsentiert das Realistische, Vernünftige usw während alle, die seinen Standpunkt nicht teilen, in einer Wahnwelt leben. Die im Text später folgende Behauptung, Drohne führten zu weniger Kollateralschäden, scheint mir unglaubwürdig, doch ein echter Brüller kommt gleich danach:
"Außerdem sind sie die logische Konsequenz aus den vielen konzeptionellen Vorgaben und Papieren, die in und um die Bundeswehr in den letzten 20 Jahren verfasst wurden. Die Bundeswehr soll eine moderne Einsatzarmee werden, die am Hindukusch und überall auf der Welt kämpfen kann. Das ist die Realität im Jahr 2013!"
Brilliant: Weil die letzten 20 Jahre lang irgendwelche Konzepte entwickelt wurden, muss das jetzt auch so gemacht werden. Man kann ja nicht einfach so seine Meinung ändern, das wäre ja unrealitisch.
"Dies ist ein Plädoyer dafür, unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Auftrag und zum Schutz des deutschen Volkes ihren Dienst in lebensgefährlichen Krisengebieten dieser Welt vollziehen, bestmöglich auszubilden und auszurüsten."
Hier wird uns erst das Ideologem untergemogelt, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr tatsächlich dazu dienen, irgend eine konkrete (deutsche) Bevölkerung vor realen Aggressoren zu schützen und nicht nur imperialistische Versuche sind, sich auf dem Parkett der Großmächte zu bewähren. Dann wird auf die Tränendrüse gedrückt: Wer sich derartig edelmütig für uns in die Bresche wirft, der soll auch so gut wie möglich ausgerüstet sein! Mit anderen Worten: Dass der deutsche Staat junge Männer und Frauen für seine außenpolitischen Ziele zum Töten abrichtet und instrumentalisiert wird zum Argument dafür gemacht, dass dies auch tun soll und zwar mit maximaler Effektivität!
"Wer nun einwirft, diese unbemannten fliegenden Systeme könnten die Einsatzschwelle senken und verdeckte oder nicht legitimierte Kampfmaßnahmen ermöglichen, der zweifelt an unserer Demokratie."
Wer es auch nur in Erwägung zieht an unseren ja immerhin gewählten Führern oder gar unserer Staatsform zu zweifeln, sollte sich augenblicklich in Behandlung begeben.
"Und er zweifelt an unseren Soldatinnen und Soldaten, indem er ihnen latent zutraut, sich abseits ihrer politischen Vorgaben und Verhaltensrichtlinien zu bewegen, um Parlament und Volk zu täuschen. Solche Zweifel sind nicht akzeptabel und sollten kein Maßstab in der derzeitigen Diskussion sein."
Das ist wohl die Spitze eines zumindest mir neuen demokratischen Kadavergehorsams. Das besonders perverse an dieser Argumentation ist, dass die Soldatinnen und Soldaten, die ja hauptsächlich lohnabhängige Befehlsempfänger sind, quasi zum "Human Shield" für die Argumentation gemacht werden: Wer die Mittel und Ziele militärischer Gewaltentfaltung kritisiert, entehrt die tapferen Soldaten und das darf nicht sein, ist Verrat. Dies ist um so perverser, als dass die Personen, die letztendlich das militärische Morden in ihren Befehlen zu verantworten haben, nicht jene sind, die letztendlich an den Fronten stehen. Fast fühlt man sich erinnert an die Zeit nach dem Weltkrieg, als Antimilitarismus als Verrat an den wackeren Mannen gewertet wurde, die an der Front ihr Leben verloren haben. Dass ein stärkerer Antimilitarismus vielleicht die Rettung ihrer Leben hätte sein können, darf in dieser Logik nicht als Möglichkeit zugelassen werden.

Die Tendenz des Artikels ist Eindeutig: Er ist ein Plädoyer für die Entfesslung militärischer Gewaltmittel, welche die zunehmenden imperialistischen Ambitionen Deutschlands flankiert sowie für eine Entpolitisierung und Technokratisierung der Entscheidung über militärische Mittel. Hat man in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg eine Zeit lang Zivilisation vorgetäuscht, soll diese Attrappe nun endlich restlos resorbiert werden, damit man seinen angestammten Platz im Konzert der Weltmächte wieder mit allen Mitteln behaupten kann. Ehrfurcht und Vertauen sind die autoritären Haltungen, die wir nach dem Willen des militarisierten Soziologen Detlef Buch unserem Staat und seinen bedauernswerten Werkzeugen entgegenbringen sollen. Und "Realismus", was bedeutet, alle Zwecke des Staates und des Militärs als unhintergehbar und vernünftig zu akzeptieren.






Mittwoch, 11. Juli 2012

Kurz Notiert: Kapitalismus versus Kommunismus = Egoismus versus Gemeinwohl?

Häufig begegnet einem die Vorstellung, dass Kapitalismus und Kommunismus auf grundverschiedenen anthropologischen Annahmen basierten: Beim Kapitalismus stünde der Egoismus des Einzelnen im Vordergrund, während der Kommunismus auf der Annahme basiere, dass Menschen sich in ihrem Verhalten am Allgemeinwohl orientierten. Abgesehen davon, dass Fragen über das wahre Wesen des Menschen völlig spekulativ sind, denn es gibt nur konkrete Menschen in einer konkreten historischen und gesellschaftlichen Situation, nicht jedoch den gesellschaftlich unbefleckten reinen Menschen an sich, könnte man auch genau für das Gegenteil argumentieren.

Zunächst, wie stellt sich die Situation im Kapitalismus konkret da? Ist hier tatsächlich Egoismus, das heißt das nicht gesellschaftlich vermittelte Interesse des einzelnen Subjektes der leitende Maßstab?
Schauen wir uns Kampagnen wie "Du bist Deutschland" an, die den Einzelnen auf das Allgemeinwohl verpflichten wollen. Oder die Menge an ehrenamtlichen Arbeiten und Freiwilligendiensten, ohne die in Deutschland zahlreiche soziale Netze kollabieren würden. Der Umstand, dass wenn mal wieder von der Zunahme von durch Arbeitsbedingungen bedingte Krankheitsfälle berichtet wird, die Sorge um den Wirtschaftsstandort an erster Stelle steht. Die urkapitalistische protestantische Arbeitsmoral, bei der gearbeitet und Gewinn angehäuft werden soll aber nicht für sich selbst, sondern für Gott. Oder die umfangreichen Bestrebungen von Unternehmen, Mitarbeiter*Innen an sich, also an eine übergeordnete Identität, zu binden, sie dazu zu bringen, die eigenen Interessen mit denen des Unternehmens (als eine Form von Gemeinwohl) gleichzusetzen. Das geht sogar soweit, dass man sich hüten sollte, bei Bewerbungen allzu viel von privaten Interessen zu erzählen, denn sonst erweckt man nicht den Eindruck, seine ganzen Energien für die Firma verausgaben zu wollen.

Nation, Gott und Kapital, alle sind unter kapitalistischen Bedingungen stets (und erfolgreich!) bestrebt, das Individuum für ihre Zwecke zu verpflichten. Dessen Egoismus taucht höchstens als Mittel auf, mit dem dies verwirklicht werden kann, indem etwa Prestige oder Lohnanreize Ungleichheitsbedürfnisse befriedigen. Aber es gibt immer wen, der oder die mehr hat, weshalb beides letztendlich wie die Karrotte an der Angelleine vor der Schnauze des Esels baumelt: Als erfüllendes Moment unerreichbar aber gleichzeitig maximale Konformität erzwingend. Das ist schon das ganze Geheimnis des bürgerlichen Glücksversprechens. Selbst die großen Kapitalist*Innen erscheinen eher als tragische Binge-Eater, die scheinbar zwanghaft das Vielfache von dem verdienen müssen, was sie überhaupt zur Steigerung ihrer Lebensqualität aufwenden könnten.

Gleichzeitig ist das negativ bewertete Bild der realsozialistischen Arbeiter*Innen ein vielsagendes Artefakt im Fundus des Antikommunismus: Sie seien undiszipliniert, verschwendeten oder entwendeten Material, machten Pause wann es ihnen passte und so weiter. Mit anderen Worten: Sie sind Egoisten, die nur so viel und auf die Weise arbeiten wollen, wie es ihnen gerade passt. Ein Hassbild für unter kapitalistischen Bedingungen Sozialisierte, die an jeder Ecke Entsagung zum Erreichen des Ziels (welches Ziel?), Selbstdisziplin, Konkurrenzbewusstsein und Verinnerlichung von Produktivitätszwängen eingeimpft bekommen. Der Hass auf Übergewichtige oder auf solche, deren Einkommen (vermeintlich) nicht aus einem produktiven Bereich kommt, oder auf "die Griechen", die sich (ebenso vermeintlich) nicht "unserer" Arbeitsmoral unterwerfen wollen, entspringt ganz ähnlichen Reflexen. Ganz besonders gilt dies für Deutschland, wo es den hartnäckigen Glauben gibt, wenn man nur fleißig und hart Arbeitet, bekomme man schon irgendwann was einem zugestehe, und nur dann stehe einem überhaupt irgendwas zu. Der Kommunismus* jedoch zeichnet sich dadurch aus, dass er die realen Bedürfnisse der Menschen und ihre Erfüllung in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellt; zumindest ist dies der Maßstab, an dem sich jede Bewegung, die sich kommunistisch nennt, messen muss. Er appelliert im besten Sinne an den Egoismus des Individuums, indem er ihm verspricht, nicht den Selbstzweck der Kapitalvermehrung, nicht Gott oder Vaterland hochzuhalten, sondern die Entfaltung und Befriedigung seiner vielfältigen Bedürfnisse. Aber mehr noch: Indem er die Erfüllung von Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt, während er gleichzeitig die kapitalistische Konkurrenz ausschaltet und die Gesellschaft auf eine egalitäre Basis stellt, kann er aufhören, Gemeinwohl und Egoismus als Widersprüche aufzufassen.

*Den ich jedoch nicht einfach mit dem realexistierten Sozialismus in eins setzen möchte. Zumal gerade Leninismus und Stalinismus nicht von kapitalistischer Ideologie unberührt waren.


Samstag, 16. Juni 2012

Der Veganer-Hass

Sie können es einfach nicht lassen, die Essgewohnheiten anderer Leute zu kommentieren. Intolerant sind sie auch noch. Dabei ist ihre Ernährung ungesund und sie sind ohnehin nur darauf aus sich moralisch über andere zu erheben. Unangenehme, selbstgerechte Zeitgenoss*innen, diese... Fleischesser*innen.

Ja, genau, Fleischesser*innen. In diesem Artikel soll es um sie gehen, genauer gesagt, Veganer-bashende Fleischesser*innen und ihr Arschlochverhalten. Mit Fleischesser*innen kenne ich mich übrigens bestens aus, denn ich bin selbst einer. Aber ich bin es satt, dass meine veganen Freund*innen ständig angefeindet, beleidigt oder gemobbt werden.

Es ist regelmäßig das selbe, egal ob wenn ich vegane Freund*innen in der WG zu Besuch habe, bei Familienfesten oder in Foren die ich frequentiere: Sobald es sich irgendwie bemerkbar macht, dass jemand Veganer*in ist, geht es los: Bestenfalls sind es neugierige Kommentare über gesundheitliche oder kulinarische Fragen, schlimmstenfalls (und erstaunlich oft) fangen die ätzenden Kommentare an: Unvermitteltes und ungefraftes Vortragen von abgedroschenen Standardargumenten, Mutmaßungen über den (angeblich mangelhaften) Gesundheitszustand der entsprechenden Person, genauso blöde wie alte Witze oder Beleidigungen. Ein Veganer oder eine Veganerin kann in jedem Fall nicht einfach hingenommen werden.

In Veganer*innen wird dabei in der Regel unglaublich viel hineinprojeziert. Projektion, das bedeutet, dass eigene Befindlichkeiten auf das Gegenüber übertragen werden. Konkret: Ganz egal, wie sich ein Veganer oder eine Veganerin verhält, schon allein dadurch, dass Veganismus eine ethisch höher zu bewertende Ernährungsform als etwa meine Omnivorie ist (und das lässt sich kaum bestreiten), empfinden Omnivore schon die pure Existenz von Veganer*innen oftmals als Angriff auf ihre ethische Integrität. Und zwar unabhängig davon, ob der Veganismus im konkreten Fall überhaupt ethisch intendiert ist oder die entsprechende Person etwas von ethischen Gründen sagt. In dem dieses Gefühl, der moralischen Unterlegenheit oder auch des schlechten Gewissens per Projektion auf die vegane Person übertragen wird, erscheint diese als eine Art Angreifer - völlig unabhängig von ihrem Verhalten. Dies ist übrigens auch wissenschaftlich bestätigt. Die vegane Person muss daher angegriffen werden, ihr Ernährungsstil deligitimiert und das eigene Ego wieder aufgewertet werden. Genau das ist dieses Veganergebashe nämlich: Eine unreflektierte Ego-Reaktion, mit der Personen diszipliniert werden sollen, die in einer bestimmten Hinsicht aus der Norm ausschehren. Es sollte unter der Würde einer denkenden Person sein, ihren Projektionen so unreflektiert nachzugeben.

Dabei können die Veganer-Basher*innen, da es in Argumenten um Veganismus eben selten um Argumente, sondern um die Aufwertung des eigenen Egos zugunsten des Gegenübers geht, kaum verlieren. Alles was als Angriffspunkt dienen könnte, ist dann recht. Ist die vegane Person konsequent in ihrem Veganismus, kann man sie als rigorose*n Asket oder Eiferer abkanzeln. Ist sie es nicht, kann man sie als unglaubwürdig oder bigott kritisieren. Zieht das nicht, kann man immernoch Anekdoten über diesen schrecklich missionarischen und aufdringlichen Veganer erzählen, den man mal getroffen hat, ganz egal ob der jemals tatsächlich existiert hat.

Dabei ist es keine Frage, dass es tatsächlich penetrante oder missionarische Veganer*innen gibt. Denn Veganer*in zu sein, bedeutet weder eine angenehme Person zu sein, noch ein reflektiertes Diskussionverhalten zu haben, ganz genau so wie es bei Fleischesser*innen der Fall ist. Warum sollten Veganer*innen nicht den selben Drang haben, ihre moralische Integrität zu beweisen, wie gefühlt 90 Prozent der Fleischesser*innen angesichts einer veganen Person? Veganismus ist nicht über die Persönlichkeiten der Veganer*innen zu bewerten. Dies doch zu tun ist eine Dreistigkeit, mit der davon abgelenkt wird, dass es praktisch keine moralischen Argumente gibt, mit denen wir Omnivore unseren Ernährungsstil rechtfertigen können. Und Veganer*innen haben genauso viel und genauso wenig ein Recht, sich wie Arschlöcher zu verhalten, wie alle anderen Menschen.

Der Unterschied ist, dass Fleischesser*innen in unserer Gesellschaft nicht stereotypisiert werden: Fleischesser*innen bestimmte Charaktermerkmale zuzuschreiben, wie es bei Veganer*innen geschieht, die dann erstmal beweisen müssen, dass sie nicht dem Negativbild entsprechen, ist unmöglich. Ich habe noch nie einen Fleischesser*innen-Witz gehört. Nicht, dass wir es nicht verdient hätten, dass man über uns Witze macht, verkraften könnten wir es in jedem Fall. Denn wir haben gegenüber Veganer*innen eine ganze Reihe von sozialen Privilegien. Einige Beispiele:

• Unsere Essgewohnheiten werden als Standard vorausgesetzt. Das heißt: Wir bekommen praktisch überall Essen, dass unseren Ansprüchen genügt und das sogar ohne überteuerte Preise in Kauf nehmen zu müssen. Wir müssen uns nicht umständlich informieren oder hungrig bleiben, wenn es keine Lebensmittel ohne tierische Produkte gibt.

• Wir können damit rechnen, dafür nicht schräg angeschaut zu werden, Fleisch zu essen. Und wenn wir uns mal nicht in einem der wenigen veganen Räume aufhalten, werden wir uns kaum jemals dafür rechtfertigen müssen.

• Sollten wir uns doch mal in einem veganen Raum aufhalten, und sollte uns das nicht gefallen, stehen uns abertausende andere Räume offen, in denen wir in unserer Eigenschaft als nicht-Veganer*in voll akzeptiert werden.

• Wir werden nicht auf Grund unserer Ernährungsgewohnheiten angefeindet, weil Andere uns als Gefahr für ihr Ego betrachten. Es gibt keine Witze in denen wir als Fleischesser*innen stereotypisiert werden.

• Wir werden nicht ständig nach den Gesundheitsrisiken unseres Ernährungsstils gefragt, selbst wenn wir uns praktisch nur von Fritten und Schnitzel ernähren.

• Wir müssen kein schlechtes Gewissen haben, dass Freund*innen einen extra-Aufwand auf sich nehmen müssen, um auch uns satt zu kriegen.

Und jetzt zum Schluss nochmal ein paar Vorschläge an meine lieben mit-Fleischesser*innen, die gerne mal Witzchen über Veganer*innen machen, insbesondere wenn dies in Gegenwart von veganen Personen geschieht.

1. Mit ziemlicher Sicherheit, hat die vegane Person deinen Spruch schon gehört, und zwar nicht nur einmal, sondern hundert mal. Du bist höchstwahrscheinlich weder so witzig noch so originell, wie du denkst.
2. Überleg dir, wie angenehm du es fändest, wenn dir aufgrund deines Ernährungsstils häufig negative Eigenschaften zugeschrieben würden und sich ständig jemand bemüßigt fühlen würde, diesen zu kommentieren. 
3. Versuche deine Projektionen und Machtreflexe in den Griff zu kriegen.
4. Sei dir deiner Privilegien bewusst.
5. Sei kein Arschloch.

PS: Dieser Artikel gilt natürlich auch, wenn auch etwas eingeschränkter, für Vegetarier*innen.

PS2: Ich werde kein Veganer*innen-Gebashe oder sonstige unproduktive Ressentiments unter diesem Beitrag dulden.

Samstag, 28. April 2012

Kurz Notiert: Meine Wahrheit, deine Wahrheit...

Es ist eine Binsenweisheit unter irgendwie sich irgendwie als antiautoritär verstehenden Linken, dass es weder Objektivität noch Wahrheit gibt. Diese Erkenntnis ist dabei interessanterweise weitaus stärker verbreitet, als die Fähigkeit zu erklären, was denn „Objektivität“ oder „Wahrheit“ überhaupt sein sollen. Ein ganz schlimmer Tyrann sei, wer für das was er sagt beansprucht, es sei die Wahrheit! So tönt auch der Anarcho-Guru Jörg Bergstedt in einem eher mäßigen Text. Aber tatsächlich sind diese beiden Begriffe mit unzähligen epistemologischen und metaphysischen Problemen behaftet, von denen es mir unwahrscheinlich scheint, dass sie jemals gelöst werden können. Dies sind jedoch, um mit Marx zu sprechen, letztendlich „rein scholastische Fragen“, die um Grunde nur von Problemen sozialer Emanzipation fort führen, sie sind also in diesem Kontext nicht weiter interessant. Gleichwohl möchte ich darauf aufmerksam machen, dass wir nicht auf jede Konzeption der Wahrheit verzichten können und auch nicht darauf verzichten, da unsere Verständigung ansonsten unmöglich wäre: Wenn wir mit Wahrheit schlicht die Eigenschaft eines Sachverhalts verbinden, zutreffend zu sein oder nicht, dann unterstellen wir in einer Diskussion für gewöhnlich, dass es eine solche Wahrheit gibt, genau wie wir unterstellen müssen, dass es den Schlüssel gibt, nach dem wir in unserer Hosentasche kramen. Denn wenn es diesen nicht gäbe, wäre die entsprechende Handlung ganz und gar sinnlos, oder sie wäre eben eine völlig andere Handlung.

So wäre eine Diskussion, in der es nicht von allen Teilnehmenden stillschweigend vorausgesetzt wird, dass es einen Maßstab ihrer Äußerungen gibt, nämlich die Wahrheit, keine Diskussion sondern ein sinnloses nebeneinanderher von Aussagen, die nicht aufeinander bezogen werden können oder etwas ganz anderes, etwa ein Kampf, bloße Ausübung von Macht. Welchen Sinn sollte diskutieren auch haben, wenn es keine Aussicht gibt, dass die Positionen der Diskutierenden im Sinne einer Dialektik auf einer höheren Ebene, also näher an der Wahrheit, zu einer Synthese kommen? Welchen Sinn, sollte es haben, eine herrschaftsfreie Gesellschaft anzustreben, wenn es doch letztendlich keine Verständigung über die Gegenstände der Welt und somit keine Möglichkeit, gewaltfrei zu Übereinkünften zu gelangen, geben kann? Nebenbei: Dass in einer Diskussion Existenz von Wahrheit  vorausgesetzt wird, heißt nicht, dass sie exklusives Eigentum irgend einer an der Diskussion beteiligten Person ist, oder dass Diskussion zwangsläufig zu zur Wahrheit führen muss, genausowenig, um zu meinem vorherigen Bild zurückzukommen, wie ich mir sicher sein kann, dass mein Schlüssel auch da ist, wo ich ihn suche. Oder dass das, was ich für einen Schlüssel halte, auch tatsächlich einer ist, wenn in einer Tasche danach taste. Und selbstverständlich finden tatsächliche Diskussionen in der Regel nicht in herrschaftsfreien Räumen statt und es ist darüber hinaus anzunehmen, dass etwa die Unterschiedlichkeit der sozialen Realitäten auch bedeutet, dass Positionen existieren, die nicht im Hinblick auf eine gemeinsame Wahrheit miteinander vermittelbar sind. Aber: Warum sollte ich überhaupt einer Person zuhören, die nicht einmal selbst davon überzeugt ist, dass das was sie sagt, die Wahrheit ist oder zumindest sein könnte? Warum sollte ich überhaupt etwas sagen wollen, von dem ich nicht nach bestem Gewissen denken kann, dass es die Wahrheit ist?

Die Existenz von „Wahrheit“, also von wahren Aussagen, schlechthin abzustreiten, scheint mir daher schlicht sinnlos und ich denke nicht, dass damit einem emanzipatorischen Ziel gedient ist. Interessant finde ich, dass Behauptungen wie man sie bei Bergstedt an anderer Stelle findet, nämlich dass das was er schreibt, nur „ein Beitrag zur Diskussion“ sei und nicht den Anspruch habe, „Wahrheit“ zu sein, in Verbindung mit der Aussage, dass ein Wahrheitsanspruch ohnehin etwas autoritäres sei, selbst zu einem rhetorischen Machtmittel wird: Beliebige Kritik kann dann abgewiesen werden, etwa indem gefordert wird, Aussagen als „bloße eigene Meinung“ zu relativieren oder Personen, die nicht „bloß Diskutieren“ wollen, als „autoritär“ zu disqualifizieren. Auch kann man wunderbar die ganze Diskussion entgleisen lassen, indem man sie auf das schlüpfrige metaphysische Territorium der Endbegründungen und letzten Wahrheiten verschiebt. So kann ein Anarcho-Guru die Oberhand behalten UND sich gleichzeitig als Maßstab des Antiautoritären inszenieren. So viel zu der Kritik an Wahrheit als Totschlagargument.

Aber abseits von Sprachlogik und Szenedynamik scheint mir noch eine ganz andere Fehleinschätzung hinter solchen Annahmen zu stehen, die ich politisch für relevanter halte: Es gibt ja die Verwerfung „Großer Erzählungen“, also auch umfassenden Theorien mit weitreichendem Erklärungsanspruch, wie etwa des Marxismus, durch postmoderne Theorien. Unabhängig, ob und inwiefern die Theorie von den „Großen Erzählungen“ und ihrer vermeintlichen Gewaltsamkeit jemals richtig war, ist ein dem „Ende der Großen Erzählungen“ entsprechender Mythos, der von der der Unplanbarkeit und Unerkennbarkeit der Gesellschaft sowie von grenzenloser Individualität* erzählt, zentraler Bestandteil der herrschenden neoliberalen Ideologie. Nach dieser gibt es nur Modelle, die sich bewähren und solche, die es nicht tun, aber keine erkennbare Wahrheit. Angesichts der Unergründlichkeit der Welt, ist es das beste, die gesellschaftlichen Kräfte dem freien Spiel des Marktes zu überlassen, der evolutionär zu den besten Modellen führen soll. Das heißt: Die Funktionalität innerhalb der Logik des Kapitalismus, die selber nicht ergründbar oder hinterfragbar ist, wird zum Maßstab aller Dinge, gemanagt durch die technokratischen Experimentatoren der ökonomischen und politischen Eliten. Die prinzipielle Unerkennbarkeit der Welt bedeutet für die Objekte dieser Herrschaft, also auch für mich, dass sie ihre Kritik, wie überhaupt jede Äußerung, als bloße Meinungsäußerung an jeder beliebigen anderen Position zu relativieren haben, das heißt, von vorneweg als irrelevant und folgenlos anerkennen. Alles andere wäre despotisch. Da jedoch das Durcheinander der verschiedenen Meinungen** (die ja auch nicht im Sinne einer Wahrheitssuche und Verständigung aufeinander bezogen werden können, da es hierfür keine Institutionen, Wie es etwa Räte sein könnten, gibt und Wahrheit ohnehin nicht) keine Gesellschaft organisieren kann, braucht es eben die Herrschaft der demokratischen Eliten, die durch den Prozess der Wahl, der die Stimme der Wählenden mitsamt ihren Gründen und Ansichten auf ein bloßes „Ja“ für eine bestimmte Partei reduziert. Mit anderen Worten: Die prinzipielle Absage an eine ergründbare Wahrheit ist mitnichten subversiv oder antiautoritär, sondern Element gegenwärtiger Herrschaftsideologie. Dass es durchaus Berührungspunkte von bestimmten Anarchismen und (Neo)Liberalismus gibt ist schon lange klar. Um dem entgegenzutreten würde ich statt für Erkenntnisskeptizismus eher für den Mut plädieren, sich auf Wahrheitssuche zu begeben, sei es nur um den Bereich, über dass wir tatsächlich Klarheit erlangen können, sowie dessen Grenzen, besser übersehen zu können.

*Das witzige an jeder Individualitäts-Ideogie scheint mir, dass das Individuum die Masse vorraussetzt, so wie die Insel das Meer braucht. Ein unverwechselbares Individuum zu postulieren heißt daher auch, die Masse als das notwendige Andere zu postulieren.

** Ich finde das „staatsbürgerliche Sprechen“ hochinteressant. Ich habe hierzu keine ausgereifte Theorie, aber dieser Modus des Sprechens scheint narzisstische Bedürfnisse zu befriedigen, indem sich die Sprechenden an Stelle des Souveräns vorstellen, während sie doch gleichzeitig in einer passiven Rolle bleiben. Dies befördert die Identifikation mit dem Staat und wird gleichzeitig auch nur durch Identifikation möglich, ähnlich wie sich Fußballfans mit ihren Mannschaften identifizieren. Ich denke, dass (neo)liberale Herrschaft auf diese Form der Identifikation angewiesen ist, da sie einen Eindruck von Partizipation erzeugt, wo keine ist.

Edit: Rechtschreibung und geschlechtergerechte Sprache

Sonntag, 18. Dezember 2011

Gotizismus: eine proto-nationalistische Ideologie und ihr Unleben in der Geschichtswissenschaft

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einer von mir geschriebenen Arbeit zur Frühgeschichte der Goten. Ich habe mich dazu entschieden, ihn hier zu veröffentlichen, da ich es interessant finde, dass dieses Thema bei allen Diskussionen zum Nationalismus in allen Varianten überhaupt nicht behandelt wird. Auch bei der Debatte um eine deutsche Spezifik des Nationalismus könnte das Thema "Gotizismus" eine Rolle spielen. Ich denke, dass er trotz seiner Referenzen auf andere Teile der Arbeit durchaus verständlich ist.

Wissenschaft ist nicht neutral. Sie findet immer vor einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund statt und ist in der Regel auch von Interessen geprägt, die außerhalb ihrer selbst stehen. An dem historischen Diskurs über die Goten zeigt sich dies in besonderer Deutlichkeit. Wenn die Geschichtswissenschaft nicht nur Ideologie reproduzieren will, muss sie die Diskurse, in denen sie sich bewegt, hinterfragen. Der folgende Abschnitt dient diesem Zweck.

Das Ende der Gotenreiche und die Assimilation der gotischen Kultur bedeuteten keineswegs, dass die Goten in Vergessenheit gerieten. Im Gegenteil, gerade ihr Verschwinden beförderte ihren Aufstieg zum Mythos. Noch über tausend Jahre nach Ende des Toledanischen Reichs führten die Goten ein befremdliches Nachleben in der westlichen Kulturgeschichte und Politik. Der Mythos von dem „jungen Volk“ von „Welteroberern“, das das oftmals als „dekadent“ dargestellte römische Reich herausforderte und bezwang, war für die verschiedensten Gruppen attraktiv. Und durch die zahlreichen Wanderschaften der Goten, sowie die Tatsache, dass sie keinen direkten Nachfolger hinterließen, war dieser Mythos besonders anschlussfähig. Dass die tatsächlich häufig von schierer Not getriebenen und oftmals nur durch blankes Glück überlebenden Goten dabei ausschließlich als Projektionsfläche eines gegenwärtigen Bedürfnisses dienten, ist selbstverständlich. Man kann sagen, die „Gotizisten“ unterwarfen die Goten, in Nachfolge Cassiodors, ihrer eigenen „Interpretio“ um sich ihr Prestige anzueignen.(1)

Doch die Goten wurden nicht nur idealisiert, sondern auch als Sinnbild für das Rohe, Unkultivierte und Ungebildete verwendet. So vor allem von den italienischen Humanisten, die den Baustil transalpiner Kirchen und Kathedralen als „gotisch“ abtaten. Die pejorative Bedeutung ging mit der Zeit verloren, doch der entsprechende Baustil wird bis heute als Gotik bezeichnet. Das negative Gotenbild der italienischen Humanisten reizte allerdings deren Gegenüber aus dem deutschsprachigen Raum dazu, sich selbst mit den Goten zu befassen. Diese kehrten die negative Bewertung schließlich ins Positive und machten die Goten zu triumphierenden Erneuerern der zerfallenden römischen Welt. Sich selbst erklärten sie, indem sie die Goten auf der Basis von linguistischen Argumenten zu „Deutschen“ machten, zu deren Nachfahren. Gerade vor dem Hintergrund des Konfliktes um die Reformation konnte diese Projektion wirkmächtig werden.(2) Doch keineswegs blieb es mit dem Gotizismus bei einem Gelehrtendiskurs: So begann die schwedische Monarchie im 15. Jahrhundert damit, sich als Nachfolger der Goten zu betrachten. Dabei nahm sie den von Jordanes überlieferten Mythos der skandinavischen Herkunft der Goten auf. Dieser Mythos war geeignet, der noch jungen schwedischen Monarchie eine bis in biblische Zeiten zurückreichende Geschichte und somit eine ideologische Legitimation zu verleihen. Auch im Nationalismus der schwedischen Romantik spielte der Gotizismus, selber eine Art embryonaler Nationalismus, wieder eine Rolle. Neben einigen spanischen Adeligen, die vielleicht noch mit am meisten Recht auf tatsächliche gotische Vorfahren verweisen konnten, beanspruchten auch die Habsburger die Nachfolge der gotischen Könige. Die Herrschaft der Habsburger in Spanien ließ sich somit quasi als gotische Wiedervereinigung betrachten.(3)

Auch in Polen, Frankreich und im anglo-amerikanischen Raum entwickelten sich Varianten des Gotizismus.(4) Zuletzt entfaltete bei den Nationalsozialisten der Gotizismus sein rassistisches Potential. Wie schon bei den klassischen Gotizisten versicherte man sich, indem man die Geschichte der Goten, ja der Germanen generell, als die eigene beanspruchte, seiner Überlegenheit und verlängerte die eigene Geschichte in eine ferne Vergangenheit. Doch wurde der Gotizismus hier erstmals in eine ausgebildete völkische Ideologie integriert und mit einem umfassenden Anspruch auf „Rückeroberung“ verbunden. Dem nationalsozialistischen Gotizismus verdankt Gdynia seine vorübergehende Bezeichnung als Gotenhafen: Archäologen, von denen viele im Dienst des Faschismus der Wehrmacht nachfolgten, meinten, das Weichselgebiet als einen alten Siedlungsraum der Goten ausgemacht zu haben. Auch die einstmals von Goten besiedelte Krim sollte „wieder“ deutsch besiedelt werden und es gab Pläne, Sewastopol nach einem Ostgotenkönig in Theoderichshafen umzubenennen.(5)

Man kann an all dem deutlich sehen, wie ein bestimmter historischer Diskurs, der sich durch die Geschichte der Neuzeit zieht, die Funktion von Ideologe erfüllt: Er legitimiert Herrschaft sowie Eroberung und stiftet Gruppenidentitäten anhand von Grenzlinien erfundener Verwandtschaft. Gleichzeitig verstellt dieser Diskurs den Blick auf den historischen Gegenstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die deutschsprachige Geschichtswissenschaft freilich auf Distanz gegangen: Die Gleichsetzung von Germanen und Deutschen wurde verworfen und archäologische Materialkulturen nicht mehr einfach mit Ethnien gleich gesetzt.(6) Auch die Vorstellung, dass es sich bei den „Stämmen“ und „Völkern“, von denen die alte Geschichte so viele zu kennen meinte, um homogene Abstammungsgemeinschaften handle, wurde aufgegeben. Stattdessen dominiert eine unter dem Begriff der „Ethnogenese“ bezeichnete Theorie, die biologische oder statische Definitionen von Menschengruppen ablehnt. Sie stellt einen kontinuierlichen Prozess der kollektiven Identitätsbildung in den Vordergrund, bei dem sogenannte „Traditionskerne“, in der Regel ein aristokratisch-dynastisches Element, eine wichtige Rolle einnehmen.(7) Wenn also mit dem Gotizismus, der die Betrachtung der Geschichte der Goten so geprägt hat, in der Nachkriegszeit erfolgreich gebrochen wurde, wozu dann dieser Exkurs? Folgt man Michael Kulikowski, dann habe die Geschichtsschreibung zwar ihre national-chauvinistische Zielsetzung überwunden, Elemente des skizzierten Diskurses wirkten in der Gotenforschung dennoch nach. Dies zeige sich besonders angesichts der Unfähigkeit, den Herkunftsmythos des Jordanes richtig einzuordnen und ihn zu überwinden. Stattdessen werde diesem hartnäckig ein Wahrheitskern unterstellt, obwohl dazu kein stichhaltiger Beweis erbracht werden könne.(8) Somit lässt sich wohl festhalten, dass die Auseinandersetzung mit dem Gotizismus weiterhin eine Voraussetzung für die Beschäftigung mit der gotischen Geschichte ist.(9)

1 Auch für die folgenden Absätze relevant: H. Wolfram, Die Goten, 1990, S. 13-16.

2 Dies geschah im Anschluss an die Tacitus-Rezeption etwa in der Schrift „Exegesis Germaniae“ des Franciscus Irenicus. Motivation auch hier, eine eigene, altehrwürdige Geschichte zu gewinnen. Hierzu: D. Mertens, Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: H. Beck [u.a.] (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“, Berlin 2004, S. 37-102, hier S. 78 ff.

3 K. Neville, Gothicism and Early Modern Historical Ethnography, JHI 70 (2009), S. 213-234.

4 Der anglo-amerikanische Gotizismus sei durch ein Zitat kurz gekennzeichnet: „The Goths, the common ancestors of the inhabitants of North Western Europe, are the noblest branch of the Caucasian race. We are their children. It was the spirit of the Goth, that guided the May-Flower across the trackless ocean; the blood of the Goth, that flowed at Bunker's Hill. Nor were the Goths the savage and destructive devastators, that popular error has made them. They indeed overthrew the dominion of Rome but they renovated her people“. Aus: G. P. Marsh, The Goths in New-England, Middlebury 1813, S. 14

5 M. Kulikowski, 2009, S. 53-55.

6 P. Heather, The Goths, Oxford 1996, S.13 ff.

7 H. Wolfram, Die Goten. 1990, S. 17.

8 Zudem sei die Ethnogenese-Theorie weder so neu, noch so alternativlos, wie sie gerne dargestellt werde. So habe die Überbetonung einer herrschenden Elite als identitätsstiftendes Element durchaus Entsprechungen in der als bewältigt geglaubten älteren Forschung. Auch sei man für die Erklärung von ethnogenetischen Prozessen durchaus nicht auf „Traditionskerne“ angewiesen. Hierzu: M. Kulikowski, 2009, S. 54, 74 f.

9 M. Kulikowski, 2009, S. 54, 58-59.

Sonntag, 24. Juli 2011

Antideutsche Satire oder doch nur deutscher Spaß?

Eben entdeckte ich auf einem Blogsport-Blog, der die „antiimperialistische Linke“ parodieren wollte, ein interessantes Aufklebermotiv. Da der Blog mittlerweile – wahrscheinlich von der Administration - gelöscht wurde, muss ich das Bild beschreiben: Gezeigt wurde eine Frau mit Kopftuch, Hijab und Kajal um die Augen, die irgend ein Ziel seitlich der betrachtenden Person ansah. Darunter ein „Antifaschistische Aktion“ Logo und ein Schriftzug, der sich inhaltlich gegen „Islamophobie“ wandte. Als ich das Bild das erste mal sah, war ich überrascht: Dass eine Muslima, noch dazu eine mit Hijab, auf einem Antifa-Sticker zu sehen ist, ist mehr als untypisch. „Aber warum eigentlich nicht?“, war mein nächster Gedanke. Sind Frauen, die auf diese Weise als Muslimas weithin sichtbar sind, antimuslimischem Rassismus und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft nicht am stärksten ausgeliefert? Warum sollten sie keine Partnerinnen und Mitkämpferinnen im Kampf gegen Rassismus und Faschismus sein? Warum sind eigentlich ansonsten auf Antifa-Stickern in der Regel nur weiße Toughboys und Toughgirls zu sehen? Erst eine Sekunde später bemerkte ich aus dem Kontext: Der Sticker sollte offensichtlich eine Art Satire sein. Um jedoch von sich aus als Satire gelesen zu werden, müssen jedoch eine Reihe von Voraussetzungen und Lesarten bei der betrachten Person gegeben sein:

Das Statement gegen Islamophobie in Zusammenhang mit dem Bild der Frau mit Hijab kann nur als Satire gelesen werden, wenn diese Frau a-priori als Unterdrückte, und nicht einfach nur sexistisch unterdrückte, sondern als vom „Islam“ unterdrückte, gelesen wird. In dieser Lesart ist das Statement gegen „Islamophobie“ kein Statement gegen die Rassifizierung von Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, sondern die Verteidigung von Unterdrückung durch „den Islam“ und somit widersinnig. Wenn man das Antifa-Logo daneben noch als ironisch intendiertes lesen will, kann man nur zur Schlussfolgerung kommen, dass der Kampf gegen Islamophobie wohl ganz und gar kein antifaschistischer, oder vielleicht sogar selbst ein faschistischer sein soll. Dies ist natürlich nur durch die vorher vorgenommene negative Essenzialisierung des Islams als die Verhältnisse determinierenden verselbstständigte Macht möglich, die zum antimuslimischen Rassismus fest dazugehört.

Die GestalterInnen des Aufklebers verraten also durch ihre „Satire“ einiges von sich selbst und ihrem eigenen Rassismus. Dazu gehört auch, dass sie Frauen mit Kopftuch und Hijab offensichtlich völlig selbstverständlich als Opfer, nicht aber als zumindest potenziell selbstbewusstes Subjekt voraussetzen. Dass sich ein Mensch - durchaus auch gegen äußeren Zwang – zum Tragen solcher Kleidung entscheiden kann, ist keine mit dieser Lesart kompatible Vorstellung. Dann wären ja plötzlich Muslimas nicht mehr nur Personen „für die“ man (auf eine paternalistische, ganz im Orientalismus befangene Art und Weise) Politik macht, sondern Personen „mit denen“ man Politik machen könnte! Muslimische Frauen, zumal mit Hijab, können also für die SatirikerInnen offensichtlich keine Partnerinnen in einem gemeinsamen Kampf sein, nicht mal in dem um ihre eigene Emanzipation.

Sie sind höchstens Objekte einer Befreiung von Außen, einer Befreiung die nur über ihre vorherige Rassifizierung möglich ist und in der ihre eigene Perspektive keine Rolle spielt. Dies ist keine Verteidigung von Verschleierungszwängen, im Gegenteil, aber wer die Freiheit von Menschen will, muss sie auch als Subjekte achten. Dieser Aufkleberentwurf ist aber das Gegenteil von Achtung. Er instrumentalisiert muslimische Frauen, behandelt sie als Objekt, wie er sie auch nur im Status von passiven Opfern anerkennen will. Er instrumentalisiert sie gegen die richtige Kritik an dem auch in der deutschen linken grassierenden antimuslimischen Rassismus und für irgendwelche innerlinken Grabenkämpfe.* Alles in allem haben sich hier mal wieder einige der widerlichsten Tendenzen der deutschen Linken manifestiert. Dass diesen in Zukunft nicht kritiklos mehr Raum gegeben wird, ist zu hoffen.

*(Wenn ich richtig gehe in meiner Annahme, dass „Antideutsche“ die Fabrikateure des Aufkleberentwurfs sind. Andere islamophobe bemühen sich normalerweise nicht herauszustellen, dass sie "Antiimperialistische Linke" und nicht Linke generell im Visier haben.)