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Getty-Twins

"Es kann nicht sein, dass du einfach verlöschst"

Jutta Winkelmann und Gisela Getty sind Deutschlands berühmteste Hippie-Zwillinge. Sie teilten Männer, Drogen, Freiheit. Jetzt hat Jutta Krebs. Ein Gespräch über Leben, Tod und den Sinn von allem. Von

Die Kunst, mit der Krankheit zu leben
Foto: Robert Freeman aus "The Twins"

Mit zwanzig zogen sie aus, um als Hippie-Engel Liebe in die Welt zu bringen: die zwei Schwestern Jutta Winkelmann (r.) und Gisela Getty aus Kassel. Das Foto aus dem Buch "The Twins" von Robert Freeman zeigt sie in Rom.

Foto: © Jutta Winkelmann

Jetzt ist Jutta Winkelmann an Krebs erkrankt. Vor zwölf Jahren hatte sie Brustkrebs, sie glaubte sich geheilt, aber der Krebs wuchs weiter. Mit ihrer Erkrankung geht sie offensiv um: ihren Kampf, ihre Ängste dokumentiert sie in der Form eines Comics, den sie mit ihrem iPhone erzählt. Dieser Ausschnitt daraus zeigt den Moment der Diagnose.

Foto: © Jutta Winkelmann

Zwei Monate lag Jutta Winkelmann im Krankenhaus Großhadern, wo sie Bestrahlungen bekam. Ihren Klinik-Aufenthalt hat sie in ihrem Erwachsenen-Comic dokumentiert. Dieses Bild zeigt Jutta Winkelmann (rechts) mit ihrer Zwillingsschwester Gisela Getty im Klinikgarten.

Foto: action press

Jutta Winkelmann (rechts) bloggt auf merahshiva.com. Das Foto zeigt sie mit ihrer Zwillingsschwester Gisela.

Der Weg zu Jutta Winkelmann ist kein ganz leichter. Irgendwo in München-Schwabing zweigt von einer Straße eine Gasse ab: Ein Wohnblock baut sich auf. Wo lebt sie nun? Zehn Uhr früh an einem sehr heißen Dienstag im August. Man trifft sich mit einer Frau, die man schon eine Weile kennt: von verschiedenen Begegnungen und lustigen Abenden, geprägt von ihrer Fröhlichkeit und inspirierenden Gesprächen. Nun ist sie krank. Jutta Winkelmann hat Krebs, und sie möchte darüber sprechen.

Eine Tür im zweiten Stock, sie macht sie selber auf – blond, mit einem warmen Lächeln in einem auffallend jungen Gesicht. Schmal ist sie, sehr schmal in einem langen Batikrock und einer Leinenbluse, die zu groß über ihre Schultern fällt. "Hallo", sagt sie, "schön, dass Sie da sind." Innen betritt man ihre Welt, in der nichts Überflüssiges ist: heller Teppich, weiße Vorhänge, die Wände sind weiß gekalkt. In der offenen Küche dampft grüner Tee in einer Kanne, auf einem Holztisch steht ein Laptop; statt eines Sofas eine Art Kissenlager auf dem Boden. Jetzt fällt auf, es hängen kaum Bilder an den Wänden. Keine Bücher, keine Musik. Wenig Farben außer: Weiß, Haut und Haaren. Da flitzt die 30-jährige Tochter Karline in Hotpants und T-Shirt durch die Kulisse. Sie ist aus Berlin zu Besuch gekommen – und sucht ein Bügeleisen. Es wird ihr gebracht von einer Frau, die der Mutter verblüffend ähnlich sieht: Zwillingsschwester Gisela.

Jutta Winkelmann ist die eine der weltberühmten "Getty Twins": zwei schöne Schwestern aus Kassel, die mit zwanzig auszogen, um als Hippie-Engel Liebe in die Welt zu bringen, zunächst in Rom und dann in einem Leben ohne Grenzen. Einige Jahre später teilte sich ihr Weg: Jutta ging zurück nach Deutschland, um in München in Rainer Langhans' angeblichem Harem zu leben. Gisela heiratete den Enkel des reichsten Mannes der Welt: John Paul Getty III., rothaarig, sommersprossig und vor allem bekannt für sein tatsächlich ausschweifendes Leben. Während Jutta mit dem "Kommune 1"-Gründer und stets weiß gekleideten Prediger Langhans bis heute befreundet bleibt, erlebt die Schwester mit ihrem Mann eine Tragödie: Paul Getty war 17, als er vor vierzig Jahren von der kalabrischen Mafia entführt wurde. Weil sein geiziger Großvater, der Öl-Tycoon Jean Paul Getty, sich weigerte, das Lösegeld über anfangs 17 Millionen Dollar zu zahlen, schnitten die Erpresser ihrer Geisel ein Ohr ab. Fünf Monate Todesangst, dann kam Paul für 2,8 Millionen frei (14,2 Millionen gespart). Nach einem Gehirnschlag 1981 war er bis zu seinem Tod 2011 an den Rollstuhl gefesselt. Er wurde nur 54 Jahre alt. Angesichts eines solchen Schicksals schien es lange so, als ob Jutta diejenige der beiden Schwestern war, die das glücklichere Leben hatte. Und dann sitzt man plötzlich auf dem Fußboden ihrer Schwabinger Wohnung und stellt sich die Frage: Wie fängt man an?

Welt am Sonntag: Wie geht es Ihnen, Frau Winkelmann?

Jutta Winkelmann: Die Hitze draußen macht mir zu schaffen, ansonsten geht es mir heute ganz gut. Ich bin um neun Uhr aufgestanden, hab ein paar E-Mails geschrieben, hab mir etwas Bequemes angezogen. Ganz wichtig: am Morgen ein großes Glas Wasser mit viel frischer Zitrone, eine Stunde später frisch gepressten Gemüsesaft – das braucht mein Körper gerade nach der Therapie. Alles kostet noch Kraft und dauert irgendwie ewig: Zahnpasta aus der Tube drücken, den Kamm durch die Haare ziehen. Trotzdem, es ist der erste ganz gute Tag seit meiner Krankenhausentlassung vor zwei Wochen.

Welt am Sonntag: Wie läuft ein schlechter Tag?

Winkelmann: Ich nenne den Krebs die Bestie, sie reißt mich Feuer spuckend aus dem Schlaf. Es brennt vom Halswirbel über den ganzen Rücken. Ich liege da, kann nicht schlucken, kann mich kaum bewegen, aber vielleicht schaffe ich es, gleich meine Beine über den Bettrand zu legen. Der Körper, der zu mir gehört, liegt zwar braun, aber unglaublich dünn auf dem Laken. 42 Kilo. Mir ist klar, ich muss essen. Ich kaue geduldig auf der Pappe, es schmeckt alles gleich schlecht. Ich brauche es so sehr, aber die Bestie spuckt es wieder aus. Es ist so. Ich bin ziemlich krank. Ich habe Knochenkrebs. Meine halbe Wirbelsäule ist zerfressen, und im Becken wuchert ein ganzer Herd.

Welt am Sonntag: Sagt man "ziemlich krank", um das Wort "todkrank" zu vermeiden?

Winkelmann: Ich weiß, gesunde Menschen wollen sensibel sein und sind in Wahrheit die Befangenen. Mir hilft mittlerweile die Klarheit: Es ist sehr offen bei mir. Ich kann Ihnen ja mal ein bisschen was vorlesen: Multifokale Metastasierung … Beteiligung des Beckenskeletts ... deutlicher Progress mit neu aufgetretenen Metastasen in der HWS – HWK2, HWK4, HWK5, in der Schädelkalotte, im unteren Schambeinast sowie im Bereich des Rippenthorax. Übersetzt heißt das, der Krebs frisst mich auf. Ich nehme jetzt zwar auch Antihormone und Bisphosphonate, diese schulischen Sachen. Aber ich weiß, dass ich sterben kann. Nur mein Arzt, der ist optimistisch, der sagt, das kriegen wir hin. Noch eine Weile.

Welt am Sonntag: Sie sprechen nicht nur schonungslos über Ihre Krankheit, Sie zeigen sie auch genauso – und das in der Form eines Comics, den Sie veröffentlichen wollen. Die Hauptfigur darin sind Sie. Es ist Ihr Körper, Ihre ganz persönliche Geschichte, die Sie da mit Ihrem iPhone erzählen. Warum tun Sie das?

Winkelmann: Fotografiert habe ich schon immer gern, geschrieben auch. Ich mache ja auch einen Blog, eine Art öffentliches Tagebuch. Anfang des Jahres war ich für zwei Monate in Indien. Als ich zurückkam, dachte ich, was mach ich nur mit all den schönen Fotos? Graphic Novel sieht man heute überall in den Magazinen. Ich mag die Energie dieser Erzählform, selbst wenn es um schwierige Themen geht, der Comic bricht es auf. Es ist ja ein Erwachsenen-Comic bei mir, es geht um ältere Menschen, um Ängste, Tod, aber auch um Liebe und Kraft und Sinnsuche. Warum ich das mache? Wahrscheinlich auch, weil ich schon wieder auf der Suche nach mir selbst bin, mehr denn je. Als Zwilling bist du als Mensch immer zwei. Auch wenn du den anderen Teil liebst, letztlich suchst du immer deine eigene Identität. Jetzt bin ich zum ersten Mal allein auf diesem Weg. Ich fand es an der Zeit, einmal nur von mir zu erzählen. Es geht hier um mich, zum ersten Mal in meinem Leben.

Welt am Sonntag: Sie fotografieren sich also selbst und bearbeiten die Fotos dann am Computer. Schauen wir uns ein paar an: Auf einem Bild zum Beispiel sieht man Sie und Ihre Schwester. Drüber steht: "Wham!", "Wir!"

Winkelmann: Ja, Gisela, mein Sonnenkind. Große, schöne Schwester. Sie ist da, immer da für mich. Ich weiß oft nicht, wie ich ihr überhaupt danken kann.

Welt am Sonntag: Ein anderes zeigt Sie mit Rainer Langhans, Kopf an Kopf auf einem Kissen liegend.

Winkelmann: Ich mag das Vertraute dieses Moments. Hingabe, Weichheit, Wärme. Ich hatte Schmerzen, mir ging es total dreckig, Übelkeit von den Medikamenten. Der Rachen brannte, als würde ein rostiger Schraubenzieher in meinem Hals rumstochern. Ich musste plötzlich heulen. Rainer hat sich zu mir aufs Bett gelegt und mich in den Arm genommen. Neben mir lag das iPad, da hab ich schnell Fotos gemacht.

Welt am Sonntag: Warum tragen Sie auf einem Bild da diese Maske?

Winkelmann: Das war im Klinikum Großhadern, wo ich jetzt für zwei Monate lag, um meine Photonenbestrahlungen zu bekommen. Insgesamt so vierzig Mal. Auf dem Foto liege ich unter dieser Bestrahlungskanone, die sich dann summend um deinen Körper dreht. Dabei trägt man diese Kunststoffmaske, sie ist ganz hart. Du bist wie eingegossen darin, Kopf und der halbe Oberkörper, damit du absolut fest und ruhig liegst und jeder Punkt mikroskopisch präzise getroffen werden kann.

Welt am Sonntag: Ein weltberühmtes Marlene-Dietrich-Zitat lautete: "Ich bin zu Tode fotografiert worden." Die Filmgöttin war etwa 80 Jahre alt, als sie erklärte, es werde künftig kein Foto mehr von ihr geben. Sie zeigen sich, noch dazu in den intimsten Situationen einer Krankheit. Gibt es eine Grenze für Sie?

Winkelmann: Es gibt keine Grenzen für mich, und die, die es gab, waren da, um sie zu brechen. June Newton hat ihren komatoten Helmut fotografiert, mit Schläuchen im ganzen Körper, die letzten Sekunden. Annie Leibovitz dokumentierte den Krebstod ihrer Freundin Susan Sontag. Gisela und ich haben uns mit zwanzig als barbusige "Twins" gezeigt, jetzt auch meinen müden Körper zu fotografieren erscheint mir konsequent. Es hilft mir auch, den Schmerz zu verarbeiten.

Welt am Sonntag: Wann haben Sie von der Diagnose erfahren?

Winkelmann: Das war im April. Ich saß an dem kleinen Holztisch dort drüben, vor meinem Ingwertee, als mein Handy klingelte. Ich dachte, ist sicher Gisela, vielleicht meine Tochter – aber doch kein Arzt! Mir ging es ja prima. Ich war noch total erfüllt von meiner Indienreise zusammen mit Rainer, die auch als Pilgerreise für meine Gesundung gedacht war. Dass ich in Kovalam einmal nach dem Schwimmen über Rückenschmerzen geklagt hatte, hatte ich längst vergessen. Die Wellen waren sehr stark. Nach meiner Rückkehr war ich eher rein prophylaktisch zum Arzt gegangen. Dann kam der Anruf: "Frau Winkelmann, ich muss Ihnen leider sagen: Die Bandscheibe ist es nicht. Sie haben ja eine Vorgeschichte, wie wir jetzt in Ihrer Krankenakte gesehen haben …"

Welt am Sonntag: Sie hatten vor zwölf Jahren Brustkrebs.

Winkelmann: Rainer war es, der es am See mal beiläufig erwähnte: "Jutta, du hast da was, lass das doch mal untersuchen." Meine rechte Brustwarze war leicht eingedrückt, sie hing etwas, das war alles, was mir an mir auffiel. Na und, habe ich mir nur gedacht, ich war fast wütend auf Rainer, der soll sich mal selbst angucken. Bin halt nicht mehr zwanzig. Außerdem hatte ich zwei Kinder gestillt, jedes eineinhalb Jahre. Wer lange stillt, schützt sich vor Krebs, hieß es früher. Seit zwölf Jahren trage ich rechts nun eine große Narbe. Aber ich galt als geheilt, ohne Chemotherapie. Die Bluttests waren gut, ich hatte gesund gelebt, viel vegane Rohkost, keinen Zucker.

Welt am Sonntag: Und dann kehrte die Krankheit zurück.

Winkelmann: Im Januar 2012 stach auf der Straße plötzlich ein Schmerz durch meinen unteren Rücken. Ich bin zum Arzt gekrochen, hab mich gekrümmt an den Zäunen festgehalten. Ein Orthopäde hat mich eingerenkt, mir liefen die Tränen, so sehr tat es weh. Spritze – dann wollte er mich wieder heimschicken. Erst als ich sagte, das ist ja schmerzhafter als meine Krebs-OP damals – da wurde der Doktor hellhörig. Nie hatte ein Arzt je wieder in meine Krankenakte geschaut. Und so wusste keiner, dass der Krebs über all die Jahre heimlich gewachsen war. Das Heikle bei mir ist, dass zwei fünf Zentimeter große Metastasen direkt an meinem Hauptnerv sitzen. Wenn der Krebs nur einen halben Millimeter wächst, schädigt er das Rückenmark, und ich bin gelähmt. Das würde dann schon das Ende bedeuten. Ein schneller Tod – möglicherweise. Hoffentlich.

Welt am Sonntag: Hier bei Ihnen klingelt es immerzu – an Ihrer Tür, Ihr Telefon. Ihre Wohnung ist gefüllt mit Leben: Ihre Tochter Karline ist da, eifrig am dampfenden Bügelbrett, Ihre Schwester Gisela mit den Kindern.

Winkelmann: Oh, ja, ich bin nicht allein. Das muss jetzt auch mal gesagt werden: Ich bekomme viel Liebe, eigentlich könnte ich in Liebe baden. Manchmal sitzen wir alle zusammen in meinem Bett. Karline bekocht mich, mein Sohn Severin mit seiner jungen, indischen Frau bringt mir immer neue Filme. Rainer besucht mich und ist bei mir mit seiner Weisheit und Geduld. Mails, Blumen, Postings, es passiert auch viel Schönes. Neulich kam Helge, der tut mir immer gut. Er beherrscht die Kunst, nicht vor dem Schweigen zu fliehen.

Welt am Sonntag: Helge Schneider, meinen Sie, den Komiker? Der macht doch immer nur Witze.

Winkelmann: Gar nicht. Viele Menschen sind an Schicksalen interessiert, weil sie davon auch ableiten, wie es ihnen geht. Helge kann schweigen, er hat die Geduld dazu, er hält das aus. Händehalten. Stille. Dann ist jeder auf seinem Flug, bei sich. Das kann ich im Moment am besten ertragen. Neulich tauchte das mitfühlende Gesicht einer Freundin auf, der habe ich gesagt, sie kann das Ach-Juttchen-Getue lassen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn jetzt Leute so betont nett mit mir sind. Ja, ich bin umgeben vom Leben. Sie besuchen dich, danach geht für sie das Leben lustig weiter. Nur – für dich nicht.

Welt am Sonntag: Christoph Schlingensief, der nie geraucht hat, erkrankte mit 47 an Lungenkrebs und protokollierte die Krankheit in einem Tagebuch. Man liest darin Sätze wie: "Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken."

Winkelmann: Ich kenne das, das Ich ist eine große Last. Das merkt man vor allem nachts, wenn es still um einen wird und man nicht einschlafen kann. Du liegst da und begreifst auf einmal: Du liebst das Leben! Und du fühlst dich plötzlich unendlich allein. Als würdest du auf einem Boot sitzen, das immer weiter abtreibt vom Land aufs Meer hinaus, weg von allem, was zu dir gehört und du so liebst. Du rufst und schreist und winkst verzweifelt, aber keiner hört dich.

Welt am Sonntag: Was sehen Sie da vom Boot aus? Was ist Ihr Leben?

Winkelmann: Meine Kinder, mit denen ich gelacht und gestritten habe. Meine Arbeit, Freunde, Feste, auf denen ich getanzt habe. Sonnenaufgänge, Schwimmen in eiskalten Gebirgsseen. Das ganze Wundertütenleben, auch mit seinen Chancen, zu wachsen, ein Teil von etwas Bedeutendem zu werden, etwas aufzubauen. Wir lieben ja das Leben, wir hängen an ihm.

Welt am Sonntag: Wir sind dieses Leben. Es gibt nichts anderes – oder?

Winkelmann: Es gibt gutes und es gibt schlechtes Leben. Was ich meine, ist, dass du auf einmal das Leben in seiner ganzen Großartigkeit begreifst, auch wenn wir uns dauernd beklagen. Und daraus wuchs eine unglaubliche Panik. Das war nach meiner Operation. Ich bekam Zement in einen Wirbel, zwei Wochen ging es mir so schlecht. Ich dachte, das war es jetzt. Ich bin immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt, schweißgebadet, verzweifelt, empört, hilflos vor dieser einen existenziellen Kränkung: Es kann nicht sein, dass du einfach hier jetzt so verlöschst.

Welt am Sonntag: War das die Angst?

Winkelmann: Ich hatte zwei Wochen Todesangst: Heulen, Zittern, Zähneklappern. Im Krankenhaus brach alles raus aus mir, der ganze Gestank dieser Scheißangst und kümmerlichen Hilflosigkeit. Alles kam hoch, weil mein Geist so klar war, der Körper aber so reduziert.

Welt am Sonntag: Wohin will die Angst einen treiben?

Winkelmann: Ich wollte gut alt werden, mit einem geistigen Reifungsprozess. Wollte wenigstens das Gefühl, alles von mir gegeben zu haben – und jetzt so einfach aus dem Spiel genommen zu werden, alles zurücklassen zu müssen und nicht zu wissen, wie ist es eigentlich mit dem Sterben? Hilft dir jemand dabei? Wie elend wird das alles noch? Was, wenn der Tod kommt, holt er dich vorsichtig, oder ist das brutal, gemein? Und was kommt danach: Gibt es so etwas wie Seele, gibt es das wirklich? Du verzweifelst an der Vorstellung, dass sich alles im Nichts auflösen soll, die Kontinuität und die Kontrolle zu verlieren. Das hat mir unglaubliche Angst gemacht. Ich hatte Losergefühle – alle sind gesund und rennen rum, nur ich versage hier. Es war ein Protest durch alle Seelenzimmer, von Ohnmacht bis Optimismus, wahnsinniger Wut bis Weltuntergang. Wirklich der tiefste Punkt meines Lebens.

Welt am Sonntag: Was hat Ihnen geholfen in diesen Momenten?

Winkelmann: Ich hatte eine Psychoonkologin. Sie war wunderbar. "Wenn die Angst kommt", hat sie zu mir gesagt, "da gibt es noch etwas anderes in Ihnen. Sie können die Angst auch ein Stück vor sich stellen." Sprechen hilft, es ist ungeheuer wichtig! Und doch: Angst bleibt Angst. Sowieso, der Mensch besteht zu 50 Prozent aus Angst, nicht alle, aber die meisten, würde ich sagen. Angst ist unser bester Feind. Ich hatte immer Angst – vor Enttäuschung, vor Ablehnung, die Angst, nicht zu genügen, zu versagen. Dabei fehlte mir oft einfach nur der Mut, auszusprechen, was ich wirklich fühle oder denke.

Welt am Sonntag: Was, wenn Sie es jetzt sagen?

Winkelmann: Ich habe nie zu einem Menschen gesagt, dass ich ihn liebe. Ich habe es gesagt, aber ich glaube, es war nie wahr. Entschuldigung, ich merke gerade, ich muss jetzt weinen … Ich glaube wirklich, ich habe es noch nie so empfunden und noch nie so gesagt. Ich hab's nicht gesagt, nein.

Welt am Sonntag: Aber warum?

Winkelmann: Ich habe immer gedacht, es stimmt nicht. Es gab schon Situationen, und dann habe ich mich gefragt: Kannst du es von Herzen sagen? Nein, ging nicht, ich konnte nicht lügen. Ich dachte, wenn ich es sage, springt eine hässliche Kröte aus meinem Mund.

Welt am Sonntag: Dann haben Sie nie geliebt, die große Liebe ist Ihnen nie begegnet?

Winkelmann: Die große Liebe ist die Ausrede der Mauerblümchen, hat mein Vater immer gesagt.

Welt am Sonntag: Das war doch Ihre Mission: Als Hippie-Zwillinge die Liebe in die Welt zu tragen.

Winkelmann: Wir haben die Liebe gesucht! Es war die Studentenbewegung und die Frage damals: Wie sieht ein neues Leben aus. Nach Auschwitz gab es keine Lieder mehr – wie können wir ein anderes Leben gestalten? Wir waren Suchende, naiv auch. Und wir waren jung, sexy. Wenn du eine kluge Feministin bist, weißt du, dass es natürlich auch Mädchenanteile in dir gibt. Es gab schon Männer, die ich mochte. Rainer hat es mal mit mir geübt: "Sag doch mal 'ich liebe dich' …". Ich glaube, tief in mir war da immer die Schwester, der Satz wäre wie ein Verrat gewesen. Obwohl, nein, das ist schon wieder nicht richtig gesagt von mir. Ich selbst bin es, die diesen Satz einfach noch nie erfüllen konnte. Ich liebe meine Kinder, aber auf eine andere Art natürlich.

Welt am Sonntag: Das ist doch was.

Winkelmann: Oh, ja, sehr. Severin ist jetzt 33, er ist Filmregisseur. Karline ist 30, sehr musikalisch, Mutter, verheiratet in Berlin. Die beiden machen mich sehr glücklich und auch stolz, denn sie haben sich das alles selbst geschaffen. Ich war nie so eine echte Mutter. Ich hätte mich zum Beispiel in ihrer Pubertät mehr kümmern müssen, stattdessen habe ich gearbeitet, bin gereist, ausgegangen – habe mich verwirklicht.

Welt am Sonntag: Das gehört heute zur Definition der guten Mutter.

Winkelmann: Ich hatte Kinder nie geplant, sie kamen einfach, und dann wollte ich sie auch. Karline habe ich sogar alleine zu Hause entbunden. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass es schon so weit ist. Alle waren weg. Ich habe mich dann so hingekniet, nach vier Presswehen war sie schon da. Rainer kam dann runter und hat abgeschnitten. Mit 54 habe ich überlegt, vielleicht noch ein Kind zu bekommen.

Welt am Sonntag: Mit 54 Jahren noch?

Winkelmann: Ja, ich habe mich ja lange sehr jung gefühlt, erst mit 58 fühlte ich mich etwas älter. Die Bio-Magie, plötzlich ist sie weg. Komisch, Männer können das riechen. Du merkst einfach als Frau, du bist nicht mehr drin im Pool, du stehst am Rand und schaust zu. Dieser Abschied ist schon ein Verlust, weil es natürlich auch Macht ist, ein begehrenswertes Wesen zu sein, und dann dreht sich keiner mehr um nach dir. Aber man bekommt etwas anderes, so eine Autorität, und ab 60 dann so eine Alterslosigkeit. Ich muss schon sagen, wenn man das Angebot des Älterwerdens annimmt, aber dabei neugierig und vor allem kreativ bleibt, das mögen Männer auch sehr gern. Schönheit ist gar nicht so wichtig für Männer, es ist die Energie.

Welt am Sonntag: Was ist mit Sex. Guter Sex ist auch Liebe oder nicht?

Winkelmann: Ach, Sex. Früher ist man zu jemandem hingegangen und hat gesagt: "Ich würde gerne mit dir schlafen." Oder: "Wollen wir heute Nacht zusammenbleiben, ich weiß auch noch nicht, wie es geht, aber wir können es ja probieren." Es ging um Nähe, Zellgespräche. Heute erscheint mir Sex eher wie ein Wettkampf. Einsamkeitsduelle.

Welt am Sonntag: Die "Kommune 1" war auch aus Einsamkeit geboren, für Menschen, die es alleine nicht aushielten. Glücklicher war man in der Gruppe. In Rainer Langhans' Harem, sagten Sie selbst einmal, fühlten Sie sich geborgen.

Winkelmann: Habe ich das? Sagen wir so, als ich Rainer mit 22 kennenlernte, fand ich sein Kommunen-Experiment interessant. Aber dabei ging es ja weniger um Romantik, es ging um eine Mission: keine Privatsphäre, eine Utopie der Offenheit. Rainer hatte nach dieser großen Beziehung mit Uschi Obermaier so gelitten und sagte danach klar, er möchte nie wieder eine Besitzbeziehung. Dieses Paardenken, du darfst nur mich und niemanden sonst lieben, sind bis heute armselige Liebesversuche in seinen Augen. Seine Überzeugung war, alles zu lieben, alles zu umarmen, sich in einer ständigen Liebesbewegung mit allem zu befinden. Dabei ging es nicht um Sex.

Welt am Sonntag: Er soll auch gar kein großer Liebhaber gewesen sein.

Winkelmann: Das Gerücht stimmt übrigens nicht. Rainer ist einer der besten Liebhaber. Aber bei der 68er-Liebe ging es um etwas viel Tieferes als Sex, um Unschuld auch. Ich habe zwar meinen BH im Klo runtergespült und sah darin eine Befreiung, aber im Bett wusste ich gar nicht, was man eigentlich macht. Später mit Rainer suchten wir eine mehr vergeistigte Liebe, und ab und zu ging man vergeistigt ins Bett.

Welt am Sonntag: Wie geht man vergeistigt ins Bett?

Winkelmann: Rainer verbietet sich, auf Lustempfinden zu sehr abzudriften, er verzichtet auch auf den Samenerguss. Sex ist für ihn reiner Trieb, und er wollte weg von der Macht der Hüfte, um eine höhere, geistige Ebene zu erreichen. Er trinkt ja auch nie Alkohol. Drogen, Geld, Musik, das sind alles "Downer", wie er sagt, gemessen an dem High, in dem er ist. Damals, sein "Dschungelcamp"-Honorar zum Beispiel – hat er gespendet. An Julian Assange und die Piraten.

Welt am Sonntag: Was hat Sie gereizt an diesem Lebensentwurf?

Winkelmann: Ich hatte auf meinen Reisen in überhöhte Geisteszustände durch psychoaktive Substanzen schon so viel Liebe und Offenheit erfahren. Sowieso, als Zwilling habe ich immer Liebe geteilt. Ich dachte, naiv auch, das ließe sich auf den Alltag übertragen, und sah es auch als spannenden Lernprozess im Sinne: Was ist die Rolle des Körpers, wenn es doch nur noch um Darstellung, Sex, Vergänglichkeit, Tod geht? Gisela zog damals mit Paul nach Amerika und ich zu Rainer nach München. Nach und nach kamen die anderen Frauen hinzu, vier sind es, die ihn bis heute begleiten. Er wohnte oben, ich unten. Ich fand mich toll damals, ich war sicher, ich werde die nächste Uschi. Mit dieser Erfahrung, der Erleuchtung, dass alles Ekstase ist, war ich wirklich bemüht, uns als Familie zu begreifen, tolerant zu sein – aber so einfach ist es ja nicht. In Wahrheit, das ist mir klar geworden, habe ich extrem gelitten. Ich war furchtbar eifersüchtig auf die anderen Frauen, ich fühlte mich verletzt, ausgeschlossen und schließlich verlassen, denn das Gefühl sagt: Liebe teilen geht nicht. Man schafft es eben nicht, man kann nicht alle lieben. Und du willst die Einzige für ihn sein oder zumindest – besonders. Liebe will Ausschließlichkeit. Und du möchtest ihn auch besitzen. Alles andere erscheint als Lüge, gegen die Natur und tut weh. Ich habe mir damals sehr viel zugemutet. Aber wer den Himmel will, muss wohl durch die Hölle gehen.

Welt am Sonntag: Sitzt da das Gift?

Winkelmann: Diese ewige Rainer-Geschichte ist ein großer Teil meiner Verarbeitung gerade in meinem Prozess. Rainer war meine wichtigste Beziehung, auch wenn wir keine Kinder zusammen haben. Er ist mein Seelenbruder. Ich weiß, es verärgert ihn, wenn die Zeitungen unsere Liebesgeschichte immer und immer wieder aufbringen und jetzt diese "Sterbeschmonzette", wie er es neulich nannte. Das entspricht auch nicht der Realität. Wir sind getrennt, wobei nicht wirklich. Es ist eine gereifte Liebesbeziehung, aber nicht in verengter Form. Auf unserer Indienreise kam es noch einmal hoch, diese alten Muster. Wir hatten diese beiden Freundinnen aus der Kommune mitgenommen, das war gar nicht geplant, aber ich dachte – warum nicht, sie sind doch eh irgendwie dabei. Schon auf dem Hinflug sah ich, dass Rainer dauernd mit Brigitte spricht. Ich wollte gar nichts Negatives denken, aber es platzte aus mir heraus: "Hätte ich euch doch nur nicht mitgenommen!" Und ich habe Rainer angebrüllt: "Wegen dir habe ich das alles, weil du mich verlassen hast." Natürlich wollte ich Rainer damals imponieren, ihn auch für mich haben. Heute weiß ich, es geht nicht nur um die eigenen Erwartungen, sondern vor allem darum loszulassen. Diesen Weg, das zu schaffen, ist das Ziel. – Wissen Sie, was neulich passiert ist?

Welt am Sonntag: Nein, was?

Winkelmann: Etwas Fantastisches ist passiert. Neulich habe ich es endlich zu einem Menschen gesagt, dass ich ihn liebe!

Welt am Sonntag: Wem?

Winkelmann: Meinem Arzt. Er hat mich so angstfrei ertragen. Er war einfach ganz da für mich und hat still meine Hand gehalten. Eines Nachmittags kam er wieder, und da habe ich mich bei ihm für seine Hilfe und Unterstützung bedankt und ihm gesagt, wie viel sie mir bedeutet. Das fand ich schon viel. Und während ich das so sagte, habe ich gedacht, Mensch, Jutta, jetzt spring! Du fühlst es doch, nun hab doch einmal den Mut, es auch zu sagen.

Welt am Sonntag: Und?

Winkelmann: Ich hab's rausgeheult, hab geweint und war nass geschwitzt. Gisela war danach bei mir und sagte, Mensch, Jutta, du leuchtest.

(In diesem Moment steckt die Zwillingsschwester den Kopf in die Tür): Frau Getty, kommen Sie, setzen Sie sich doch ein bisschen zu uns. – Wer von Ihnen ist eigentlich zuerst geboren?

Jutta Winkelmann: Das bin ich!

Gisela Getty: Wir haben oft Witze gemacht: Typisch, hast dich vorgedrängelt! Streber!

Jutta Winkelmann: Es gibt eigentlich keinen Ersten und Zweiten. Das Ei wird befruchtet und teilt sich.

Gisela Getty: Aber einer kommt zuerst auf die Welt. Es ist wie bei der Mondlandung. Jutta war die Erste, die Ältere, die Kleinere …

Jutta Winkelmann: Schau, das war zum Beispiel immer schwierig für mich: Du bekamst immer das bisschen Größere – das Bessere, in meinen Augen. Ich habe mich abserviert gefühlt. Es ist eine ambivalente Liebe bei uns, da ist auch viel Neid im Spiel, zugleich ist man so verschmolzen.

Gisela Getty: Ich hab es nicht ganz so schlimm empfunden. Als ich mit 23 Paul heiratete, stach ich durch den Namen Getty natürlich automatisch so ein bisschen öffentlich heraus. Vieles, was Jutta gemacht hat, war in Wahrheit viel substanzieller als meine gesellschaftlichen Geschichten. Es passierte nur nicht so öffentlich. Das hat, glaube ich, oft ein Gefühl in dir ausgelöst, du seist weniger wichtig oder würdest übersehen, was ja überhaupt nicht stimmt. Du weißt doch, wie talentiert du bist.

Jutta Winkelmann: Du Außen-, ich Innenminister. Ich war schon eifersüchtig auf dein buntes Leben, überhaupt deine Leichtigkeit. Du hast gelächelt, ich musste lange reden, um etwas zu bekommen, und hatte Angst, dass du es mir dann wieder wegnimmst. Und doch, ich war nur glücklich, wenn du es warst. Wenn man so will, hat die Krankheit eine gute Sache hervorgebracht: Zum ersten Mal jetzt kann ich mich als eigene Person begreifen. Es ist meine Krankheit. Darauf lege ich Wert, so pervers es klingt. Ich denke oft an Paul in letzter Zeit. Du hast ihn so geduldig gepflegt die letzten Jahre in London. Auch mit mir gibst du dir unendlich Mühe. Als Zwilling spürst du zudem den doppelten Schreck.

Gisela Getty: Nun, ich versuche, wo ich kann, dich zu ermuntern, offensiv mit der Krankheit umzugehen, plakativ. Damit meine ich – sich zeigen, ruhig auch extrem. Bei uns hat Krankheit immer mit Scham zu tun, man schämt sich. Nein, nicht verstecken! Wenn die Haare ausgehen – extra bunten Turban tragen. Darin liegt auch eine Schönheit, mutig damit umzugehen. Ich weiß noch, als du Brustkrebs hattest, hast du einmal zu Paul gesagt: "Ich weiß nicht, wie du es machst. Wie du mit deinem Schicksal fertig wirst."

Jutta Winkelmann: Und er sagte: "Mein Körper ist nur die Hülle, ich lebe ganz und gar in meinem Geist." Das hilft auch mir, zu wissen, dass das geht. Ich denke wirklich oft an ihn in letzter Zeit.

Welt am Sonntag: An was genau?

Jutta Winkelmann: An diesen wundervollen Menschen. Paul hatte wirklich etwas Fantastisches. Das kann Gisela viel besser erzählen.

Gisela Getty: Diese roten Locken – sein Enkel, der Sohn unseres Sohnes Balthazar, sieht genauso aus wie er. Dieselbe Ironie auch. Paul war sehr ironisch, schnell in allem, was er aufnahm. Er hatte was Zauberhaftes. Auf Partys, wenn wir uns getrennt unterhielten, kam er nach ein paar Stunden zu mir, hob mich hoch vor allen Leuten, trug mich in eine Ecke und sagte: "So, jetzt redest du mal mit mir." Er konnte aber auch sehr scharf sein und Leuten richtig Angst machen. Er sah sich als Aussteiger, aber wusste schon, dass er ein Getty war. Wen er nicht grüßen wollte, bei dem zog er die Hand weg, fuhr sich mit ihr durchs Haar und sagte: "Sorry, Sie verdienen meine Hand nicht." Er war leider auch selbstzerstörerisch. Ich war 23, er 18, als wir kurz nach seiner Freilassung heirateten. Wir hatten uns unser Leben sehr anders vorgestellt. Aber nach der Entführung war unser unschuldiger Sommer der Liebe vorbei.

Jutta Winkelmann: Paul war schwerst traumatisiert. Es war ja schlimm, er hat ja ganz anders gelitten als ich.

Gisela Getty: Er fühlte sich verfolgt, hatte Angst, schlafen zu gehen, der Fernseher musste immer laufen. Er war ungeduldig, alles musste sofort sein. Hunger – sofort. Jemanden treffen – sofort. Oder wenn jemand nur beiläufig erwähnte: "Wir könnten doch mal nach New Mexico fahren" – "let's do it now"! Paul hat nicht mal gepackt und ist dann bis New Mexico durchgerast. Dieses Extreme war natürlich auch eine Begleiterscheinung der Drogen. Er war ja richtig süchtig dann. Es war schwer, auch für mich, mit zwei kleinen Kindern, kaum Geld. Der Großvater hielt uns knapp, alles ging in die Sucht. Die Familie hat Paul zwar einen Psychologen besorgt, aber nach einer Sitzung war es aus: "Der hat zwar die beste Kunstsammlung, aber was weiß der schon, wie es in mir aussieht", war Pauls Kommentar nur.

Jutta Winkelmann: Nicht leicht, sich zu öffnen. Damals gab es auch noch keine Traumatherapie in dem Sinne.

Gisela Getty: Es war das Trauma, aber schon auch Selbsthinrichtung. "Ich schaue meiner eigenen Zerstörung zu und kann nichts dagegen machen", hat er mir einmal gestanden, das war kurz vor seinem tragischen Zusammenbruch. Eigentlich stand immer die eine Frage im Raum, zerstört er sich allein oder nimmt er noch Leute mit, bei einem Unfall.

Welt am Sonntag: John Paul Getty hat sich mit 26 Jahren und einem Cocktail aus Methadon, Valium und Alkohol schließlich ins Koma geschossen.

Jutta Winkelmann: Als er aufwachte, war er blind, er konnte nur noch Laute ausstoßen. Wer es nicht gewohnt war, konnte ihn praktisch nicht verstehen. Er war faktisch vom Hals an gelähmt, eingesperrt in seinem eigenen Körper, wie in einem Sarg. Wahnsinn. 30 Jahre im Rollstuhl.

Gisela Getty: Eigentlich wäre er gestorben, hätte man ihn nicht mit einem irren Aufwand am Leben erhalten. Die Ärzte sind damals weit über das normale medizinische Ziel hinausgegangen und haben mit noch nicht erprobten Behandlungsmethoden gearbeitet. Das war auch eine Entscheidung der Mutter, Paul war der Erstgeborene, aber ich versteh das schon.

Welt am Sonntag: Es wird weltweit über aktive Sterbehilfe diskutiert.

Jutta Winkelmann: Es gibt bestimmt Leidende, denen eine Verlängerung des Lebens nicht sinnvoll erscheint. Gunter Sachs hat den Suizid gewählt, er wollte mit seiner Krankheit die Familie nicht belästigen. Ich bin gegen Selbstmord. Wir müssen das Leben schon leben, da ist auch etwas zu erfüllen. Das habe ich an Paul so bewundert, er hat nie gejammert. Im Gegenteil, er ging aus, in Restaurants, auf Rockkonzerte. Seine Angestellten haben dann einen Ski-Bob für ihn konstruiert, in dem er die Berge runtergerast ist. Gut, Paul hat natürlich auch jeden Wunsch erfüllt bekommen. Erste Reihe Mick Jagger – zack, saß er da.

Welt am Sonntag: Wenn man so krank ist, was bedeutet es einem dann noch – erste Reihe Mick Jagger?

Jutta Winkelmann: Ich weiß es von mir selbst, es geht darum, am Leben teilzunehmen, und je näher du dran sitzt, desto lebendiger fühlst du dich. Du hast Programm, ein Ziel, es geht weiter. Man will auf gar keinen Fall in seinem Schlafanzug verkümmern.

Gisela Getty: Die letzten zwei Jahre, als ich bei ihm war, waren dann schon schwierig. Ich hab Paul vorgelesen, von früher erzählt. An vieles konnte er sich nicht mehr erinnern, dann guckte er hoch und sagte: "More, more, more." Einmal gingen wir durch den Hydepark, er liebte Spaziergänge, er wollte immer raus. Da habe ich ihn gefragt: "Du kannst nicht laufen, Paul, vermisst du nicht das Laufen?" Und er antwortete: "Why, why, why?" Vielleicht wusste er gar nicht mehr, was Laufen ist. Am Ende war es dann nur noch Intensivstation, künstliche Ernährung, bis er im Februar 2011 starb.

Jutta Winkelmann: Wir waren alle da, draußen auf dem englischen Landsitz und konnten alle Abschied nehmen, das war schmerzhaft und sehr berührend.

Gisela Getty: Ich habe ihn im Arm gehabt. Sein Atem ist immer leichter geworden, immer ruhiger. Es war ganz still, sein Schlafzimmer hell und groß, mit Türen zum Garten hin. Die ganze Familie war da, die Mutter, die Kinder, Jutta. Zwei Wochen waren wir alle zusammen. Das war alles sehr, sehr schön, sehr liebevoll.

Welt am Sonntag: Lügt unsere Gesellschaft über den Tod?

Jutta Winkelmann: Ganz eindeutig, allein schon beim Thema Schmerzen. Nie wird etwa über Geburtsschmerzen gesprochen und all die Nebeneffekte beim Kinderkriegen. Genauso gibt es keine Todeskultur bei uns. Im ganzen Sterbeprozess sind wir unheimlich einsam. Tod ist kein Thema.

Welt am Sonntag: Der Tod gehört zum Leben, er beendet es nicht. Ein Leben beinhaltet den Tod: Die Zelle wird befruchtet, teilt sich, entsteht,und am Schluss vergeht sie.

Winkelmann: Ich habe sogar mal von meinem eigenen Tod geträumt, vor der Krankheit: Da war ich auf meiner eigenen Beerdigung.

Welt am Sonntag: Wie Axl Rose.

Winkelmann: Riesenkirche, alle Freunde da. Vorne der Sarg, in dem ich lag, wunderschön. Und von der Kanzel sang Bob Dylan: "Like a Rolling Stone". Das war ja mein Erweckungslied, die Hymne. Ein schöner Traum, der natürlich sehr viel mit Romantik zu tun hat und der Bestimmung des Selbstwertes. In ihm steckt ja auch ein Suizid-Gedanke: Wenn alle so gemein zu mir sind, passiert mir eben was, dann tu ich mir etwas an, und alle sollen an meinem Grab weinen. Warten Sie, ich muss Ihnen was zeigen. Ich müsste es hier im Küchenschrank haben ...

Welt am Sonntag: Was ist das denn, eine Plastiktüte mit Sand drin?

Winkelmann: Das ist die Asche von Timothy Leary. Ein paar kleine Knochen sind auch dabei.

Welt am Sonntag: Sie bewahren Timothy Learys Asche auf, in einer Küchenschublade?

Winkelmann: Tim war ein richtig guter Freund von uns, Harvard-Professor, ein Revoluzzer im Geist. Er hat immer tolle Leute in seinem Haus in Los Angeles zusammengebracht, das liebte er: Wenn der Geist Funken schlägt! Die Welt ist wirklich leerer geworden ohne ihn. Wir waren auf seiner Weltraumbestattung, auf dieser Raketenbasis in Virginia, wo seine Asche ins All geschossen wurde. Einen Teil haben wir unter uns Freunden aufgeteilt. Mein Beutel ist leider etwas reduziert, weil ich schon einiges verschenkt habe. Wir hatten mal überlegt, seine Asche in eine Urne umzufüllen. Aber so passt es besser zu Tim, im Beutel, wie früher das Gras. Nun, für mich wäre das wahrscheinlich nichts, in so einer Plastiktüte zu enden.

Welt am Sonntag: Sie würden es ja nicht mehr mitkriegen.

Winkelmann: Es muss ein Ende geben. Ich möchte zwar auch verbrannt werden, aber es muss einen Bestimmungsort geben. In Kassel gibt's den Reinhardswald, da kann man sich einen Baum kaufen, unter dem dann die Asche verstreut wird. Das wäre eine Idee, wobei ich mich mit dem Thema noch überhaupt nicht beschäftigt habe. Ich habe nicht mal ein Testament gemacht. Lustig oder, da hatte ich so ein crazy Leben, und am Ende verstaube ich dann in Kassel. Ich könnte mir auch vorstellen, nach Indien zu gehen. Irgendwo an einen Shiva-Tempel, in dem das gleiche Feuer seit 2500 Jahren brennt. Alles leuchtet, und die Reste werden dem Ganges übergeben.

Welt am Sonntag: Die Zukunft ist: Auf Facebook leben wir unser virtuelles Leben, und wenn wir sterben, gibt es Friedhöfe, auf denen man via Life-Recorder das ganze Leben eines Verstorbenen verfolgen kann: erster Kuss, Hochzeit, Tod.

Winkelmann: Ist doch nett. Nicht wie bei unseren Großeltern, an die uns nur noch ein paar zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos oder verwackelte V8-Filme erinnern.

Welt am Sonntag: Die Frage ist: Was bleibt denn wirklich von einem? Bleibt was?

Winkelmann: Es bleibt immer, immer mehr. Formal zumindest. Bis hin zur Facebookseite, die noch über den Tod hinaus besteht.

Welt am Sonntag: In Ihrem Blog schreiben Sie: "Am Ende ist Nichts. Es gibt nichts, außer dem Nichts".

Winkelmann: Ja.

Welt am Sonntag: Ist das nicht eine sehr materialistische Anschauung? Wo ist Ihre spirituelle Antwort?

Winkelmann: Die suche ich eben noch. Neulich habe ich mal ein Tröpflein Cannabis-Öl genommen, das hatte ich irgendwie noch. In den USA verschreibt man es als Schmerzmittel. Die Größe eines Reiskorns reicht schon. Es war ein achtstündiger Höllentrip, heftig! Ich habe schon Jahre nichts mehr genommen.

Welt am Sonntag: Haben Sie an der falschen Stelle gesucht?

Winkelmann: Immerhin habe ich gesucht. Ich habe mein Leben lang gesucht. Rainer sagt, du musst deine Krankheit lieben. Ich finde das sehr viel verlangt. Aber ich will sie nutzen. Rückblickend kann man natürlich immer sagen, warum habe ich dies oder jenes getan oder nicht getan? Weil man den Preis kennt. Wir hatten Spaß, Mordsspaß. Wir haben uns Sachen getraut, die würde heute kein Mensch mehr machen. Und letztlich ist uns nichts passiert. Unschuld schützt auch. Ich habe mich viel in der Welt ausprobiert, das brauch ich nicht mehr. Jetzt geht es darum, mehr nach innen zu schauen. Zu lernen, dass Nichts alles ist. Heute kann ich ungeniert sagen, ich suche Gott.

Welt am Sonntag: Manche gehen dazu in die Kirche, Sie erlebten Ihren Gottesdienst im Rausch. Welche Erleuchtung haben Sie denn da erfahren? Was gaben Ihnen die Drogen?

Winkelmann: Wir waren jung, wir wollten die Welt unter einem Vergrößerungsglas verstehen. Wenn man wirklich mal höhere geistige Zustände erreicht, erfährt man schon, dass man nicht der Körper ist. Ich war mal auf einem Ahayuasca-Trip, saß auf einem Berg und hörte die Ameisen trampeln. Man wird zum Indianer, so trittfest. Die Angst geht, du fliegst praktisch und nimmst diese Stille wahr, die hinter allem ist. Alles geht aus der Materie, alles wird geistig. Du hörst sogar Sternschnuppen. Du siehst, dass alles Schöpfung ist. Wir waren in der Gruppe, herrlich in der Natur ...

Welt am Sonntag: Schon klar, der alte Hippie-Trail, Kathmandu, Indien, Afghanistan. Warum finden wir die Schöpfung immer nur im Fernen Osten? Woran liegt es, dass wir sie nicht in München-Schwabing sehen?

Winkelmann: Es fällt uns schwer, sie im Kapitalismus zu entdecken.

Welt am Sonntag: Lesen Sie die Bibel?

Winkelmann: Nein. Jesus hat das Leiden produktiv gemacht. Hat Christoph Schlingensief gesagt. Das gefällt mir.

Welt am Sonntag: Woran denken Sie jetzt gerade?

Winkelmann: Das Bild eines alten Klosters in China kommt mir in den Sinn. Altes Holz, Zeit, Stille. Wasser selber holen, wenig Essen. Die kühle und frische Luft am Morgen, das leise Rascheln der rot gefärbten Ahornblätter. Bisschen die Terrasse fegen. Tee aufsetzen, nichts mehr müssen oder darstellen. Pures Sein. Hier aus meinem Fenster fliegen die schönen Pläne. Gestern bin ich zum ersten Mal essen gegangen. Es war ein so schöner Abend. Platz zu nehmen im Leben. Ich war mal kurz weg, und jetzt guck ich mal wieder, hallo, Welt.

Welt am Sonntag: Und nach der Reha fliegen Sie nach Sardinien.

Winkelmann: Ich freue mich auf den Strand, an dem wir jedes Jahr sind, schlichtes Landleben. Alles abstreifen vom Körper und ins Wasser tauchen. Aber erst mal noch die Reha am Chiemsee. Ich hoffe, dass sich dieses Tier in mir beruhigen wird. Immerhin, mein Kopf ist schon sehr viel weiter. Ich habe in etwa kapiert, wie das Ego funktioniert mit seinen ganzen Lieblosigkeiten und die Jutta, wie sie auch ist. Da passiert gerade ein ganz wichtiger Emanzipationsprozess, auch von meiner Schwester, obwohl ich sie so sehr liebe. Und von meiner Kindheit auch. Unsere Generation hat ja sehr viel unbewusste Schuld abbekommen von den Eltern, diese Kollektivlast und Verdrängung nach dem Dritten Reich. Gleichzeitig war da diese würgende Enge des Kleinbürgertums. Ich wusste das alles von mir, plötzlich kann ich vieles verzeihen. Nur noch Liebesgefühle für alles, für mich – zumindest für einen Tag. Platz für morgen. Ich will durch dieses Nadelöhr, ich will leben.

Deutsche Welle
Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann
Paul Getty III.
Das kurze, tragische Leben eines Milliardärs
Jutta W. und Gisela G.
Foto: picture-alliance/ dpa/UPI

Nach ihrer Ehe mit dem deutschen Schauspieler Rolf Zacher heiratete Gisela Schmidt den Milliardärserbe Paul Getty III.

Foto: picture-alliance/ dpa/UPI

Mit ihm lebte sie den "Summer of Love".

Foto: picture-alliance/ dpa/UPI

Gisela heiratete Paul erst nach seiner Entführung 1974. Gemeinsam mit ihrer Schwester überbrachte sie den Brief der Entführer.

Foto: ddp

In diversen Büchern arbeiten die Zwillinge ihre Haremserfahrung mit Langhans auf.

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