Vor 20 Jahren brannte im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen das „Sonnenblumenhaus“. Diese Bilder gingen um die Welt und markierten den brutalen Höhepunkt des größten rassistischen Pogroms der bundesdeutschen Geschichte.
Noch immer stellen sich viele Fragen um diese Tage im August 1992 und wie so oft gibt es gerade an „Jahrestagen“ das Bedürfnis, darauf Antworten zu finden.
Wie konnte es im Sommer 92 zu einem Pogrom kommen, an dem mehrere hundert Menschen aktiv beteiligt waren und der von einigen tausend Menschen vor Ort bejubelt und unterstützt wurde?
Von frustrierten und desillusionierten Menschen ist dann oft die Rede, die in Folge von Wende und Wiedervereinigung Jobs und Perspektiven verloren hätten. Und die nun auch noch mit einem hoffnungslos überfüllten Flüchtlingswohnheim in ihrem Wohngebiet konfrontiert wurden.
Sicher: Frust und Unsicherheit saßen bei vielen Menschen tief in dieser Zeit. Aber warum entlud sich dies in brutalstem Rassismus ?
Auch der Fokus auf die konkrete Situation in Lichtenhagen verschleiert mehr, als er zur Erklärung beiträgt.
Dazu ein kleiner Rückblick auf das Jahr 92 in Mecklenburg- Vorpommern:
14. März
In Saal bei Rostock überfallen 25 Personen ein Flüchtlingsheim und prügeln den 25jährigen Dragomir Christinel aus Rumänien zu Tode.
24. Mai
Rund 100 Personen überfallen ein Flüchtlingsheim in Güstrow. Zwei BewohnerInnen werden verletzt. Eine Frau wird mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht.
28.August, 29. August und 1. September
Neonazis versuchen ein Flüchtlingsheim in Greifswald anzugreifen.
5. September
In Trassenheide, Kreis Wolgast greifen etwa 40 Personen ein Flüchtlingsheim an.
8. September
Brandanschläge auf Flüchtlingsheime in Wolgast und Anklam
9., 10. und 12. September
Angriffe auf ein Flüchtlingsheim in Bockhorst im Kreis Güstrow
15. bis 19. September
Fünf Tage lang greifen Neonazis ein Flüchtlingsheim in Wismar an. Unter dem Beifall von AnwohnerInnen setzen sie auch Steine und Molotowcocktails ein. Am 19. September werden außerdem Heime in Güstrow, in Kröpelin, im Kreis Malchin, in Schwerin und im Kreis Uckermünde angegriffen.
Diese Aufzählung ließe sich noch endlos fortsetzen, doch schon dieser kleine Ausschnitt macht vor allem eines deutlich: Rassistische Angriffe waren damals keine Ausnahme und hatten schon gar nichts mit besonderen, lokalen Gegebenheiten zu tun. Vielmehr sammelten sich überall im Land rassistische Mobs und versetzten jene in Angst und Schrecken, die vor Krieg, Verfolgung und sozialer Not in die BRD geflohen waren.
Und all das passierte nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern bundesweit. So hatten schon im Mai 1992 hunderte RassistInnen über mehrere Tage ein Flüchtlingsheim in Mannheim angegriffen.
Wenn also nach den Ursachen für die explodierende, rassistische Gewalt in den frühen 90er Jahren gefragt wird, so fällt uns darauf folgendes ein: jene Zeit war geprägt von einer Renaissance des Nationalismus, der 1990 einen enormen Aufschwung in Ost und West nahm und sich zunehmend aggressiv äußerte. Gleichzeitig befeuerten rassistische Debatten um das Recht auf Asyl in Politik und Medien eine immer offenere Ablehnung von Flüchtlingen und anderen MigrantInnen in weiten Teilen der Bevölkerung.
Wer also ernsthaft begreifen möchte, wie es dazu kommen konnte, dass damals Hunderte bereit waren, ein Haus anzuzünden, in dem sich fast 150 Menschen befanden, während Tausende applaudierend daneben standen, der muss vor allem den offenen, brutalen Rassismus dieser Zeit und dessen Ursachen in den Blick nehmen. Er ist nicht aus „Vorurteilen“ oder in den „Wirren“ der Nachwendezeit entstanden, sondern fruchtete auf dem Boden einer rassistischen Politik der Ausgrenzung.
Welche Lehren und Konsequenzen sind heute aus den damaligen Ereignissen zu ziehen?
Das Pogrom in Lichtenhagen steht bis heute auch für eine unglaubliche Ignoranz politischer VerantwortungsträgerInnen gegenüber den Betroffenen. Während der Mob in der Stadt tobte, wetterte der damalige Bundesinnenminister vor Ort erneut gegen den „Missbrauch des Asylrechts“ und den „unkontrollierten Zustrom in unser Land“. Neben den damaligen Kampagnen gegen die „Asylantenschwemme“ im Bundestag und in den Leitmedien wirken heutige neonazistische Mobilisierungen gegen einen vermeintlichen „Volkstod“ geradezu hilflos.
Nicht nur dass die Betroffenen des brutalen Rassismus keinerlei Unterstützung und Anteilnahme erfuhren. Sie wurden vielmehr zu den eigentlichen VerursacherInnen der Angriffe erklärt.
Und heute? Sind solche offensichtlichen Formen einer Täter/Opferverschiebung immer noch an der Tagesordnung?
Betrachten wir einmal den staatlichen Umgang mit den Morden des NSU.
Auf der einen Seite fällt uns die Gedenkveranstaltung im Februar diesen Jahres in Berlin ein. Die höchsten RepräsentatInnen dieses Landes verneigen sich vor den Opfern und entschuldigen sich bei deren Angehörigen, die ebenfalls zu Wort kommen.
Andererseits wissen wir alle, dass die Ermittlungsbehörden die Schuld für die Morde jahrelang bei den Opfern gesucht haben. In stundenlangen Verhören wurden Angehörige und Bekannte mit der Unterstellung konfrontiert, die Ermordeten seien in kriminelle Machenschaften verstrickt und deshalb ermordet worden. Die Sichtweise vieler MigrantInnen, die schon vor Jahren von rassistischen Tatmotiven ausgingen, wurde schlichtweg ignoriert. Ermittlungen in diese Richtung fanden – wenn überhaupt – nur halbherzig statt und wurden schnell wieder eingestellt.
Heute – neun Monate nach Bekanntwerden der rassistischen Mordserie – fehlt es noch immer an einer öffentlichen Debatte und konsequenter Aufklärung in Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland in dem das neonazistische Terrornetzwerk offenbar gute Bekanntschaften hatte und in dem es nicht nur mordete, sondern auch Geld für das Leben im Untergrund raubte. Ein Untersuchungsausschuss, wie in anderen Bundesländern, fehlt genauso wie kontinuierliche und intensive journalistische Recherche.
Noch immer ist unklar, ob, wann und wie dem NSU-Opfer Mehmet Turgut in Rostock gedacht wird. Die Initiative zur Umbenennung jener Straße, in der er im Februar 2004 erschossen wurde, ist zumindest vorläufig gescheitert. An LokalpolitikerInnen, die „keinen Wallfahrtsort“ in ihrem Stadtteil haben wollen. Oder von „Opfern zweiter Klasse“ schwadronieren, denn schließlich würden nach Opfern anderer Morde ja auch keine Straßen benannt. Und man wisse ja gar nichts über den Ermordeten, der sich möglicherweise sogar ohne offizielle Genehmigung in diesem Land aufgehalten hat.
Ob diese verbalen Querschläger „nur“ Ausdruck der Unfähigkeit sind, die Tragweite der rassistischen Morde zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen oder ob mehr dahinter steckt, sei erst mal dahin gestellt. In jedem Fall sind auch sie Ausdruck von Ignoranz gegenüber Opfern rassistischer Gewalt, wie sie auch 20 Jahre nach dem Pogrom von Lichtenhagen noch weit verbreitet ist.
Wir können und müssen auf diese Mängel hinweisen, wir müssen Rassismus identifizieren und bekämpfen – in der Politik und im Alltag.
Doch unsere wichtigste Konsequenz aus den Ereignissen vor 20 Jahren heißt: uneingeschränkte Solidarität mit Betroffenen rassistischer Gewalt – Immer, überall und auf allen gesellschaftlichen Ebenen!