Meinung 19.08.13

Fachkräftemangel

Die neue Macht der Arbeitnehmer

Das Bahn-Chaos von Mainz brachte es wieder ans Licht: Der demografische Wandel hat die Unternehmen erreicht. Facharbeiter werden zur raren Ressource. Das steigert ihren Marktwert. Von


„Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“: So sangen einst die stolzen Arbeiter. Und heute? Mit Fortschreiten des demografischen Wandels wächst die Marktmacht der Arbeitnehmer
Foto: Getty Images/Image Source "Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will": So sangen einst die stolzen Arbeiter. Und heute? Mit Fortschreiten des demografischen Wandels wächst die Marktmacht der Arbeitnehmer

Die Personalengpässe, die in den vergangenen Wochen zum Stillstand des Zugverkehrs in Mainz geführt haben, sind zu großen Teilen eine Folge von Managementfehlern der Bahn. Jahrelang hat der Konzern gespart und sich darauf konzentriert, sich von Mitarbeitern zu trennen – offenbar ohne an ihren Wert für die Zukunft zu denken.

Notstände wie die Anhäufung von Überstunden wurden übersehen – oder aus Angst gar nicht erst gemeldet. Inzwischen hat der Konzern mit seiner Nachhaltigkeitsstrategie "DB 2020" zwar den Kurswechsel vollzogen. Doch ob er sein Ziel erreichen kann, zu einem der zehn attraktivsten Arbeitgeber des Landes zu werden, ist fraglich.

Denn der Nachwuchs ist längst rar geworden. Die späte Erkenntnis der Bahn rächt sich angesichts dieses Megatrends umso mehr, weil er es so schwer macht, den Fehler rückgängig zu machen. Denn die Konkurrenz hat sich schon früher auf den richtigen Weg gemacht. Die technischen Fachkräfte und Azubis, welche die Bahn nun gerne einstellen würde, sind vielerorts längst bei Siemens, Porsche oder BMW. Image, Arbeitsbedingungen und Bezahlung sind dort einfach besser.

Das Demografieproblem entschieden anpacken

Das Mainzer Personalchaos ist Ausdruck eines Wandels, der bald noch viele Unternehmen treffen könnte – wenn Wirtschaft und Politik das Demografieproblem, das auf den deutschen Arbeitsmarkt zukommt, nicht entschiedener anpacken.

Der Beruf des Fahrdienstleiters, ein Ausbildungsberuf, der Spezialwissen erfordert, steht genau für die Berufsgruppe, die besonders wertvoll für ein Unternehmen ist. Die deutsche Industrie, die auch künftig vom Verkauf immer komplexerer Produkte leben will, benötigt hoch spezialisierte Facharbeiter, deren Wissen schwer ersetzbar ist.

Schon jetzt aber wollen immer weniger Jugendliche technische Ausbildungsberufe erlernen. Diejenigen, die ein Abitur haben – und das sind inzwischen die Hälfte der Schulabgänger –, erwerben lieber einen Hochschulabschluss. Zwischen 2010 und 2030 werden laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur sieben Millionen Menschen in die mittlere Qualifikationsebene des Arbeitsmarkts eintreten, während 11,5 Millionen ausscheiden. Zuwanderung kann diesen Trend nur abmildern, aber nicht stoppen.

Der Arbeitsmarkt wird zum Bewerbermarkt

Diese Entwicklung stellt die deutsche Wirtschaft vor eine große Herausforderung, die einen grundlegenden Mentalitätswandel und große Investitionen beinhaltet. Der Arbeitsmarkt, seit Jahrzehnten davon geprägt, dass sich die Arbeitgeber die besten Mitarbeiter aussuchen können, wird vor allem im technischen Bereich zum Bewerbermarkt.

Die Machtverhältnisse kehren sich um, fortan müssen die Unternehmen darum kämpfen, Mitarbeiter zu bekommen – und zu halten. Sie müssen attraktiv sein und die Besten an sich binden, um Situationen von Personalknappheit zu vermeiden.

Der Mitarbeiter, der lange Zeit schon mit Mitte 50 in die Frührente entsorgt wurde, um von einem jüngeren ersetzt zu werden, wird zur wertvollsten Ressource des Betriebs. Er muss gehegt und gepflegt werden, damit er bis ins hohe Alter produktiv bleiben kann und das Unternehmen nicht verlässt.

Das ist eine Riesenherausforderung für die Personalpolitik, die sich jetzt lebenslang und ganzheitlich um die Gesundheit und die Weiterbildung des Mitarbeiters kümmern muss. Arbeitsplätze müssen schonend und altersgerecht gestaltet, Schichtpläne verbessert werden, damit die Mitarbeiter bis 67 arbeiten können. Um das Personal zu halten, werden schlaue Unternehmen regelrecht zur Nanny: Sie organisieren den Mitarbeitern günstig Kinderbetreuung oder Sportklub und schulen Führungskräfte, die aufpassen, dass die Arbeit nicht zu stressig wird.

Wenn der Arbeitgeber zur Nanny wird

Der Trendforscher Sven Gábor Jánszky spricht von "Caring companies", die auch unternehmenseigene Schulen und Wohnungen stellen. Auch die Arbeitszeiten müssen flexibel angepasst werden: Familie und ständige Weiterbildung wollen schließlich auch noch in einem Alltag untergebracht werden, in dem – auch auf Wunsch der Wirtschaft – meist beide Elternteile arbeiten.

Neben den Bemühungen, die besten Bewerber anzulocken und zu halten, werden die Unternehmen aber nicht darum herumkommen, künftig auch Schwächere einzustellen – diejenigen, die nur einen Hauptschulabschluss haben, schlecht Deutsch sprechen oder nur eine branchenfremde Qualifikation haben. Auch das hat die Bahn grundsätzlich verstanden, wenn auch spät. Sie will Arbeiternehmer ohne Abschluss, aber mit Berufserfahrung, für ihre ICE-Werke nachqualifizieren. Zudem will sie bei der Einstellung von Azubis nicht mehr auf die Noten achten. Das geht in die richtige Richtung.

Doch eine umfassende, demografiefeste Personalpolitik ist nur in den wenigsten deutschen Unternehmen erkennbar. Leisten können sich das vor allem die Großunternehmen. Die kleinen und mittleren Betriebe fangen zwar auch an umzudenken, sie bilden zum Beispiel vermehrt weiter.

Während der Finanzkrise hielten auch sie trotz des großen Wachstumseinbruchs an ihren Mitarbeitern fest, das zeugt von ihrem Bewusstsein, dass sich diese nur schwer ersetzen lassen. Doch nur die wenigsten haben ihre Personalpolitik radikal umgestellt. Manchen fehlt schlicht das Wissen, vielen die finanziellen Ressourcen.

Der Staat ist bei der Bildung in der Pflicht

Forscher sehen deshalb auch die Politik in der Pflicht mitzuhelfen. Schließlich könnte der Mangel an produktiven Fachkräften die ganze Volkswirtschaft bremsen. Wissenschaftler sehen den Staat vor allem bei der schulischen Bildung, aber auch der Weiterbildung in der Pflicht, um Betriebe in ihren Bemühungen zu unterstützen, schlechter Qualifizierte fit für offene Stellen zu machen. Aber auch, um Erwerbstätige, unabhängig von den direkten Interessen der einzelnen, oftmals kurzfristig denkenden Betriebe weiter zu qualifizieren.

In den vergangenen Jahren wurde viel vom demografischen Wandel und den daraus folgenden Problemen für die Arbeitswelt geredet. Außer den Erleichterungen bei der Zuwanderung hat die Regierung wenig Konkretes unternommen. Schwarz-Gelb hat zwar eine Demografiestrategie entworfen, die auf zwei Demografiegipfeln vorgestellt wurde. Doch viel mehr als weitere Gespräche wurde bislang nicht beschlossen. Wenn Personalknappheit nicht zum Regelfall werden soll, bleibt für Wirtschaft und Bundesregierung viel zu tun.

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