26.07.13

Mick Jagger

Die unstillbare Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Mick Jagger, Prophet ewiger Jugend, wird 70 Jahre alt. Gründe zu zelebrieren gibt es für den unerschütterlichen Frontmann der Rolling Stones genug. Fragt sich nur, wer mitfeiern möchte. Von

Mick Jagger, das berühmte Faltengesicht des Rock
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Ein Schönheitschirurg hätte seinen Spaß an ihm: Das berühmteste Faltengesicht der Rock'n'Roll-Geschichte heißt Mick Jagger, geboren am 26. Juli 1943. Seit 1962 ist er Frontmann der Rolling Stones – und das sieht man.

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1963 sind die Stones im Studio der BBC zu Gast. Wie lange sie als Band zusammenarbeiten werden, können sie damals noch nicht sagen. "Vielleicht zwei Jahre", sagt Jagger ...

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Im Oktober 1968 versucht sich der Sänger auch als Schauspieler. In dem von Nicolas Roeg gedrehten Film "Performance" fährt er in einem Rolls-Royce, den er sich für die Szene bei Kollege John Lennon geliehen hat.

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Im Juli 2013 traten die Rolling Stones nach Jahrzehnten wieder im Londoner Hyde Park auf. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann rocken sie noch heute ...

Warum kann niemand Mick Jagger leiden? Wenn die Rolling Stones auftreten, wird Keith Richards für jeden spartanischen Akkord gefeiert und dafür, dass er noch lebt. In jeder Stadt wird Charlie Watts, der Stoiker am Schlagzeug, wie ein Fürst begrüßt. Ron Wood mögen die Menschen, weil er, wenn er nicht gerade Dienst hätte, mit ihnen um die Häuser ziehen würde.

Jagger stelzt und balzt über die Bühne, wechselt unermüdlich seine Hemden und singt in die Kamera der Videowand, um seinen Mund als Weltwunder zu präsentieren. Man nimmt ihn so hin. Er ist der Sänger, er war immer da. Mick Jagger ist so etwas wie der ewige Junge, der den Angehörigen und Nachbarn auf die Nerven geht mit seiner Sucht nach Anerkennung. Er strampelt sich ab, und keiner mag ihn.

Anfang Juli kehrte seine Band an einen heiligen Ort zurück, nach vierundvierzig Jahren: in den Londoner Hyde Park. 1969 hatten sich die Rolling Stones umsonst und draußen mit der Weltjugend verbrüdert, mit 250.000 Blumenkindern. Zwei Tage zuvor hatte die Band Brian Jones verloren, ihren blonden Prinzen, er war unglücklich im Schwimmbecken ertrunken. Weiße Schmetterlinge stiegen in den Himmel.

Jagger sagte "Adonaïs" von Percy Bysshe Shelley auf: "Peace, peace! He is not dead, he doth not sleep." Auch diesmal wurde viel geweint im Hyde Park, in Gedenken an die gute, alte Zeit. Die Londoner Presse reagierte auf die Rückkehr eher kühl. Die Kritiker erinnerten daran, dass es Mick Jagger war, der Brian Jones von seiner Tätigkeit als Gitarrist der Rolling Stones entbunden hatte. Suchtbedingt war Jones zu häufig arbeitsunfähig gewesen.

In der heutigen Lesart starb er also nicht an seinem Lebenswandel, sondern an den Kapitalinteressen seines Sängers. Zum Beweis listen die Kritiker die heutigen Eintrittspreise für einen Konzertbesuch im Hyde Park auf.

Keiner kennt Mick besser als Keith

Der Krämer wird von Künstlern und von solchen, die es gern geworden wären, generell gering geschätzt. Mick Jagger hat die London School Of Economics And Political Science besucht. Seit 1995 trägt er einen Ehrendoktortitel seiner Wirtschaftsschule. Großbritanniens Popmusik aber wurde von arbeitsscheuen Kunstschülern erfunden.

John Lennon, Pete Townshend, Ray Davies. Keith Richards fuhr täglich zum Londoner Sidcup Art College, als er Mick Jagger 1961 in der Bahn begegnete und mit ihm über Blues-Schallplatten plauderte. "Ob Mick und ich uns verstanden haben? Wenn ich mit einem Kerl, der 'Rockin' At The Hops' von Chuck Berry auf Chess Records und auch noch 'The Best Of Muddy Waters' unterm Arm trägt, in einen Waggon steige, dann müssen wir uns einfach verstehen. Ich meine, er besaß den Piratenschatz von Henry Morgan", schrieb Richards vor drei Jahren in seiner Autobiografie "Life". Bis zu ihrer Begegnung auf dem Schulweg kannte er Mick Jagger nur als Eisverkäufer.

Niemand kennt Mick Jagger besser als Keith Richards. Keine Frau hätte es je so lange an der Seite Jaggers ausgehalten. "Life", das Buch, war nicht nur Richards' sündenstolze Lebensbeichte, es war auch eine vernichtende Beurteilung des Glitzerzwillings. Eine indiskrete Seelenanalyse, eine triumphierende Charakterstudie: "Ich glaube, es hat was damit zu tun, Mick Jagger zu sein, die Art, wie er damit umgehen musste, Mick Jagger zu sein. Er kann ganz einfach nicht anders, als dauernd Mick Jagger zu sein."

"Auf Drogen war es leichter, den Leuten entgegenzutreten. Mick sonnte sich dafür in den Lobhudeleien der Fans." – "Bisher war mir nie aufgefallen, dass er so ein Kontrollfreak war. Mick hatte sich in die Macht verliebt, während ich, nun ja, künstlerisch tätig war." – "Wir nannten ihn nur noch Her Majesty oder einfach Madam." – "Mick ist ein Mensch, der ständig im Wettbewerb mit anderen ist. Warum will man ein anderer sein, wenn man Mick Jagger ist? Er heuerte Designberater an. Niemand hatte ihm das Tanzen beigebracht, aber jetzt nahm er Tanzstunden. Scheiße, Charlie und ich, wir haben diesen Arsch seit über vierzig Jahren vor unseren Augen! Wir wissen, wann der Arsch nach Tanzlehrerorder wackelt. Mick hatte auch angefangen, Gesangsstunden zu nehmen."

Und weiter: "Mick jagte jeder musikalischen Mode hinterher. Auf diese Weise hatte er die Mentalität eines Schwamms entwickelt." – "Micks Album hieß 'She's The Boss'. Das sagte alles. Ich habe mir das Ding nie ganz angehört. Aber wer hat das schon? Die gleiche Geschichte wie bei 'Mein Kampf'. Jeder hatte das Album, aber niemand hörte es sich an." – "Im Grunde hat er sich in einen Kühlschrank verkrochen." – "Micks Klassenbewusstsein war im Laufe der Jahre immer mehr zutage getreten."

Er strebte, wann immer möglich, nach Höherem

"Ab und zu schaute Mick vorbei, um sich mit mir über 'wirtschaftliche Umstrukturierung' zu unterhalten. Die Hälfte der Zeit laberten wir über Steueranwälte. Oder über die Feinheiten des niederländischen Steuersystems." Keith Richards schimpfte über Jaggers Vorlieben für Rohkost, er verwünsche Jagger wegen seiner unstillbaren Sehnsucht nach Bedeutsamkeit.

Schon in den späten 70er-Jahren zog es Jagger in New York, im "Studio 54" an der Seite Andy Warhols, auf den Thron des weißen Discokönigs. In den 80ern strebte er danach, Michael Jackson abzulösen.

In den 90ern und Nullern sammelte er strahlend Ehrentitel wie den königlichen Ritterschlag. Keith Richards machte sich in "Life" auch über Jaggers Genitalien lustig. Für die Rolling Stones waren die Memoiren eine Prüfung. Erst nach zähen Schlichtungsgesprächen sind sie nun wieder gemeinsam unterwegs: Die Firma steht für Jagger über allem.

Aus der Sicht des Rockromantikers kann man Mick Jagger dafür selbstverständlich nur verachten. Doch das sollte man nicht tun: Die Rolling Stones sind seine Band, er ist der Boss, sie sind noch da in ihrer seltsamen Symbiose zwischen rostigem Bluesrock und florierenden Geschäften. Auch Keith Richards weiß, was er dem singenden und tanzenden Buchhalter vorn an der Bühne zu verdanken hat.

Selbst bei den "Simpsons" trat die Band auf

Wer heute von Mick Jagger spricht, darf von den "Simpsons" nicht schweigen: In "It's Only Rock 'n' Roll" (Folge 293) tritt das sonderbarste Paar der Popgeschichte in Gestalt der gelbhäutigen Trickfiguren auf, es leiht sich selbst die Stimmen. Jagger: "Rock 'n' Roll ohne Gerichtsverfahren und Geschlechtskrankheiten." Richards: "Wir sind hier, um zu rocken!" Jagger: "Ich habe noch Tonnen von Papierkram zu erledigen." Richards: "Man muss in guter körperlicher Verfassung sein." Jagger: "Wir müssen billigere Hafergrütze kaufen."

Er war niemals krank. Aber auch das nehmen die Rockromantiker ihm übel. Die gekränkten Babyboomer, die mit Weisheiten älter wurden wie "Hail! Hail! Rock and roll! Deliver me from the days of old" und "Hope I die before I get old." Mick Jagger ("Time Is On My Side") galt lange als Prophet der ewigen Jugend.

Seit er Falten wirft, rechnen ihm alle das Gesamtalter der Rolling Stones vor und verlangen von ihm, er möge in Würde altern. Als wäre es würdevoller, Enten zu füttern als mit Models auszugehen; als wäre es seine Pflicht als älterer Herr, das Hemd über dem Hosenbund zu tragen wie die Männer vor der Bühne, die ihn peinlich finden.

Wer heute in Rente geht, ist schlecht aufs Alter vorbereitet, dem war in der Jugend etwas anderes versprochen worden. Jagger hat zuletzt der BBC erklärt, er hätte lieber einen geistig anspruchsvolleren Beruf ergreifen sollen. Lehrer, Journalist oder Politiker. Vielleicht wollte er nie gemocht werden. Mick Jagger feiert am 26. Juli 2013 seinen siebzigsten Geburtstag.

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