02.08.13

Fernsehdokumentation

Mein Vater, der tollste Eisenbahnräuber der Welt

Vor 50 Jahren fand der größte Eisenbahnraub aller Zeiten statt. Arte zeigt zum Jubiläum eine Dokumentation mit Nick Reynolds, dem Sohn des Anführers. Ein Gespräch über Elite-Internate und Totenmasken. Von


Wie wird jemand erwachsen, der einen Großteil seiner Kindheit am Pool des Acapulco Hilton Hotels verbracht hat? Der mit fünf Pässen und der Frage „Dad, wer bin ich heute?“ auf Reisen ging? Nick und sein Vater, der Eisenbahnräuber Bruce Reynolds
Foto: Privatbesitz Nick Reynolds Wie wird jemand erwachsen, der einen Großteil seiner Kindheit am Pool des Acapulco Hilton Hotels verbracht hat? Der mit fünf Pässen und der Frage "Dad, wer bin ich heute?" auf Reisen ging? Nick und sein Vater, der Eisenbahnräuber Bruce Reynolds

Am 8. August 1963 deckt eine Diebesbande auf der Strecke Glasgow – London das grüne Licht des Zugsignals ab, schließt eine Batterie an und lässt das Rotlicht leuchten. Als der Königliche Postzug anhält, zwingen die Räuber den Lokomotivführer zur Weiterfahrt bis zu einer markierten Stelle nahe Cheddington, wo sie 121 Postsäcke mit insgesamt 2,6 Millionen Pfund auf einen bereitstehenden Lastwagen abladen.

England steht Kopf. Fünfzehn Ganoven erbeuten eine Summe, die heute etwa 50 Millionen Euro entspräche. Mit einem Überfall, der präzise geplant war und außer einigen Schlägen für den Lokführer und zwei Postbeamte keine Gewalt erforderte. Die Suche nach den Verbrechern wird zum Fernsehkrimi, mit Verfolgungsjagden und Gefängnisausbrüchen.

Der Coup scheint perfekt in die Zeit zu passen, die Sechziger haben begonnen, London fängt gerade an swingen, das Establishment spürt erste Erschütterungen. Der Begriff der "Gentlemen-Räuber" taucht in der Presse auf, aus dem sperrigen "Cheddington Mail Van Raid" (Cheddingtoner Gepäckwagenüberfall) wird bald "The Great Train Robbery". Und das ist er bis heute geblieben, der Große Zugraub, ein singuläres Ereignis im kollektiven Gedächtnis Englands, an das sich bis heute auch die erinnern, die damals noch gar nicht auf der Welt waren.

Zum 50. Jubiläum des Pop gewordenen Überfalls zeigt Arte eine Dokumentation, die den Hype ebenso beleuchtet wie die dunkleren Hintergründe: Carl-Ludwig Rettinger arbeitet viel mit Ausschnitten aus dem Straßenfeger "Die Gentlemen bitten zur Kasse" von 1966, an den sich sein Film schon im Titel stark anlehnt. Und natürlich taucht auch Posträuber Ronnie Biggs auf, der an seinem brasilianischen Fluchtort Immunität genoss, Journalisten Interviews am Fließband gab, mit den Sex Pistols und den Toten Hosen Songs aufnahm und den von einer Teilnahme am "Dschungelcamp" vermutlich nur sein miserabler Gesundheitszustand abhält.

Andererseits konnte Rettinger in seinem "Die Gentlemen baten zur Kasse" erstmals die Polizeiakten des Falles miteinbeziehen, die fast 50 Jahre in den Archiven der Royal Mail verschlossen lagen und aufschlussreiche Verbindungen zwischen der Londoner Unterwelt und der Londoner Polizei aufzeigen. Und schon die kluge Entscheidung, endlich Bruce Reynolds in den Mittelpunkt zu stellen, macht die Dokumentation sehenswert, diesen Gauner aus Londons Arbeiterviertel, der sich das ersehnte Glamourleben an der Cote d'Azur früh mit raffinierten Diebstählen erfüllte, und zum Kopf der Zugräuberbande wurde. Während Reynolds' zehnjähriger Haft besuchte der Bischof von Canterbury den belesen Mann zu angeregten Unterhaltungen, nach seiner Entlassung hielt Reynolds Vorträge an Universitäten.

Aber wieso bestellt Nick Reynolds Pizza Hawaii?

Mindestens so spannend an "Die Gentlemen baten zur Kasse" aber ist ein Junge, der in der Dokumentation neben einer Gipsmaske seines Vaters sitzt und von früher erzählt. Die Maske hat der Junge selbst angefertigt. Der Junge ist über 50, aber er ist der Sohn seines Vaters geblieben, heute wahrscheinlich mehr denn je. Nick Reynolds kam 1962 auf die Welt; als seine Eltern mit ihm aus England flüchteten, war er ungefähr ein Jahr alt. Er spricht nicht gern über sein genaues Alter.

Wie wird jemand erwachsen, der einen Großteil seiner Kindheit am Pool des Acapulco Hilton Hotels verbracht hat? Der mit fünf Pässen und der Frage "Dad, wer bin ich heute?" auf Reisen ging? Der Nick heißt, weil Bruce Reynolds und Ronnie Biggs sich einst schworen, ihre Erstgeborenen nach Nick Adams zu nennen, einer Figur ihres Helden Hemingway?

"Ich hab mich gefühlt wie Edmund Hillarys Sohn, der jetzt einen Berg suchen muss, der höher ist als der Mount Everest", sagt Nick Reynolds bei einer Pizza in Berlin. Er ist wegen des Arte-Films zu Besuch in Deutschland. Den Italiener mit den weiß gedeckten Tischen schräg gegenüber hat er abgelehnt, zu vornehm. Lieber sitzt er auf den Holzbänken eines Imbisses, wo sich jetzt, um Mitternacht, nur Taxifahrer und Touristen eine Mini-Pizza holen, und nach 30 Sekunden erklärt er zwei australischen Studenten erst Sidney und dann, was sie sich auf ihrer Europareise alles ansehen sollten und wo es noch billiger ist als in Berlin.

Reynolds' Kumpelhaftigkeit hat etwas von dem "Ich bin einer von Euch!"-Gebaren, mit dem graumelierte Rocker der Jugend gern die eigene Jugendlichkeit und Prominente dem gemeinen Volk die eigene Bodenhaftung demonstrieren. Nur die Pizza Hawaii, die Reynolds bestellt hat, stört das Bild. Es gibt also tatsächlich Menschen, die Pizza Hawaii bestellen. Warum bestellt Nick Reynolds Pizza Hawaii? Es fällt schwer, nicht zum Hobby-Psychoanalytiker zu werden, wenn der Sohn einer Verbrecherlegende sein eigenes Leben in Geschichten verpackt, denen Sigmund Freud vermutlich jeweils ein eigenes Buch gewidmet hätte.

Mit falschem Namen aufs Internat

"Mein Vater war ein grandioser Vater", sagt Reynolds. "Dadurch, dass er ja keinen Bürojob hatte, verbrachte ich eine irre Zeit mit ihm. Er hat mich wie ein Erwachsener behandelt, immer. Wir waren ständig zusammen und haben die tollsten Sachen gemacht. Wir haben an tollen Orten gelebt, in tollen Häusern – für mich war es wie ständige Ferien. Wenn meine Eltern nervös waren, so haben sie es mich nie spüren lassen."

1968 wurde Bruce Reynolds in England gefasst und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Familie war zurückgekehrt, nachdem das Geld ausging und Bruce sich einen neuen "Job" suchen wollte. Nick, der bereits in Mexiko inmitten der "oberen fünf Prozent der Gesellschaft" lebte, kam auf ein Elite-Internat in Sussex. "Eine von diesen Schulen, wo alle aufs Berühmtsein vorbereitet werden – zukünftige Politiker, Banker, Diplomaten."

Er wurde unter falschem Namen angemeldet und erzählte keinem, wer er war. "Erstens hätten sie mich gar nicht erst aufgenommen: ,Igittigitt, der Sohn eines Gefängnisinsassen!' Und jedes Mal, wenn etwas fehlte, hätte es geheißen ,klar, der Sohn des Zugräubers!' Damals wurde Diebstahl noch als ein Ding ausschließlich der unteren Klassen angesehen. Die Eltern aller meiner Mitschüler waren genau die Leute, die mein Vater mit Vergnügen ausgeraubt hätte."

Nick wusste natürlich, dass sein Vater "in irgendwas verwickelt" war, aber in was genau, dass erfuhr er erst als Teenager aus der Zeitung, als der "Observer" ein Buch über den Großen Eisenbahnraub in Fortsetzungen druckte. Es gab für ihn keinen Grund, damit zu protzen. "Ich hatte miterlebt, wie meine Mutter so von der Presse belästigt wurde, dass sie ihren Namen änderte. Als Kind hätte ich von so einer Enthüllung überhaupt nichts gehabt. Es war ja nicht so, dass ich mit Kriminellen abhing, bei denen ich mir damit hätte Respekt verschaffen können. Meine Mutter hat die Story einmal verkauft, und vom dem Geld lebten wir in Whitebridge, einer feinen Gegend, ein ruhiges Leben. Es war mein kleines Geheimnis, bis ich 21 wurde."

Da lebte er auf einem Hausboot in Londons Viertel Little Venice, das vor Musikern wimmelte. "Die meisten waren schon halb in Rente, aber diese Jungs wurden meine Helden. Ich machte in einer Band mit, in der Dave Gilmour von Pink Floyd an der Gitarre spielte, und Ian Stewart von den Rolling Stones, Dave Winson, der Bass für Neil Sedaka..." Mit anderen Worten: Lauter Vaterfiguren, die "es cool fanden", als Nick von seinem Vater erzählte.

"Woke up this morning, got yourself a gun"

Heute ist er Mitglied von Alabama 3, einer Londoner Rockband, die vor allem für den Titelsong der "Sopranos" bekannt ist: "Woke up this morning, got yourself a gun…" Doch Reynolds winkt sofort ab: "Jaja, die Ironie. Aber der Song handelt von einer Frau, die ihren gewalttätigen Ehemann erschoss. Nicht von Gangstern. Tut mir leid, aber ich muss betonen: mein Vater war kein Gangster. Gangster sind Bullies, die ihr Geld mit der Androhung von Gewalt machen. Mein Vater ging mit mehr Finesse vor. Cary Grant in ,Über den Dächern von Nizza', den hat er geliebt."

Nick Reynolds spielt in der Band die Mundharmonika, das hat er sich selbst während seiner Zeit in der Navy beigebracht. Der Navy, die Bruce Reynolds wegen dessen Sehschwäche einst abgelehnt hatte. "Wie folgt man einem Vater, der einen so spektakulären Fußabdruck in der Geschichte hinterlassen hat?", fragt der Sohn mit geübter Theatralität. "Mein Vater hat den Eisenbahnraub immer seine ,Sixtinische Kapelle' genannt. Da habe ich einfach alles gemacht, was er nicht geschafft hat."

Bruce Reynolds erzählte seinem Sohn viele Legenden über den englischen Spion und Navy-Taucher Commander Crabb. "Und in Acapulco gab es diesen Tunnel, durch den man von der Lagune ins Meer gelangte. Da tauchten meine Eltern immer durch, ich mit den Armen um den Hals meines Vaters. Da war ich vielleicht drei." Man kann sich kaum verkneifen, eine Bemerkung über das Abtauchen und die Unterwasserwelt zu machen.

Aus Schurken werden Ikonen

Eines Tages aber dachte Nick: "Scheiß drauf, ich mach was draus." Heute fertigt er Gipsmasken an. Von toten und lebendigen Verbrechern zum Beispiel. Angefangen hat er mit abstrakten Skulpturen, und Reynolds sagt, er sei Künstler, weil sich sein Vater auch immer als Künstler sah. Irgendwann begann Nick, sich mit Totenmasken zu beschäftigen. "Und dann gab es Mitte der Neunziger ein Revival all der Sechziger-Jahre-Gauner in England. Es war verrückt: Ich war mit diesem Stigma aufgewachsen. Und plötzlich wurden Verbrecher zu Lieblingen der Medien. Sie kamen allmählich aus dem Gefängnis, sie hatten ihre Geschichten erzählt, Bücher geschrieben, daraus wurden Filme. Da sagte ich mir, ich habe gewisse Kontakte, ich komme dank meines Vaters an gewisse Orte, das werde ich ausnutzen."

Die Ausstellung "Cons zu Icons" (Schurken zu Ikonen) entstand. "Von Kriminellen Masken anzufertigen, ist, wie ihre Fingerabdrücke zu nehmen", sagt Reynolds. "Unglaublich, welche Details da ans Licht kommen! Ganz zu schweigen davon, dass diese Jungs mir nicht einfach Modell sitzen: sie kriegen von mir Gips aufs Gesicht geklatscht und sind mir völlig ausgeliefert. Sie müssen mir völlig vertrauen. Typen, die Menschen umgebracht haben."

"Cons zu Icons" sollte die "Schuld der Medien an der Verklärung von Verbrechern" kritisieren, betont Nick. Bruce Reynolds ist im April gestorben. "Ich habe es immer als Selbstverständlichkeit angenommen, dass mein Vater da war", sagt sein Sohn zum Schluss. "Und dann merkte ich, was ich ihn alles noch hätte fragen sollen. Ich musste das Buch, das wir gemeinsam angefangen hatten zu schreiben, alleine fertigstellen." Es ist ein Buch über den Großen Eisenbahnraub.

"Die Gentlemen baten zur Kasse". Arte, Freitag, 2. August, 20.15 Uhr


Nick Reynolds fertigt heute Gipsmasken an. Von Lebenden und Toten, auch von berühmten Verbrechern wie seinem Vater. „Von Kriminellen Masken zu nehmen, ist, wie ihre Fingerabdrücke zu nehmen“, sagt Reynolds
Foto: Lichtblick Film Nick Reynolds fertigt heute Gipsmasken an. Von Lebenden und Toten, auch von berühmten Verbrechern wie seinem Vater. "Von Kriminellen Masken zu nehmen, ist, wie ihre Fingerabdrücke zu nehmen", sagt Reynolds

Nick Reynolds als Kind mit seinem Vater Bruce Reynolds, dem Anführer der Bande, die 1963 „The Great Train Robbery“ beging
Foto: Privatbesitz Nick Reynolds als Kind mit seinem Vater Bruce Reynolds, dem Anführer der Bande, die 1963 "The Great Train Robbery" beging

Nick Reynolds (re.) mit einem Teil der Rockgruppe Alabama 3
Foto: Getty Images Nick Reynolds (re.) mit einem Teil der Rockgruppe Alabama 3
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