Back to the Walter Benjamin Research Syndicate Homepage

 

Ceci n'est pas une pipe à opium

Wie Kommissar Maigret:

Walter Benjamins Experimente [1]

 

Von Lorenz Jäger*

<l.jaeger@faz.de>

 

 

[* Lorenz Jäger, editor at the Frankfurter Allgemeine Zeitung is the author of Adorno: A Political Biography (2004)]


Anfang 1925 schließt Walter Benjamin die Reinschrift der geplanten Habilitationsarbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels ab. Noch während er auf die Stellungnahme der Frankfurter Fakultät wartet, entwickelt er seinen Freunden einen neuen Plan: ,,Ich habe eine Anthologie von Sagen, deutschen Sagen im Sinne'', schreibt er an Gershom Scholem. Vorgesehen war der Verlag der Bremer Presse, in dem die Kulturpolitik der ,,schöpferischen Restauration'' sich mit Anthologien von Hofmannsthal und Borchardt ein Forum geschaffen hatten. Der Stil der Sage, heißt es in einem Brief an Hofmannsthal, sei ein ,,höchstes und viel zu wenig geschätztes Besitztum der deutschen Sprache''.

Sechs Jahre später erschienen, von Benamin ausgewählt und kommentiert, in der Frankfurter Zeitung die Briefe, die später unter dem Titel Deutsche Menschen in der Schweiz als Buch publiziert wurden. Die emphatische Verwendung des Wortes ,,deutsch'' in Benjamins Schriften versteht sich vor dem Hintergrund seiner Briefe der Jahre 1925 bis 1934 nicht als Behauptung eines unveränderlichen Wesens, sondern als Frage nach der allernächsten Zukunft. Am 19. April 1933 schreibt er aus Ibiza an Gershom Scholem: ,,Gedanken über die Rückwirkung der deutschen Vorfälle auf die kommende Geschichte der Juden suchte ich mir auch zu machen. Mit sehr geringem Erfolg. Auf alle Fälle steht die Judenemanzipation in neuem Lichte da.'' Und der letzte Brief des Jahres 1934 deutet an, daß auf Solidarität nur bei Minderheiten zu rechnen sei: ,,Ich weiß nicht,'' schreibt Benjamin an den Kunsthistoriker Carl Linfert, ,,ob Ihnen, dem Namen nach, mein verstorbner Freund Florens Christian Rang bekannt ist. Er war ein Mann vom Schlage der großen deutschen Sektenlehrer.''

Gab der zweite Band von Benjamins Briefen Einblick in den Freundeskreis um die geplante Zeitschrift Angelus Novus, so steht hier die Gruppe im Vordergrund, die Ende der zwanziger Jahre das Feuilleton der Frankfurter Zeitung modernisiert: Bloch, Adorno und vor allem Siegfried Kracauer, der als Redakteur festangestellt war. Die Gruppe traf sich im Zeichen der neueren französischen Literatur: Proust, von Benjamin und Franz Hessel übersetzt, Julien Green und der Surrealismus waren die Bezugspunkt; in der deutschen Literatur vor allem das Werk Franz Kafkas. Neue Prosaformen des ,,Denkbildes'' wurden im Feuilleton durchgespielt. Durch Adorno ergaben sich Berührungen mit der neuen Musik.

Aber auch der Zerfall der Gruppe ist an den Briefen ablesbar: Die chronische Reizbarkeit gegenüber Ernst Bloch; die Erschöpfung der Gemeinsamkeiten mit Kracauer. Relative Kontinuität herrscht nur in der Beziehung zu Adorno. Daß die Freundschaft der beiden Philosophen stabil blieb, mag das Verdienst der jungen Unternehmerin Gretel Karplus gewesen sein. Die Briefe an sie, die später Adorno heiratete, gehören zum substantiell neuen Bestand dieser Bände; Benjamins meisterhafte Beherrschung der Blumensprache ist hier zu studieren. Sie umschreibt die Tatsache der ökonomischen Abhängigkeit. Schon vor 1933 begannen die Rezensionsaufträge für Benjamin zurückzugehen. Wenn er im Mai 1934 vom ,,rosa Grund'' der Pfingstblumen spricht, so meint er, wie der auch dismal wieder vorzügliche Kommentar vermerkt, ,,eine der zahlreichen Geldüberweisungen'', mit denen Gretel Karplus ihn unterstützte.

Das Jahr 1932 bedeutete für Benjamin bereits die Vorbereitung der Emigration. Von April bis November hielt er sich im Ausland auf, zunächst auf Ibiza. Das ,,Gebot der Vernunft, die Eröffnungsfeierlichkeiten des Dritten Reichs durch Abwesenheit zu ehren'' (an Scholem, 10. Mai 1932), warf seine Schatten voraus. Noch war nichts entschieden, aber die Verhältnisse begannen zwielichtig zu werden. Benjamins nächster Freund war in diesen Monaten der Franzose Jean Selz. Beide trafen sich ihrer Schätzung Odilon Redons, des Malers der Zwischenexistenzen, dessen Kunst wie ein Symbol dieses Jahres war. Selz übersetzte Stücke aus der im Entstehen begriffenen Berliner Kindheit; gemeinsam rauchte man gelegentlich Opium. An den inzwischen nach Mallorca abgereisten Selz meldet Benjamin Ende September 1932, mit einem ,,monsieur Verspohl'' so erfährt man aus dem Kommentar, haben sich drei Briefe an Benjamin von Ende 1933 und Anfang 1934 erhalten. Den eigentlichen Schock bekommt der Leser erst, wenn er ein paar Zeilen weiter erfährt, daß Verspohl zu ebenjener Zeit SS-Scharführer wurde.

1932 war noch nichts entschieden, aber immer weniger wußte man, mit wem man es eigentlich zu tun hatte. In dieser Zeit entdeckte Benjamin die Kriminalromane Georges Simenons und die Spionagegeschichten Somerset Maughams. Man kann die graphologischen Neigungen belächeln, die auch in diesen Briefen wieder zu Thema werden ­- das Buch von Anja Mendelssohn Der Mensch in der Handschrift erhält höchstes Lob, mit dem intuitive-hellseherischen Graphologen Rafael Schermann trifft sich Benjamin ­-, die esoterische und geheimnisversponnene Atmosphäre aber, die er zeitlebens um sich zu schaffen wußte, erscheint plötzlich als adequate Reaktion auf den objektiven historischen Zwischenmoment. Auf kaum etwas war Benjamin als Philosoph so vorbereitet wie auf die Zweideutigkeiten, die nun manifest wurden. Bereits zu Anfang der zwanziger Jahre hatte er eine Arbeit über die Lüge geplant. 1932 entsteht auf Ibiza die Kurzgeschichte ,,Die Pfeife'', die ein winziges Experiment mit einer Lüge schildert. Und in einer Notiz über Johann Peter Hebel, die er im Sommer 1933 wieder auf Ibiza niederschreibt, spricht er von den ,,Tagen, in denen mehr zu einer kurzen Kameradschaft gehört als früher zu lebenslangen Freundschaften, in denen das Mißtrauen eine notwendige und Verläßlichkeit die höchste Tugend geworden ist.''

Und noch einer wird von Benjamin als Rätselfigur ins Auge gefaßt: der ,,Mann in der Menge'', den Edgar Allan Poe zuerst als Typus der Moderne entdeckt hatte, der Passant. Im Zeitalter der Massenaufmärsche und der Straßenschlachten war es ein Lebensinteresse zu erfahren, wer der Mann in der Menge denn sei. Benjamin began Ende der zwanziger Jahre die Passagenarbeit um das klassiche Terrain des Passanten zu erkunden. Und auch hier der gleiche Befund: Die ,,Zweideutigkeit der Passagen'' halt eine erste Notiz noch in leichtem Ton fest. Wenn Benjamin dann das ,,zweideutige Zwinkern von Nirvana herüber'' beschwört, das den undeutlichen und vieldeutigen Räumen eigen sei, dann denkt der Leser dieser Briefe nicht ohne Beklommenheit an die hier gedruckten Abschiedsbriefe, die Benjamin im Sommer 1932, als er seinen Selbstmord plante, für mehrere Freunde abfaßte.

Unter den bislang unbekannten Briefen ist ein kürzerer vom Juli 1929 zu erwähnen, in dem Benjamin Karl Wolfskehl für den Essay ,,Lebensluft'' dankt. Wolfskehl hatte hier eine Definition des Begriffs ,,Aura'' versucht: ,,Jedes stoffliche Gebilde strahlt sie aus, hat gewissermaßen seine eigene nur ihm zugehörige Atmosphäre.'' Wolfskehl glaubte, in der Aura einen kulturdiagnostischen Indikator zu besitzen, mit dem man sich auf feine atmosphärische Veränderungen einzustellen vermag: Sie sei ,,das gewisseste und feinste Kompaßinstrument, in stetem Erzittern, und bei Lebendigem wie bei Leblosem auch ein Vorzeichen der Wandlung, lange bevor an ,eigentlich' Stofflichem sich irgendwelche Umlagerung, Umbildung ­- zu welchem Ziele auch immer erkennen läßt''.

Benjamins Brief und seine Lektüre von Wolfskehls Essay fallen in eine Zeit, der er seinerseits begann, mit dem Begriff der Aura zu operieren. Seine Umschreibungen lassen an eine schützende Hülle denken, die ein Wesen umgibt: von einer ,,ornamentalen Umzirkung'' ist einmal die Rede, ,,in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt''. Der Aufsatz über ,,Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit'' spricht von einer ,,Hülle'', aus der der Gegenstand in der Moderne ,,entschält'' werde, um die Qualität eines ,,Geschosses'' anzunehmen.

Die Briefe lassen nun erstmals erkennen, welche Lebenserfahrungen in die Formulierung dieser Theorie eingingen. Benjamin began die Arbeit an der Berliner Kindheit, als ihm klar wurde, daß er Deutschland verlassen mußte. Was war es denn, das ihm in der Gegenwart von 1932 bis 1934 als das aufällig andere der Zeit um 1900 erschien? Vor allem die Vielfalt der Schutzvorrichtungen, Hüllen und Schonbezüge, die das Leben damals konserviert hatten, das ,,unvordenkliche Gefühl von bürgerlicher Sicherheit''. Eine Summa der Schutzräume beschreibt die Berliner Kindheit, und deren äußersten Ring bildete das Stadtviertel, das ,,Quartier der Besitzenden'', das zugleich ein Ghetto war. Aber schon als eine Einbrecherbande ins Haus drang, konnte der Schutzraum sein Versprechen nicht halten. Und ohne erkennbare Regung wird eine frühe Begegnung mit dem Antisemitismus beschreiben: Mehr als das bloße Faktum, daß Benjamin den Roman Soll und Haben von Gustav Freytag las, erfährt der Leser nicht.

Was die Berliner Kindheit darstellt, ist die im wilhelminischen Deutschland mindestens rechtlich geschützte Sphäre des jüdischen Lebens, gespiegelt in der Erfahrung eines bürgerlichen Kindes. Das Buch handelt von der Sozialisation in geschützten Räumen genau in dem Moment, als ihr Versprechen durch die politische Wirklichkeit dementiert und die Sphäre der Vernichtung erahnbar wurde. Benjamins hochkomplizierte Theorien der dreißiger Jahre beschreiben den schlichten Sachverhalt, wie ein Wesen seiner ,,Hülle'' verlustig geht und in den Bezirk der Verletzbarkeit, der äußersten Schutzlosigkeit eintreten kann.

 

 

 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Band III: 1925-1930. Band IV: 1931-1934. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997 und 1998. 594 und 593 S.

__________________________

[1] Lorenz Jäger, "Ceci n'est pas une pipe à opium: Wie Kommissar Maigret: Walter Benjamin Experimente," Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 1998, Nr. 231, Seite L 43. [Reprinted with Very Kind Permission from the Author]


 

 Return to the top of the page