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Libertà per Antonio Speziale?

von altravita · Mittwoch, 10. Oktober 2012 · 8 Kommentare · 0 Trackbacks/Pingbacks

Catania

Catania

Das Jahr 2007 mit den beiden Todesfällen Gabriele Sandri und Filippo Raciti stellt auf vielen Ebenen einen point of no return für die italienische Ultràbewegung dar. Im Nachgang zu den Vorfällen wurde, begleitet durch das Trommeln der Medienindustrie, eine Reihe von Sondergesetzen entworfen bzw. bereits bestehende Maßnahmen und Dekrete durchgesetzt. Ohne eine grundlegende Idee dieser beiden Ereignisse ist das "Davor" und "Danach" italienischer Kurven kaum verständlich zu machen. Der Lazio-Fan Gabriele Sandri wurde im November 2007 durch einen Polizisten auf einem Autobahnrasthof in der Nähe von Arezzo erschossen. Der Polizist Filippo Raciti kam während Zusammenstößen von Fans von Catania und Palermo im Umfeld des sizilianischen Derbys im Februar 2007 ums Leben. Bereits vor 5 Jahren hatte ich mich einiger Ungereimtheiten bei der Schilderung des Tathergangs angenommen und mich dabei insbesondere auf die Schilderungen der Repubblica gestützt. Verurteilt wurde der zum Tatzeitpunkt erst 17-jährige Antonio Speziale aus Catania in zwei Instanzen wegen Totschlags zu 14 Jahren Haft.

Und weil eine Dokumentation über den derzeitigen Zustand italienischer Stadien sich zwangsläufig um das Jahr 2007 drehen muss, besuchten wir im Rahmen unseres Dokumentarfilmprojekts für das ZDF auch die wunderschöne sizilianische Hafenstadt Catania. Unter anderem erhielten wir Gelegenheit, mit Antonio Speziale und seinem Anwalt Giuseppe Lipera zu sprechen. Unser Besuch in Catania war sicherlich für alle Beteiligten ein atemberaubendes Erlebnis. Nicht nur wurden wir in dieser von Stadionverboten und Repressionsmaßnahmen seit 2007 noch einmal besonders getroffenen Fanlager herzlichst empfangen, die dortigen Ultràs luden uns auch in das Herz ihrer Szene ein. Wir durften bei ihnen schlafen, gemeinsam mit ihnen feiern, sie beim (viermaligen!) unterschreiben am Spieltag vor der Polizeiwache filmen, wir wurden von ihnen stilecht mit Vespas zum Stadion fahren und konnten viele wunderschöne Eindrücke mehr gewinnen. Leider haben wir es rein zeitlich nicht geschafft, alle Gruppen zu filmen, die uns mit sizilianischer Gastfreundschaft und Herzlichkeit überschüttet haben; insofern seien die "Irriducibili" und die "Skizzati" hier wirklich nur beispielhaft genannt. Ein besonderer Dank geht an den "Principe", den besondersten Fan der Catanesi (wer weiß, der weiß). Die "Irriducibili" erlaubten uns, sie beim Warmsingen an ihrem Treffpunkt vor dem Stadion zu filmen, ihre Biere zu teilen und sorgten mit süditalienischer Rafinesse dafür, dass unser Protagonist sich das Heimspiel gegen Napoli in beiden Kurven anschauen konnte. Auch die "Skizzati", Antonio Speziales Gruppe aus dem armen Stadtteil "Passarello", luden uns ins Herz ihres "Ghettos" ein und erfreuten uns mit Pyrotechnik, ihren Murales und Sprechchören für Antonio. Hierzu sollte ich womöglich anmerken, dass "Passarello" kein Quartier ist, durch das ein neugieriger Tourist so einfach mal durchschlendert. Unsere Autokarawane wurde dann auch sofort nach Sichtung von Jungs auf Vespas verfolgt, auf ein Zeichen unseres "Kontakts" verschwanden aber auch diese sofort. Don’t try this at home!

Aber ganz unabhängig davon ermöglichten es uns die Gruppen, an einem Sonntagabend um 21.00 Uhr (!) Antonio Speziale in der Kanzlei seines Anwalts Giuseppe Lipera zu treffen. Dort nahm sich Strafverteidiger Lipera – ein herrlich typischer Sizilianer mit Schnauzbart und 5 Packungen Zigaretten auf dem Schreibtisch – die Zeit, mit uns ausführlich über den Fall Raciti und seinen Mandanten Speziale zu reden, zudem bekamen wir eine exakte Kopie der blechernen Waschbeckenummantelung gezeigt, mit der – zumindest laut den vorherigen Instanzen – Antonio Speziale den Inspektor Raciti getötet haben sollte. Am 14. November 2012 wird in Rom die Berufungsverhandlung vor der Fünften Strafkammer des Kassationsgerichtshofs in Rom beginnen. Lipera zeigte sich äußerst zuversichtlich, dass Speziale diesmal freigesprochen wird und untermauert diese Hoffnung durch die mitterweile erfiolgte Haftentlassung Speziales (er muss 21 Uhr seinen Hausarrest antreten) und das soeben zurückgerufene verlängerte Stadionverbot gegen ihn. Der wissenschaftliche Dienst der Polizei in Rom ("RIS") hatte per Gutachten kategorisch ausgeschlossen, dass die blecherne Waschbeckenummantelung für die tödlichen Verletzungen Racitis (4 Rippenbrüche, Leberriss) verantwortlich gewesen sein konnte. Ich habe das Teil mit meinen eigenen zwei Fingern mühelos angehoben und kann dem nur zustimmen; wenn man es wirft, schwebt es vermutlich zu Boden.

Dann bliebe aber tatsächlich nicht mehr viel von den Vorwürfen gegen Antonio Speziale übrig. Für Details verweise ich auf meinen oben verlinkten Text aus dem Jahr 2007, aber ich möchte noch einmal grob zusammenfassen und die Aussagen seines Strafverteidigers einfließen lassen: Es gab eine Aufnahme, die Speziale beim Werfen dieses Blechs zeigte, keine davon, wie es irgendjemanden getroffen hat. Auch von den Kollegen von Racitis Polizeitruppe, die die ganze Zeit an seiner Seite bzw. hinter ihm standen, hatte niemand zu keinem Zeitpunkt gesehen, dass Raciti von irgendetwas getroffen wurde, er setzte seinen Dienst ja auch noch stundenlang unbeeindruckt fort. Die zweimalige Aussage eines Polizisten, er hätte beim Zurücksetzen seines "Defender"-Jeeps erinen Aufprall gespürt und beim Herumdrehen unzweifelhaft den Kollegen Raciti auf dem Boden liegen gesehen, wurde im Prozess zurückgezogen. Ein Augenzeugenbericht, der sich i.ü. mit den blauen Farbspuren vom Defender deckt, die auf Racitis Uniform gesichert wurden und für die meines Wissens niemals eine andere Erklärung gefunden wurde. Wir haben also Aufnahmen von einem jungen Ultrà, der etwas wirft, keine Aufnahmen oder Zeugenaussagen, wie er jemanden trifft. Lange später wird Raciti (Aussage zurückgezogen oder nicht) von einem Polizeijeep im Rückwärtsgang angefahren, was nach dem gesunden Menschenverstand einen Leberriss und Rippenbrüche schon eher erklärt, als ein dünnes Blech, das sich mit 2 Fingern anheben lässt. Zumal es ja sonst keine weiteren Beweismittel oder Zeugenaussagen gibt.

Der Fall des getöteten Polizisten sorgte seinerzeit für ein riesiges Medienecho im In- und Ausland, Riot-Bilder überfluteten die Zeitungen und Nachrichtensendungen und das Bonmot von den "italienischen Verhältnissen" hatte wieder einmal einen dezidiert negativen Geschmack. Das in einem Land, das wie kaum ein anderes auf "bella figura", den schönen Schein, ausgerichtet ist. Giuseppe Lipera vermutet, dass er wegen des medialen Drucks bereits drei Tage nach der Tat im Gerichtsgebäude beiseite genommen und mit den Worten überrascht wurde: "Ihr Mandant ist der Täter. Erklären sie es ihm." Vor dem Gericht wurde er von Journalisten bedrängt, die bereits auf denselben Schuldigen geeicht waren und am nächsten Tag beschieden 9-spaltige Überschriften, dass der "Mörder Racitis" gefasst sei. Und das ohne Beweismaterial oder gar ein Geständnis des Verdächtigen in der Hand zu haben. Lipera meint, dass der Druck, der erregten Öffentlichkeit schnell einen Täter präsentieren zu müssen, dazu geführt hat, dass man einen Jugendlichen aus einem der ärmsten Stadtteile Catanias dazu hernahm. Und dass nun nach 5 Jahren und abgeflautem Medieninteresse womöglich ein gerechteres Urteil gefällt werden dürfte.

Ich bin kein Anwalt und ich will mich bei der Beurteilung des Falls Filippo Raciti/Antonio Speziale daher auch gar nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Mein Unverständnis zum Prozess hatte ich in den beiden vorherigen Artikeln zum Thema bereits dargestellt, meine Gespräche mit Herrn Rechtsanwalt Giuseppe Lipera und insbesondere mit dem ungemein sympathischen Antonio Speziale selbst bestärken mich allerdings in meiner Ansicht, dass das letztinstanzliche Urteil womöglich etwas näher an den tatsächlichen Geschehnissen am 02.02.2007 orientiert sein wird. Insbesondere, weil mittlerweile per Gutachten der RIS Roma ausgeschlossen ist, dass Speziale den Polizisten Raciti mit dem Waschbeckenunterbau getötet haben könnte – und das ganz abgesehen davon, dass niemand gesehen oder gefilmt hat, dass er denn davon überhaupt getroffen wurde. Speziale ist derweil unter Auflagen auf freiem Fuß, sein Stadionverbot wurde aufgehoben. Lipera ist sich sicher: "Beim Tod des Polizisten Raciti handelt es sich um einen tragischen Unglücksfall." Sollte es tatsächlich zu einem Freispruch kommen, wäre die zweite Säule der Begründungen für die nach 2007 durchgedrückten Sonderdekrete gegen italienische Ultràs gekippt. Gabriele Sandri wurde ja sowieso – fernab eine Stadions – durch einen Polizisten erschossen. Einen Polizisten, der wegen Totschlags an Gabriele Sandri verurteilt wurde und in Haft sitzt.

Ein Paar Eindrücke aus Catania

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Giorgio Specchia: “Der Rowdy” – Kapitel 23, Der Mopedwurf

von altravita · Sonntag, 7. Oktober 2012 · 3 Kommentare · 1 Trackbacks/Pingbacks

Giorgio Specchia "Il Teppista/Der Rowdy. 30 verdammte Jahre in Mailand."

Giorgio Specchia "Il Teppista/Der Rowdy. 30 verdammte Jahre in Mailand."

Apropos Angriffe durch Ultràs, Nino zeigt Anzeichen von Nervosität. Die aus Bergamo, die Atalantini, funken unaufhörlich Signale an die Curva Nord. Sie wollen um jeden Preis die Auseinandersetzung. Und die aus Bergamo sind schon seit immer ein organisiertes, ernstzunehmendes, geschlossenes, gefürchtetes und in ganz Europa bekanntes Fanlager. Unter den BG gibt es einen mutigen Kerl. Bermudas, Flip-Flops, ärmelloses Hemd: die finden ihn sogar charismatisch. Er hat aber die dumme Angewohnheit, sich ein bisschen zu sehr in Szene zu setzen. Die Scheinwerfer, die Objektive der Fotografen, die Fernsehkameras, zeigen ihn andauernd mit freiem Oberkörper. Er ist der populäre Anführer jedweder Ansammlung von Atalantini, offiziell oder nicht. Alle respektieren ihn, alle folgen ihm. Er erzählt und predigt über die Ultrà-Mentalität. Die Nordkurve von Inter ist bereit, ihn willkommen zu heißen.

- Der redet von Mentalità, aber wo hat der denn gesteckt, als es noch keine Polizeibegleitung gab? – fragen sich die über Vierzigjährigen.

Eben, der Polizeischutz ist das Problem, das es zu umgehen gilt. Und die BG finden die Lösung. Sie beschließen, einfach mit dem Moped zum San Siro zu fahren. Ein gigantischer Umzug aus Mopeds. Im Zeitalter des Internets und der delirierenden Chats unter Computer-Ultràs (das sind die, die sofort abhauen, wenn sie den ersten Bullen sehen) sickern ein paar Informationen durch. Die Interisti glauben die Geschichte nicht, bereiten sich aber trotzdem lieber auf den Besuch vor. Massen brechen in Bergamo auf. Sie sind entschlossen, immer bereit zum Kampf. In Mailand trifft sich die Nord wie üblich am “Baretto” unter der Kurve.

Inter-Atalanta, Mai 2001, ist kein Spiel wie jedes andere. Die BG sind keine Trottel wie die Gobbi der Juventus, sie sind zäh. Wirklich genau wie ihr Capo. Und am San Siro herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Auf der riesigen Piazzale dello Sport steht der Verkehr plötzlich still. Eine unwirkliche Stille legt sich über den Platz. Aber es fehlt nicht mehr viel bis zum Anpfiff. Der Verkehr ist seit einigen Minuten gesperrt, die Straßenbahnen stehen am Endhalteplatz still, die letzten Familien hasten zu den Eingängen. Die Leute, die da bleiben, richten ihren Blick zum Horizont. Da ist ein riesiger schwarzer Fleck, der näher kommt. Erst zischt er, dann brüllt er, dann donnert er. Sie sind es, die BG. Sie sind viele und sie kommen dem Stadion, geschlossen, immer näher. Die Polizei ist aufgestellt, aber einen Corteo aus Scootern aufzuhalten ist praktisch unmöglich. Nino und seine Gruppe machen sich bereit.

- Hört hin, sie kommen. Los, gehen wir rüber auf die andere Straßenseite, vielleicht erwischen wir ein paar.

BG und Nord stehen sich bald schon Angesicht zu Angesicht gegenüber. Die Polizei ist, dieses Mal, desorientiert. Der Schwarm aus Mopeds rückt bis auf hundert Meter an das “Baretto” vor. Der Capo der BG umgeht mit einem Dutzend vom harten Kern die Ordnungskräfte. Auch sie fahren ganz ans Ende, wo Nino auf sie wartet. Es scheint der Anfang vom Ende. Stangen, Messer. Nino hält die BG in Schach, die ihm entgegenkommen. Hiebe pfeifen durch die Luft. Da ist ein glatzköpfiger BG, um die Vierzig, der auf Armlänge an Nino herankommt. Ein ungleicher Kampf. Nino steht kurz davor, ihn zu Klopsen zu verarbeiten, aber keiner weicht auch nur einen Millimeter zurück. Ende der Vorstellung: die Polizei greift genau auf diesem Stück Straße an und ein paar Sekunden später ist alles vorbei. Der Glatzkopf liegt auf dem Boden, mit einer Schnittwunde. Ein paar Scooter bleiben übrig, von den BG geparkt. Eins von ihnen gehört ihrem Capo. Für die Nord wird er zum Symbol für die Flucht der Rivalen, zum Skalp, den man dem Feind unter die Nase halten muss. Im San Siro ist das möglich: da gibt es tatsächlich eine äußerst bequeme Rampe, die in den zweiten Oberring führt. Und ein Scooter ist dann auch gar nicht so schwer. Während des Spiels taucht er dort oben auf, im Herzen der Kurve.

- Verbrennen wir ihn vor ihren Augen!

Ein Grüppchen von fünf oder sechs Leuten stürzt sich auf das Moped. Sie bearbeiten es mit Tritten und Schlägen, als ob das arme Gefährt ihre Mütter vergewaltigt hätte. Im kollektiven Rausch degeneriert die Situation. Sie heben den Scooter an und schmeißen ihn hinunter, er rollt gefährlich die Stufen des zweiten Oberrings herunter und steht kurz davor, abzuprallen. Der letzte Hüpfer könnte ihn über das Geländer katapultieren, in den Abgrund, für einen tragischen Sturz in den Unterring, zwanzig Meter weiter unten! Der finale Abpraller wird, glücklicherweise, vom Sattel und der Kante einer der unteren Sitzreihen aufgefangen. Das Moped beendet seine irre Jagd, von den Fernsehkameras in die weltweiten Wohnstuben übertragen, am Geländer. Genau da, wo das Spruchband “Wählt Pilati” hängt. In Wirklichkeit handelt es sich um ein besprühtes weißes Bettlaken, das ein junger Mann aufgehängt hatte, der für die Lega Nord für den Mailänder Stadtrat kandidierte. Ihm werden am Ende rund hundert Stimmen fehlen… Währenddessen wird die Prügelei mit den Scootern aus Bergamo zum Fernsehspot gegen Stadiongewalt. Politiker werden ihn verwenden, um die Einführung neuer Maßnahmen zur Gewaltprävention zu rechtfertigen. Das sind Spezialgesetze, die sich nicht mehr an den Grundsätzen der staatsbürgerlichen Rechte und der Demokratie orientieren: die Kategorie “auf frischer Tat ertappt” wird auf 48 Stunden ausgedehnt, Verbot, sich auf italienischem Staatsgebiet frei zu bewegen, sofortiges automatisches Stadionverbot allein durch eine Anzeige, noch vor dem Prozess und daher ohne Möglichkeit, sich zu verteidigen. Als ob man sagt: erst gehst du in den Knast, dann reden wir drüber. Und wer Stadionverbot bekommt (DASPO: Divieto di Accedere alle manifestazioni SPOrtive), hat die Verpflichtung, immer auf der Wache eine Unterschrift zu leisten, wenn seine Mannschaft spielt. Also vierzig bis sechzig Mal pro Jahr! Der geniale Einfall mit den Scootern übersetzt sich in ein vernichtendes Eigentor für die Leute aus der Kurve und eine Vorlage für bestimmte Journalisten. Denn in einer Presselandschaft, die sich zum größten Teil politischen und finanziellen Interessen verkauft hat (keine italienische Zeitung kann nur von ihren Lesern leben), können sie sich nur noch an den Kurven und (wahrscheinlich) gedopten Radrennfahrern austoben. Mittelalterliche Strafen werden wieder modern. 2010 wird der Capo der BG verbannt, ins Exil geschickt. Wie Dante. Die üblichen straffreien italienischen Familien treiben, auf den Rücken der Menschen, natürlich weiterhin ihr Unwesen.

Den Ultràs bleibt nur der Zorn. Und Nino ist, nach dem wahnsinnigen Sonntag der Scooter, wütender als jemals zuvor. Er ist sauer auf die Jungs, die den Scooter die Ränge hinuntergeworfen hatten und vor allem auf die BG. Er, der im Stadion aufgwachsen ist weiß, das es jetzt mit der Repression losgeht.

- Alles Schuld dieses beschissenen Säufers. Der und seine Ideen. Wie gern ich ihn nur für ein paar Sekunden zwischen die Finger bekommen würde. Nur ich und er…

Die Gelegenheit, sich wiederzusehen dreht sich immer um einen Fußballplatz. Diesmal weit weg vom Scheinwerferlicht, weit weg von den Millionen der Profis. Die Mannschaft von Bonate kommt nach Cologno, ins Mailänder Hinterland: Amateursport in Reinkultur. Für Bonate spielt “der da”, der BG von der Provokation mit den Mopeds unter der Nordkurve des San Siro. Und die Kurve darf nicht fehlen beim Spiel von Bonate in Cologno. Sie erwarten das Spiel, als wäre es ein Finale der Champion’s League. Der Minibus der Gastmannschaft ist pünktlich, ihm voran ein Auto, das plötzlich scharf bremst. Der Fahrer öffnet die Tür und steigt aus dem Wagen.

- Seid ihr verrückt geworden? Ich knall euch gleich eine.

Aus dem Auto steigen fünf Mann aus. Gleichzeitig kommen fünf weitere von der linken Straßenseite hinzu, ebensoviele von der rechten. Von hinten überholt ein Auto. Auch die steigen aus. Der Minibus ist umstellt. Man hört Schreie.

- Die sind wegen mir da. Versteckt euch unten. Schnell, Scheiße.

Eine Flamme, zwei, drei. Nach wenigen Sekunden hüllen die Bengalos die kleine Straße in Cologno in Rauch. Stein- und Flaschenhagel fliegen los. Zwischen den Sitzen am Boden zusammengekauert sehen die Jungs aus Bonate alle Fenster zersplittern. Aber die Gefahr stellt das Feuer dar. Die Rauchtöpfe und Fackeln könnten einen höllischen Brand entfachen. Dann beruhigt sich alles wieder. Der Minibus ist zu Schrott verarbeitet und dem Capo der BG wurde mit gleicher Münze heimgezahlt. Ein Überraschungsangriff, demonstrativ, auf ein leichtes und absurdes Ziel: eine Amateurmannschaft, einfach um zu zeigen, dass ein BG in Mailand nicht bestimmen kann.

Kapitel 23: “Der Mopedwurf” aus dem Buch “Der Rowdy” von Giorgio Specchia, Lebensgeschichte von Nino Ciccarelli, Urgestein der “Viking” Inter. Das Buch erscheint im November auf deutsch im Burkhardt & Partner Verlag.

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Und ich bin dort, wo ich auf keinen Fall sein dürfte.

von altravita · Freitag, 5. Oktober 2012 · 4 Kommentare · 2 Trackbacks/Pingbacks

Choreo-Vorbereitung

Choreo-Vorbereitung

Von meiner Tour für die Italien-Doku im ZDF habe ich jede Menge neue Kontakte, Eindrücke und Erfahrungen mitgebracht. Einerseits haben wir Städte und Stadien besucht, die ich noch nicht kannte, andererseits war ich ja noch nie mit einer Kamera und Drehteam unterwegs. Nach so ein paar Jahrzehnten Stadion ist mir natürlich schon klar, dass sich in Fußballkurven keinesfalls nur "Chaoten", "Verbrecher" und anderes Gesocks rumtreibt, das weggesperrt gehört. Aber wenn man mit acht Leuten, Kamera und Tontechnik aufschlägt ist das natürlich schon was anderes. Und hier nehme ich auch die überraschendste Erkenntnis mit, die ich den lieben Journalisten mit auf den Weg geben möchte: Natürlich reden Ultràs offiziell nicht mit der Presse und sie haben auch gute Gründe dafür. Wenn man sich aber ordentlich präsentiert, Neugier zeigt und Objektivität androht, dann öffnen sich diese Menschen nicht nur, man bekommt mit Kamera auch Dinge zu sehen, die man ohne Kamera unmöglich erlebt hätte. Denn Stadionkurven sind entgegen der veröffentlichten Meinung von Menschen bevölkert, Menschen mit Biografien, Menschen die Geschichten zu erzählen haben und die diese auch durchaus erzählen wollen. Mit dem folgenden möchte ich mit dem Märchen aufräumen, dass man ja nicht über Ultràs berichten kann, weil die ja nicht mit den Medien reden. Unfug, der eure Faulheit, euer Desinteresse und eure Redaktionsvorgaben kaschieren soll.

Ich bin bekanntlich Milanista. Und am Sonntag wird das Mailänder Derby steigen. Beide Kurven bereiten seit Monaten Choreografien vor, die den Fußballtempel San Siro Stadion noch einmal im alten Glanz erstrahlen lassen werden. Der Inhalt dieser Choreografien gehört zu den bestgehütetsten Geheimnissen auf dem Planeten, denn die größte Schande für eine Kurve wäre es, wenn die Gegenseite die Antwort-Choreo parat hätte. Dies muss auf alle Arten und Weisen verhindert werden und so wissen nicht einmal alte Capos die aktuelle Choreo, auch sie werden sie erst bei Aufführung am Spieltag erfahren. Und wenn die eigenen Leute, die sich in teils mehreren Jahrzehnten ein gewisses Standing erworben haben, die Choreo nicht wissen können, dann darf ein Milanista sowas natürlich als letzter erfahren. Oder Journalisten. Meint man. Also rufe ich ein paar Leute der Curva Nord an und sage, dass wir für eine Dokumentation des Zustands des italienischen Fußballs unterwegs wären und wir gern mit ihnen drehen würden. So wie jeder Journalist das auch könnte, der ein Telefon bedienen kann. Mit dem Vorteil, dass er nicht von der "falschen" Seite der Stadt wäre; Journalist in Tateinheit mit Milan-Fan mit durchaus Kontakten in die eigene Kurve ist ja sozusagen das worst case scenario.

Nun, liebe Journalisten, ihr wisst nicht, was euch entgeht. Wir treffen uns allesamt in der besten Brötchenbar der Stadt, der "Bar della Crocetta" am U-Bahnhof "Crocetta". Dort gibt es eine Karte mit gefühlten 500 verschiedenen belegten Brötchen mit Namen wie "Fossa", "Viking", Milito" oder einfach "Sara". Muss man hingehen. Und wir warten auf das, was da passieren mag, während die Küchenfee uns ungefragt einen Teller nach dem anderen aus der Küche bringt. Es ist Donnerstag und wir müssen warten, bis unsere Kontakte vom "Raduno" – dem wöchentlichen Treffen der Curva Nord kommen. Später werden wir erfahren, dass die gesamte Rechnung bereits bezahlt ist und niemand mit uns über Geld reden möchte. Als die hochrangigen Vertreter und Vertreterinnen (!) von Inter aufschlagen, wird sich begrüßt, umarmt, viel Bier getrunken und vielleicht freht sich der eine oder andere auch einen Joint. In der Zwischenzeit reden wir über das, was wir schon gedreht haben und was das Ziel unseres Films ist. Und selbstverständlich fahren sie uns danach ins Hotel. Die normalste Sache der Welt, liebe Journalisten, man könnte ja einfach mal fragen.

Am nächsten Tag, nach den üblichen Dreharbeiten am San Siro, verabreden wir uns am "Covo", dem geheimen Treffpunkt der Mailänder Nordkurve. So geheim, dass selbst Giorgio Specchia, Autor des Buchs "Der Rowdy", mich hinterher fragt, wie das da so sei. Hab’s ihm natürlich nicht gesagt. Kann er ja später im Fernsehen anschauen, denn natürlich durften wir die heiligen Hallen drehen, in denen u.a. das Material für die Choreo gelagert wird. "Fühlt euch einfach, wie Zuhause. Bier steht dahinten, bedient euch". Ein paar Lieferwagen-Füllungen später geht es in der Karawane in Richtung einer Lagerhalle, wo die Jungs sich für drei Tage verkriechen würden, um die mehr als 5.000 Quadratmeter feuerfester Stoffbahnen zu bemalen. Auch hier dieselbe Ansage: "Dreht was ihr wollt, nur nicht den Anfahrtsweg. Greift bei Bier und Essen zu, wir müssen eh nochwas nachholen. Fühlt euch wie Zuhause." Nichts einfacher als das. Und so steht ein Drehteam des ZDF in einer Industriehalle mit zwei stilechten Straßenwalzen und filmt junge Menschen dabei, wie sie Zeit und Geld opfern, um ihrer Leidenschaft und ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen, das Stadion zu illuminieren und dem Pay-TV die Bilder zu liefern, mit denen es so gerne wirbt. Eine solche Choreografie kostet um die 25.000 Euro und endlose Nächte, das ungefähre Dutzend Beteiligter schloss sich für 3 Tage dort ein, schlief, aß, rauchte und trank dort. Mit uns Journalisten, geführt von einem Milanista, man kann das nicht oft genug erwähnen.

Und so filmten wir "Il Rosso", wie er auf einer der malerischen Straßenwalzen stand wie ein Regisseur und Anweisungen gab oder wie er hochkonzentriert mit dem Edding über die riesigen Stoffbahnen schritt, um hier oder da noch Korrekturen vorzunehmen. Wir teilten Bier und Zigaretten, als wäre unsere Anwesenheit die normalste Sache der Welt. Wir führten Interviews oder redeten über Frauen und Fußball. Warum? Weil Ultràs Menschen sind, Menschen ohne Heiligenschein, aber mit Sicherheit nicht das Grundübel des korrupten und dem Geld geopferten Fußballbetriebs. Menschen, die Werte leben und die die Ungerechtigkeit hassen, mit denen sie unisono als "Verbrecher" abgestempelt werden, die "mit Fußball nichts am Hut haben". Mit Fußball nichts am Hut? Wo sie doch praktisch ihre gesamte Freizeit damit verbringen, den schönsten Teil des Spektakels Fußball vorzubereiten? Ohne dafür von irgendjemandem Geld oder auch nur ein "Danke" zu hören. "Es ist schon viel, wenn irgendjemand vom Verein auf der Ehrentribüne aufsteht und mal applaudiert." Nein, wir haben Menschen filmen dürfen, die Geschichten zu erzählen haben und diese auch gern erzählen wollen. Die uns einladen, darüber zu berichten, was Ultrà jenseits der problematischen Aspekte eben auch schon immer war: Anerkennung, Freundschaft, Respekt, Leidenschaft und Aufopferung. Menschen, die uns einfach eingeladen haben, zwei Tage mit ihnen gemeinsam zu verbringen und uns selbstverständlich am Spieltag auch in ihre Kurve eingeladen haben, direkt hinter dem Vorsänger, einem Platz, den man sich sonst jahrelang erarbeiten muss.

Gastfreundliche, charmante, intelligente und witzige Menschen. Menschen, denen daran liegt, in die Öffentlichkeit zu bringen, dass die eigene Kurve, die eine unter verschiedenen Aspekten sehr problematische Vergangenheit hat, sich seit Jahren schon wandelt hin zu einer bunteren, "choreografischeren" und gesangsfreudigeren Kurve. Einer Kurve, die ihre Vergangenheit nicht leugnet und durchaus reflektiert darüber spricht, die aber auch darauf hinweist, wie man gemeinsam mit der Curva Sud von Milan bei den Kommunalwahlen Mailands 2011 dafür gesorgt hat, dass die Mitte-Rechts-Regierung der seit Jahrzehnten "schwarzen" Festung Mailand abgewählt wurde und mit der Inthronisierung des Sozialisten Pisapia als Bürgermeisterder erste Baustein zum Sturz Berlusconis gelegt wurde. Eine Kurve also, die bei aller berechtigten Kritik deutlich flexibler ist, als die Berichterstattung über sie. Ultràs, die durchaus ihre Gründe diskutieren, die sie dazu bewogen haben, nach langen Diskussionen, die "Tessera del Tifoso" zu unterschreiben. Die aber durchaus anerkennen, dass andere Kurven sich mit anderen Problemen und Realitäten herumzuschlagen haben und sich anders entschieden haben. Wir haben also durchaus erlebt, wie Entscheidungen in selbstreflektierten und selbstkritischen Diskussionen gefällt werden, die das Für und Wider bestimmter Alternativen abwägen, um im derzeitigen Klima der Repression sich trotzdem noch Freiheiten zu erstreiten, einfach das zu sein, was sie in erster Linie sein wollen: Fußballfans mit Leidenschaft. Fans, die Fehler zugeben, die aber vor allem darum kämpfen, als Bestandteil des Systems "moderner Fußball" nicht völlig vertreiebn zu werden, weil "Fußball den Fans gehört". Und für die Ultrà vor allem anderen eben auch Freundschaft, Emotion und Anerkennung bedeutet. Anerkennung auch für Jugendliche, die in einem Land mit 35% Jugendarbeitslosigkeit vielleicht gar keine andere Chance haben, Anerkennung und Respekt zu erfahren oder Teil einer Gemeinschaft zu sein. Denn das ist eine Curva nämlich auch: Ein Ort, in dem Architekten und Journalisten, Obdachlose und Gelegenheitsjobber gleichberechtigt nebeneinander stehen, weil sie ein gemeinsamer Antrieb verbindet. Ich will mir nicht ausmalen, wer diesen Teil der "Sozialarbeit" übernehmen will, wenn Ultràs endgültig aus den Stadien vertrieben sind. Denn soziale Probleme verschwinden ja bekanntlich nicht, nur weil man sie aus dem Blickfeld einer Live-Übetragung entfernt.

"Ich hatte mir eher mehr so Hooligans erwartet, die uns böse anschauen und ich hatte ehrlich gesagt auch ein bisschen Angst. Aber wir haben doch echt nur nette, intelligente Leute kennengelernt, mit denen man sich super unterhalten konnte." So fasste die mitreisende Aufnahmeleiterin – eine zierliche Person knapp über dem Meter fünfzig, die Fankurven nur aus dem Fernsehen kennt – mir ihre Erfahrungen auf unserer Reise zur Archäologie einer Fankultur zusammen. Und wenn der Film später dann so ähnliche Reaktionen bei mäßig fußballinteressierten Menschen hervorruft, denen die Welt der Kurven durch die Medien als von "Chaoten", "Kriminellen", Schlägern" und "blinder Gewalt" bevölkert nahegelegt wurde, dann ist schon viel erreicht. Als ich beim Spiel gegen die Fiorentina nach meiner Beinahe-Festnahme mit den Auswärtsfans der Viola zur Halbzeit die Stadionrunde drehte und in die Curva Nord ging, hatte man alles schon genauestens beobachtet und war über meinen Fluchtweg bereits in Kenntnis. Milanist, Kamerateam, Gästefans. Egal. Alle begrüßt, abgeklatscht und nach dem Spiel unter den Augen der DIGOS verabschiedet. Ich bin um Himmelswillen kein Journalist und möchte auch keiner werden. Aber in meiner romantisch-naiven Vorstellung trifft sich ein Journalist mit Menschen, die er beschreibt, um sich deren version der Dinge anzuhören, ihre Motivationen, Ängste und Ideen. Vor allem, wenn er vorhat, sie als "Verbrecher", "Chaoten" und "Störer" abzustempeln, die Kindern Angst und Schrecken einjagen. Mein Kind wird jedenfalls am Sonntag im Stadion sein. Und wie jeder andere kleine Junge wird er mit leuchtenden Augen nur auf das Spektakel der Kurven starren. Kurven, in denen Menschen stehen. Menschen, mit denen man reden kann, man müsste halt nur vorher höflich fragen. Einer der Fußballchefs der ehrwürdigen Gazzetta dello Sport ist übrigens Mitbegründer der "Viking", der beißt auch nicht.

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Ohne Tessera del Tifoso im San Siro

von altravita · Mittwoch, 3. Oktober 2012 · 13 Kommentare · 3 Trackbacks/Pingbacks

non tesserati viola

non tesserati viola

Ich war ja die letzten zwei Wochen für eine ZDF-Doku zum Zustand des italienischen Fußballs und der italienischen Fankultur unterwegs und weil es in der Bahn Internet gibt, fange ich schon einmal an, meine Erlebnisse zu beschreiben. Schön ist natürlich, wenn man die "Repression" nicht nur von den befragten Ultras und Fans beschrieben bekommt, sondern man an ihr auch selbst teilhaben kann. Am 30.09. fand im Mailänder San Siro das Spiel Inter gegen Fiorentina statt und das Team wurde von den Capos von Inter in ihre Kurve eingeladen, mit der wir bereits Interviews geführt hatten, die uns zur Vorbereitung der Choreografie für das Derby gebracht hatten, mit denen wir im geheimen "Covo" waren und mit denen wir gemeinsam Auto gefahren, gegessen, getrunken, geraucht, gelacht und diskutiert hatten. Kameras durften wir ja sowieso nicht ins Stadion bringen, weil die Lega Calcio Angst hat, wir würden uns für Spielszenen interessieren und insofern war das ein Spiel zum Stadionluft schnuppern. Ich selbst wollte die erste Halbzeit mit den Freunden von den "Non Tesserati" der Fiorentina verbringen, die ich ja im Oktober 2010 bereits in Genua begleiten durfte. Außerdem war auch Domenico Mungo dabei, der Autor des Buchs "Streunende Köter", den wir am Vortag in den Ruinen des "Filadelfia"-Stadions in Turin zum Toro und den politischen Implikationen der Ultrà-Bewegung interviewt hatten.

Und so trennte ich mich von Protagonisten und Crew und bewegte mich in Richtung zweiter Oberrang meiner ehemaligen Curva Sud. Der Auswärtsblock befindet sich im dritten Oberrang und die "Non Tesserati" wollten ihrer Ablehnung der Fankarte "Tessera del Tifoso" dadurch Ausdruck verleihen, dass sie sich als freie und nicht vorbestrafte italienische Staatsbürger Karten für den Stadionbereich davor kauften und dort singen. Die Rechtslage ist ja weiterhin unverändert: in den Auswärtsblock dürfen nur Fans mit "Tessera", alle anderen müssen woanders Platz nehmen. Und so gesellte ich mich zu ihnen, meinen Zweitjob als "Journalist" kurz unterbrochen, die Freunde umarmt und wir fingen an zu singen. Das Grüppchen von 20 Leuten war friedlich, feuerte die Mannschaft an und tat mit einem "No Alla Tessera del Tifoso" ab und an einmal ihre Meinung zur Datensammelwut der italienischen Behörden kund. Die um uns sitzenden Inter-Fans nahmen kaum Notiz von uns, keiner machte den Eindruck, sich bedroht zu fühlen oder drehte sich auch nur zu uns um. Und wie uns der Fananwalt Lorenzo Contucci erklärt, den wir im Übrigen ein paar Tage vorher in Rom interviewt hatten, war der Auftritt der "Non Tesserati" durchaus gesetzeskonform:

"Aus strafrechtlicher Sicht haben diese Personen kein Delikt begangen und auch keine Verwaltungsentscheidung mißachtet. Es ist mir nicht bekannt, dass es ein Verbot seitens der Präfektur gegeben hätte, das den Verkauf von Eintrittskarten für den betreffenden Stzadionbereich für Einwohner der Provinz Toskana verhindert hätte. Es erschließt sich mir, im Gegenteil, noch weniger, dass man sich in einem Stadionbereich außerhalb des Auswärtsblock nur dann begeben darf, wenn man eine Tessera del Tifoso besitzt."

Und es ist ja noch absurder, man darf ja nur mit Tessera del Tifoso in den Auswärtsblock, so dass Fans ohne eine solche Fankarte laut geltenden Gesetzen in andere Stadionbereiche ausweichen müssen. Sollte es ein Verbot des Verkaufs von Karten an Einwohner der Provinz Toskana gegeben haben, so ist die Schuld für den Vorfall dem zuständigen Ticketverkäufer zu geben, der "Banca Popolare di Milano", die die Fußballfans über eine dementsprechende Anordnung weder aufgeklärt noch den Kartenverkauf verweigert hat. Es hätte ja, wie Contucci im oben verlinkten Interview anmerkt, auch ein Interista aus Florenz anreisen können, um seiner Mannschaft zuzuschauen. In Italien spielen derlei Spitzfindigkeiten keine Rolle: Nach ungefähr einer halben Stunde der ersten Halbzeit wurden wir von einem Trupp Ordner eingeschlossen. Gern hätte ich mich festnehmen lassen, aber ich hatte die Autoschlüssel dabei und konnte das Team nicht zu Fuß zurück lassen. Insofern konnte ich nur ein paar Fotos dieser Ungerechtigkeit schießen und mir später anhören, dass die ca. zwanzig "Non tesserati" abgeführt, vor dem Stadion die Personalien aufgenommen wurden und allen ein Stadionverbot droht. Und das obwohl an keiner Stelle auch nur verbale Gewalt gedroht hätte, das Grüppchen sang einfach für Team. Nur eben scheinbar nicht dort, wo es sollte.

"Ehrlich gesagt kann ich nicht verstehen, wie – aber das wird uns die Polizeibehörde Mailand erklären – eine Person als gefährlich angesehen werden könnte, die sich eine Eintrittskarte kauft, die vollkommen regulär ins Stadion geht, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nimmt und dann sogar dazu gezwungen wird, das Stadion vorzeitig zu verlassen und dabei um den Gegenwert des Eintrittspreises gebracht wird. Ich wundere mich immer mehr über den Status der Demokratie in Italien."

Während meine Freunde sich also auf dem Stadionparkplatz von den Polizisten ablichten lassen mussten und ich verfluchte, dass ich die Wagenschlüssel in der Tasche hatte, war mir klar, dass solche Fälle eine Öffentlichkeit verdienen. Wir haben auf dieser Reise von seiten der Ultràs trotz Kamerateam so viel Gastfreundschaft, Mut und Vertrauen entgegengebracht bekommen und genau dieselben Menschen werden aus den Stadien verbannt. Die Einzigen, die überhaupt noch ins Stadion gehen. Und kein "objektives" Medium berichtet darüber, denn bekanntlich sind in Stadionkurven ja nur "Gewalttäter" und "Chaoten" zu finden und wer ein Stadionverbot bekommt, der "wird schon etwas gemacht" haben. Ich stand neben meinen Freunden und wir haben gemeinsam gesungen. Niemand der umsitzenden Fans fühlte sich gestört oder bedroht. Unsere Anwesenheit war nicht einmal illegal. ich würde mich wirklich freuen, wenn in Italien einmal jemand die wirklichen Probleme anpacken und die wirklichen Kriminellen verfolgen würde.

Zur Halbzeit drehte ich eine illegale Stadionrunde und sah mir die zweite Spielhälfte als Gast der Interisti an, die natürlich bereits von meinem Abenteuer erfahren hatten. Wenn jemand Probleme von ihrer Seite verdient hatte, dann ich: Milanista, der mit den Gästefans singt. Stattdessen ließen wir uns bei der Verabschiedung vor dem Stadion alle gemeinsam von den zwei "unauffälligen" Agenten der DIGOS ablichten. Ein paar Bier, ein fester Händedruck, eine Umarmung und das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

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Flavio di Stefano und Andrea Romano: La Grande Storia dei Derby Roma Lazio

von altravita · Mittwoch, 5. September 2012 · 12 Kommentare · 2 Trackbacks/Pingbacks

Flavio di Stefano und Andrea Romano: La Grande Storia dei Derby Roma Lazio

Flavio di Stefano und Andrea Romano: La Grande Storia dei Derby Roma Lazio

Derbys sind die Essenz des Fußballs. Im Derby wird alles das, was den Fan über Jahrzehnte mit dem Ballsport verschweißt, in 90 Minuten komprimiert: diese gesamte unendliche Kette an Anekdoten aus der Straßenbahn und die Unruhe in der Woche vor dem Spiel. Der im Hals steckende Torjubel, wenn der Ball scheinbar in Zeitlupe auf den Pfosten zurollt, um dann doch ins Aus abzuprallen und das Delirium, wenn die eigene hoffnungslos unterlegene Mannschaft mit dem ersten Torschuss in der 94. dem Stadtrivalen ein unverdientes Unentschieden abtrotzt. An einem Wochenende geborene Fußballgötter, die wegen eines Hattricks auch noch nach Generationen einen Ehrenplatz im kollektiven Gedächtnis finden, obwohl sie sonst nie wieder etwas zählbares zusammenstolperten. Nur ein Derby kann eine ansonsten vollkommen verkorkste Saison retten oder eine ansonsten ganz passable Saison unwiderruflich vergiften.

Wie Bruno Conti im Vorwort so richtig anmerkt, "Roma – Lazio war niemals, ist es nicht und wird auch nie ein Spiel wie viele andere sein." Und soweit ein Buch dies vermag, nehmen uns die beiden Autoren, Flavio Di Stefano und Andrea Romano, mit auf eine Reise durch die römischen Stadtduelle von den 30er Jahren bis in die soeben abgelaufene Saison 2011/12. Und selbst wenn man mit den beiden Römer Vereinen oder dem italienischen Fußball nicht viel anfangen kann, so ist es für einen Fußballfan unmöglich, sich nicht von der beschriebenen Atmosphäre anstecken zu lassen. Jeder, der einen Begriff von der Bedeutung des Wortes "Derby" hat, fällt es leicht, die beschriebenen Episoden, Spielverläufe und siegreichen und tragischen Helden mit Inhalt zu füllen.

Nebenbei erfährt man, dass hitzige Auseinandersetzungen auf den Rängen keineswegs eine Erfindung der Ultràs sind, sondern schon 1931 Mussolinis Carabinieri zum Eingreifen zwangen. Oder wie die Spieler von Lazio 1934 Geld zusammenlegten, um die fällige Strafe zu bezahlen, damit der von der Roma gewechselte Attilio Ferraris für die Himmelblauen auflaufen durfte. 1941 muss der Lazio-Spieler Silvio Piola in der Halbzeit an der Stirn genäht werden, will aber entgegen der Empfehlungen des medizinischen Personals auf keinen Fall den Platz verlassen und schießt zwei Minuten nach Wiederanpfiff das Tor, das seine Lazio vor dem Abstieg in die Serie B mitbewahren sollte. Während der Feierlichkeiten zur Meisterschaft des AS Roma 1983 (!) können es ihm die Rot-Gelben endlich heimzahlen und mauern ihm nachts die Eingangstür zu seiner Wohnung zu. Momente der Freude wie Romas Pedro Waldemar Manfredinis Hattrick in nur 15 Minuten aus dem Jahr 1960 wechseln sich mit der Tragik ab, die in dieser Größenordnung im Fußball nur Derbys zu bieten haben: durch Eigentore entschiedene Spiele.

Aus anderen Zeiten stammen auch Spieler wie Sergio Petrelli, dem 1972 ein hitziger Fan während des Trainings in Tor di Quinto vom Zaun aus als "Sohn einer Hure" beleidigte und sich dafür zwei Kopfnüsse einfing. Keiner seiner Mitspieler zögerte auch nur eine Zehntelsekunde, auf einen Teil seiner Siegprämie zu verzichten, um die hierfür fällige Strafe zu zahlen. Oder Lazio-Idol Giorgio Chinaglia, dem 1973 nach dem Derby ungefähr 200 wütende Roma-Fans zuhause aufgelauert und gedroht hatten, die Tore zu seiner Villa zu stürmen. Als er davon hörte, konnte er nur mit sanfter Gewalt davon abgebracht werden, den Übeltätern mit der Pistole in der Tasche hinterherzufahren. Aber auch Fans kommen zu Wort und Protagonisten der legendären CUCS (Commando Ultrà Curva Sud) berichten aus den 80er Jahren und wie die Nächte mit Zigaretten und Kaffee verlängert wurden, um ein paar der schönsten Choreografien des italienischen Fußballs vorzubereiten. Wehmut klingt hier mit. Natürlich darf auch Paolo Di Canio nicht fehlen, dem von allen Seiten der Gut- und Bessermenschen vorgeworfen wurde, dass er sein Tor, das 1989 seinem Lazio nach 10 Jahren wieder zu einem Derbysieg verhalf, mit erhobenem Finger (ja, damals nur der Finger) vor der Kurve des AS Roma feierte. Erst unlängst entschuldigte er sich im Fernsehen für diese Provokation: "Jetzt, mit dem Abstand von mehr als 20 Jahren kann ich sagen, dass es mir leid tut, dass ich damals zu früh angehalten habe und nicht noch näher unter deren Kurve gegangen bin."

Nur in Italien wäre ein Präsident, hier Franco Sensi vom AS Roma, auf die Idee gekommen, 1999 eine Kapelle direkt neben dem neuen Pressesaal des Trainingszentrums Trigoria zu errichten in der Hoffnung, dass die Spieler sich "nicht nur des Aberglaubens wegen, sondern aus wirklich religiösen Motiven heraus bekreuzigen". Francesco Totti und sein designierter Nachfolger Daniele De Rossi tauchen auf, Spieler, die Derbygeschichte geschrieben haben und wiederum die Geschichte dieser Rivalität personifizieren. Bewegend sind auch die Schilderungen der Atmosphäre vom ersten Derby nach dem Tod von Gabriele Sandri, als die Kapitäne Totti und Rocchi gemeinsam Blumen vor dem Gemälde Sandris ablegen und für eines der bewegendsten Bilder dieser erschütternden Episode italienischer Fußballgeschichte sorgen. Lustige Banner werden erzählt, wie das, mit dem die Südkurve des AS Roma ihre zahlenmäßige Überlegenheit abfeiert: "Haltet still, damit wir euch zählen können."

"Es gibt so bewegende Märchen, dass sie nicht in diese kümmerlichen anderthalb Stunden des Spiels passen. Geschichten von Umarmungen, von Schweiß, von Sprechchören, von Angst und Hoffnung. Derby-Geschichten, von Tränen, die vergossen wurden, einfach weil der Ball das Netz des gegnerischen Tores gestreichelt hat oder weil man machtlos dem Ball hinterherblicken musste, der langsam ins falsche Tor rollte: das eigene. Ganze Tage, die damit verbracht werden, dem anderen Teil der Stadt die eigene Vormacht ins Gesicht zu schreien oder die man sich vor der Verarsche der anderen Seite verstecken musste."

Derby eben. Und Roma-Lazio ist eines der schönsten.

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Josef Gruber: Ultras Italien. Passione e Mentalità.

von altravita · Montag, 13. August 2012 · 25 Kommentare · 0 Trackbacks/Pingbacks

Josef Gruber: Ultras Italien Bildband. Passione e Mentalità.

Josef Gruber: Ultras Italien Bildband. Passione e Mentalità.

Um zu begreifen, dass es sich bei dem vorliegenden Bildband um eine Ahnengalerie handelt, reicht die Lektüre des Spielberichts AC Milan gegen AC Florenz aus dem Jahr 2004. Die Begeisterung darüber, wie die Fossa dei Leoni und die Brigate Rossonere "gut 9.000 Milanisti in die Gesänge einbinden" und von "gut 7.000 Gäste(n)…für ein schönes Gesamtbild zu Beginn mit Dutzenden Doppelhaltern, Fahnen, Rauch und Bengalen" sorgten, verursacht im Jahr 2012 höchstens Nostalgie. Beim letzten Spiel der Fiorentina im San Siro wären vermutlich 700 Gästefans schon sehr enthusiastisch geschätzt.

Blickfang Ultrà legt mit "Ultras Italien" eine Auswahl aus ungefähr 1.200 Fotos des Österreichers Josef Gruber aus den Jahren 1998-2006 vor, die heute sämtlichst wie eine Dokumentation aus der "guten alten Zeit" darstellen. Gruber reiste unzählige Male über den Stiefel und dokumentierte seine Reisen in Wort und Bild unter anderem für sein Fanzine "Unterwegs" (reinschauen!). Erstmals erhalten seine Bilder nun den verdienten Rahmen in einem Bildband, der auf 316 Seiten die Leidenschaft einer ganzen Epoche einfängt.

“Tausende Kilometer, Dutzende Stadien und unzählige Stunden in den stickigen Zugabteilen. Mit dem Fotoapparat bewaffnet bereiste Josef Gruber zwischen 1996 und 2007 den italienischen Stiefel. Von Norden nach Süden, von Süden nach Norden. Immer wieder aufs Neue. Angetrieben vom Calcio, dem Spektakel auf den Rängen und der Folklore der Ultras. So füllte sich über die Jahre ein schier unendliches Sammelsurium an Bildern aus den bunten Fankurven Italiens. Jeder, der sich für die Kultur der Ultras auf dem Apennin interessiert, wird mit diesem Bildband auf seine Kosten kommen: kann in den Seiten versinken, von Geschichten und Momenten aus der guten, alten Zeit träumen und sich ein Stück Ultras, so wie es heute leider nicht mehr existiert, in die Gegenwart holen.”

Selbstverständlich gibt es Kurvenfotos auch kostenlos im Internet. Dort erregen allerdings nur die spektakulärsten Auftritte Aufmerksamkeit, nicht die Details. Wie wenn Gruber den angespannten Gesichtsausdruck kurz vor dem Torjubel einfängt oder den gerade eskalierenden Fan, der auf die Plexiglasbegrenzung geklettert ist, um gegnerischen Fans (oder dem Schiedsrichter?) seine Meinung kundzutun. Lachende Gesichter, Frauen im Block, der Ausstieg aus den Bussen am Auswärtsziel, der Gesichtsausdruck der behelmten Celere, der Weg über das Schotterbett der Gleise, der Schal, der gerade ins Gesicht gezogen wird.

Unmöglich, sich nicht überwältigen zu lassen von der zum Bild geronnenen Passion. Wirklich schön war aber die Idee, eine kurze Zusammenfassung einzelner Spiele zu bringen und verschiedene, besonders auch kleinere, Gruppen vorzustellen und sie in Interviews zu ihrem Selbstverständnis zu führen. So hängen die Bilder nicht "in der Luft", wie so oft im Internet, sondern erlauben einen weiteren Einblick in die Dynamiken der Ultrà-Bewegung, bevor sich das Phänomen auch in deutschen Kurven ausbreitete. So gelangen auch Ultràs der Internet-Generation über die Sprachbarriere und können teils atemberaubende Bilder mit Informationen aus erster Hand auch gleich einordnen.

Dabei geht es alles in allem wohltuend "riot-frei" zu, es ist selbstverständlich unmöglich, nicht auch die seinerzeit noch häufigen Auseinandersetzungen einzufangen, aber diese Schilderungen schieben sich keineswegs sensationsheißerisch in den Vordergrund. Man erhält ein wunderschönes Gefühl von bunten, lauten und chaotischen Kurven, blickt in begeisterte und verzweifelte Gesichter. Man sieht Banner von Gruppen, die es schon lange nicht mehr gibt und erhält eine Ahnung davon, wie viel Begeisterung seit 2007 ausgerottet wurde. Heute sehen italienische Stadionkurven meist grauer und trister aus.

Für die paar Euro muss man sich ein solches Buch natürlich kaufen, keine Frage. Um zu wissen, woher die Fankultur stammt, auf die man sich beruft, um ein wenig Archäologie des Supports zu betreiben. Bei den Lesungen zu "Tifare Contro" bekam ich oft zu hören, dass dies ja nun kein Buch wäre, dass man seiner Mutter in die Hand geben könnte um der zu erklären, weshalb man seine Freizeit und sein Geld darauf verschwendet, einer Fußballmannschaft hinterherzureisen. Mit dem vorliegenden Bildband könnte man es zumindest einmal versuchen. Kaufen könnt ihr den Bildband "Ultras Italien" hier.

Auszüge:

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Alexandre Pato – last man standing

von altravita · Dienstag, 31. Juli 2012 · Keine Kommentare · 0 Trackbacks/Pingbacks

Alexandre Pato

Alexandre Pato

Nachdem ich mich gestern mit einer eher tristen Saisonvorschau befasst habe, soll es heute um die im letzten Absatz erwähnten Unwägbarkeiten gehen. Mit dem Verkauf des brasilianischen Innenverteidigers Thiago Silva und des schwedischen Stürmers Zlatan Ibrahimovic an die neureichen Paris Saint Germain hat sich der AC Milan, immerhin 7-maliger Gewinner des höchsten europäischen Vereinswettbewerbs, nun auch offiziell vom Status eines europäischen Spitzenclubs verabschiedet. Neutral betrachtet muss das keine schlechte Entwicklung sein, wenn der Club, der Mitte der 80er den Transferzirkus erfunden hatte, nun die Segel streichen muss, weil andernorts noch reichere Mäzene sich sportlichen Erfolg erkaufen. Das Signal, dass die Eigentümer des AC Milan nicht mehr willens sind, jährlich viele Millionen Euro in den Verein zu stecken, ist deutlich und schließt eine Entwicklung ab, die bereits nach dem letzten Champions League-Gewinn im Jahr 2007 begonnen wurde. Zwischenzeitlich wurden Schlüsselspieler wie Kakà, Shevchenko und eben Ibrahimovic und Silva verkauft, vor allem, weil deren Gehälter bei im europäischen Vergleich geringeren Merchandising-Einnahmen und dem fehlenden eigenen Stadion nicht mehr aus eigener Kraft zu stemmen waren. Dem Ausstieg der Familie Berlusconi/Fininvest als Geldgeber folgt logisch, dass der Verein finanziell auf eigenen Füßen stehen muss und mithin nicht mehr mit den Großen des europäischen Fußballs mehr mithalten kann. Ob Platinìs "Financial Fairplay" daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten, ich glaube eher nicht daran.

Alexandre Pato gehört trotz seiner jungen Jahre bereits zum festen Inventar beim italienischen Spitzenklub AC Mailand. Der heute 22-jährige Stürmer wechselte 2007 für rund 22 Millionen Euro vom brasilianischen Klub Internacional Porto Alegre zu den Lombarden. Seitdem erzielte Pato in 113 Ligaspielen 51 Tore für die ‚Rosseneri‘ und gehört mittlerweile zu den begehrtesten Spielern auf dem europäischen Transfermarkt.
(fussballtransfers.com)

Unwägbarkeiten, sagten wir. Eine dieser Unwägbarkeiten ist der brasilianische Stürmer Alexandre Pato. der mit 17 Jahren für immerhin 20 Millionen Euro zu Milan gelockt wurde und dort aus Altersgründen zunächst ein halbes Jahr nicht spielberechtigt war. Sechs Monate, die die Gerüchteküche brodeln und die Erwartungshaltung überschäumen ließen, der Jungstar war nur in Freundschaftsspielen aufgelaufen, wo er gegen Dynamo Kiev beim ersten Einsatz auch gleich sein erstes Tor erzielte. Wichtig war aber die Erwartungshaltung des Publikums gegenüber seinem ersten ernsthaften Auftritt in der Serie A. Ich kann mich noch bestens an das erste Spiel des Wunderkinds in der höchsten Spielklasse erinnern. Neugier und Vorfreude waren so groß, dass schon beim ersten Spiel jede Menge Doppelhalter und Spruchbanner den "Papero" feierten. Sein erster Auftritt war phänomenal; als hätte er schon mehrere Jahre in Europa gespielt, riss er das Spiel an sich, zeigte eine monströse Laufbereitschaft, technische Finessen und krönte sein erstes offizielles Punktspiel im schwarz-roten Dress mit einem wunderschönen Tor. Es folgte eine Rückrunde mit 20 Einsätzen und 9 Toren und auch die nächste Spielzeit mit 42 Einsätzen und 18 Toren war beeindruckend für einen 18-jährigen. Zumal bei einem AC Milan, der sicherlich unverdächtig ist, die Jugend zu bevorzugen. Pato wurde aber aus dem Stand Stamm- und Schlüsselspieler sowie Publikumsliebling besonders der jüngeren Fans.

Soweit, so großartig. Der Junge hatte ein schnelles Dribbling, atemberaubende Technik und einen Torinstinkt, wie ihn nur ganz wenige jeder Generation besitzen. Vor allem schien er den Kopf an der richtigen Stelle sitzen zu haben, im Gegensatz zu einem Ibrahimovic erzielte er seine Tore auch gern mal gegen Spitzenclubs und auch in entscheidenden Spielen auf europäischer Ebene. Eins schöner als das andere zudem. Es schien ihm eine große Zukunft vorbestimmt, enthusiastischere Autoren beschieden ihm das größte fußballerische Talent seit vielen Jahren. Die Statistiken bescheinigen 14 Tore in 30 Spielen in der Saison 2009/10 und 16 Tore in 33 Spielen in der darauffolgenden Spielzeit. Es wechselten die Sturmpartner und der Rest der Mannschaft, es wechselten die Trainer, Patos Torausbeute pro Spielminute blieb phänomenal. Bis sich vor etwas mehr als einem Jahr etwas änderte. Die abgelaufene Saison 2011/12 verzeichnet zwar noch 18 Einsätze und 4 Tore, die Minuten auf dem Platz waren allerdings drastisch geschrumpft: eine Vielzahl von Muskelverletzungen sorgten dafür, dass er oftmals nicht einmal 10 Minuten auf dem Platz durchhielt und viele Monate in Rekonvaleszenz in den USA oder Brasilien verbrachte. Schlagzeilen machte "Papero" nur noch jenseits des Platzes, wo seine Liaison mit Berlusconis Tochter Barbara Schlagzeilen für die Sport- und Boulevardpresse lieferte und den Gerüchten nach auch nicht bei jedem Mannschaftskollegen auf ungeteilte Zustimmung stieß. Klar, eine Affäre mit der Tochter des Chefs…

Medizinische Konsile mit bekannten Größen der Sportmedizin brachten verschiedene Ansatzpunkte, bislang allerdings keine Lösung. Im Moment spielt Pato für die brasilianische Olympiamannschaft und Millionen Milanisti hoffen, dass Patos Verletzungsmisere endgültig gelöst ist. Über die Ursachen kann man nur spekulieren, die medizinisch belastbaren Aussagen zu seinem Verletzungsbild sind dünn. Fakt ist, dass Pato in seinen ersten Jahren einem harten Kraft-Trainingsprogramm unterzogen wurde, im Rahmen dessen er mehr als 15 Kilo Muskelmasse aufbaute. Hintergrund war die Vorstellung, ihn zum klassischen Mittelstürmer umzuschulen, was im italienischen System vor allem auch bedeutet, sich mit dem Rücken zum Tor physisch robust gegen die beiden Innenverteidiger zu behaupten. Ziemlich genau das Gegenteil von seiner bis dahin zu beobachtenden Spielweise, bei der er den Gegner meist mit Tempodribblings von außerhalb des Strafraums aussteigen ließ. Das alles, während er noch in der Wachstumsphase war, denn er legte auch noch 10 cm an Größe zu. Die Effekte waren zerstörerisch. Für 1-2 Wochen prognostizierte "Zerrungen" sorgten für mehrmonatige Spielpausen, mehr als einmal musste ein Wiedereinstieg ins Spielgeschehen abgebrochen werden, weil nach wenigen Minuten die Verletzung wieder Probleme bereitete. Dabei nicht lokal begrenzt, d.h. wahllos auv rechte und linke Ober- und Unterschenkel verteilt. Der Gossip über sein Verhältnis zur Berlusconi-Tochter und eventuell mangelnden Trainingseinsatz halfen auch nicht, die Sorgen und Zweifel seiner Fans zu zerstreuen.

Wie niemals vorher lastet die Verantwortung auf Patos Schultern. Nach dem Abgang Ibrahimovics stellt Pato im Moment (der Transfermarkt schließt Ende August) den wichtigsten Baustein für die neue Saison dar. Wenn er an alte Leistung anknüpfen kann, stellt sich die sportliche Lage deutlich weniger grau dar, als sie von vielen Fans befürchtet wird. Sollte auch die neue Spielzeit von Verletzungen geprägt sein, ist dies sicherlich dramatisch für die Norditaliener, der internationale Fußball würde aber auch – vermutlich definitiv – eines seiner größten Talente verlieren. Fakt ist, dass der junge Mann sich nicht mehr im Schatten der Superstars verstecken kann: Wo er sich früher Ansehen und Verantwortung mit Spielern der Größe von Ronaldo, Seedorf, Gattuso, van Bommel, Nesta, Maldini oder Kakà teilen konnte, steht er mittlerweile allein im Rampenlicht. "O la va o la spacca" sagt der Italiener – Alles oder Nichts. Patos Moment ist gekommen, es wird sich zeigen, ob er für den nächsten Karriereschritt bereit ist; aber das kann man sich ja bekanntlich nicht immer aussuchen.

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Saisonausverkauf

von altravita · Montag, 30. Juli 2012 · 10 Kommentare · 1 Trackbacks/Pingbacks

Ausverkauf

Ausverkauf

Kennt eigentlich noch jemand einen aktuellen Spieler der italienischen Serie A? Gut, das ist vielleicht zu polemisch formuliert, ich weiß unter den Lesern dieses kleinen Hausfrauenblogs einige, die die aktuelle Torschussstatistik von Sergio Pellissier aufsagen können. Aber so ganz allgemein gefragt dürfte es langsam dünn werden, was international bekannte Namen in der höchsten Spielklasse des Stiefels angeht. Gut, das durchschnittliche Fußballerleben dauert im "Altersheim des Fußballs" etwas länger und so erfreuen noch ein paar Kämpen der alten Garde die wenigen Fans im Stadion: Francesco Totti spielt durchaus noch Fußball, wenn auch nicht mehr ganz so regelmäßig wie in seiner Jugend. Alessandro del Piero und Pippo Inzaghi wurden die Töppen an den Nagel gehängt, aber mit Andrea Pirlo hat jemand seinen Platz übernommen, der zumindest in den Kommentaren der Sportmoderatoren immer noch ein ganz Großer ist. Die beiden sind dann aber auch die letzten aus der großen italienischen Spielergeneration, nachdem auch Alessandro Nesta mittlerweile in Toronto Montreal und Gennaro Gattuso in der Schweiz am abtrainieren sind.

In einem ählichen Altersrahmen befanden sich die letzten verbliebenen internationalen Stars der einstmals erfolgreichsten Liga der Welt. Der gefühlt 80-jährige Clarence Seedorf hat sich nach Brasilien zu Botafogo abgesetzt, dafür bleibt uns der "ewige Kapitän" Xavier Zanetti von Inter mindestens noch eine Spielzeit erhalten. Vermutlich auch der brasilianische Außenverteidiger Maicon, auch wenn bei beiden der Ruhm schon vor ein paar Jahren begründet wurde, von dem sie heute noch zehren. Die letzten beiden tatsächlichen Superstars, die nicht aus Altersgründen in ein noch gemütlicheres Campionat wechseln, waren Thiago Silva und Zlatan Ibrahimovic, die von Vereinspadron Silvio Berlusconi aus Gründen der Etatpflege gewinnbringend an die Scheichs von Paris Saint Germain versilbert wurden. "Paris ist besser als der AC Mailand, weil der seine beiden besten Spieler verloren hat", berichtet der Schwede im Fachblatt Sport Bild über seinen ehemaligen Arbeitgeber. Die absoluten Superstars des modernen Fußballs spielen jedenfalls in anderen Ligen, nicht mehr in Italien.

Bis auf den Ausnahmefall Juventus, wo sich neues Stadion und sportliche Wiedererweckung auch vorsichtig im Transfermarkt niederschlagen, scheint Platinis "Financial Fair Play" in Italien auf unerhörte Zustimmung zu treffen. Die offene Baustelle AS Roma wirbelt die eigene Mannschaft mit dem Einkauf von jugendlichen Talenten durcheinander, ohne dabei aber ein gröberes Haushaltsdefizit zu verursachen. Der AC Milan verkauft alles, was nicht niet- und nagelfest ist, um das jährlich übliche Loch im Etat von 60 Millionen Euro ein für allemal hinter sich zu lassen. Auch Inters Massimo Moratti ist aufgefallen, dass die in seiner Präsidentschaft in den Verein gepumpten ca. 1,5 Milliarden Euro von irgendwo kommen müssen und hat seinem Club eine Low Cost-Diät auferlegt. Napoli trennt sich von Führungsfigur Lavezzi und feiert so seine durchaus erfolgreiche Champion’s League-Saison. Und so oszilliert der Transfermarkt Italiens zwischen dem Erwerb jugendlicher Talente und dem Austausch von Spielern untereinander – gern unter der Formel der "Miteigentümerschaft" (zwei Vereine teilen sich einen Spieler) -, Verleih- und Tauschgeschäften sowie kommoden Ratenzahlungen. Wieder einmal die Sport Bild verleiht zwar schon am 07.07. in seiner Online-Ausgabe Italien den Titel des "Transfer-Europameisters", bemerkt aber immerhin auch: "Ein echter Topstar oder eine einzelne Ablösesumme in horrender Höhe fehlt in der Liste der Transfers im Land des frisch gebackenen Vize-Europameisters." Fakt ist, das namhafte Stars die Liga verlassen und eher unbekanntere Spieler eingekauft werden, netto bleibt also wahrscheinlich eine sportliche Verschlechterung zu konstatieren.

Lang her die Zeiten, als die stärksten Spieler der Welt in Italiens Stadien kickten, als die verschiedenen Brehme, Völler, Matthäus, Häßler oder Bierhoff selbstverständlich für einen italienischen Verein aufliefen. Etwas weniger lange, aber auch schon fast 10 Jahre her, dass drei von vier Semifinalisten der Champions League aus der Serie A kamen. Nur die Älteren können sich daran erinnern, dass das San Siro einmal allein von Dauerkarteninhabern ausverkauft war und gern erzählen sich Fans davon, wie 70.000 Fans das Spiel Milan gegen Cavese in der Serie B in ein ausverkauftes Tollhaus verwandelten. Seitdem regnet es eigentlich nur schlechte Nachrichten: Schiedsrichterbestechungsskandale ("Calciopoli"), Wettskandale ("Scommessopoli"), leere Stadien, der Verlust eines Champion’s League-Teilnehmerplatzes an die deutsche Bundesliga, die Abwanderung der verbliebenen Stars und der international erfolgreichen Trainer wie Fabio Capello, Carlo Ancelotti oder Luciano Spalletti oder reihenweise Vereinspleiten.

Ende August wird also eine neue Saison angepfiffen vor der so viele Fragezeichen stehen, wie sonst nirgends. Auf europäischer Ebene haben sich die meisten Fans mit einer Statistenrolle abgepfiffen und hoffen auf so etwas wie "Gruppenphase überstehen und dann vielleicht Glück haben". Die Serie A selbst breitet sich nach der Abrüstung der beiden Mailänder Teams auf einen weiteren Scudetto der Juve vor, was dahinter stattfindet, ist kaum prognostizierbar, wird aber vermutlich schlechter anzuschauen sein als in den letzten Jahren. Die Hoffnung besteht darin, dass die derzeitige Krise die Suche nach kreativen Lösungsmöglichkeiten befeuern könnte: Die großen gestreiften Teams aus dem Norden Juventus (Conte), Milan (Allegri) und Inter (Stramaccioni) legen ihr Schicksal in die Hände von Trainern, die fast noch mitspielen könnten. In Rom findet das derzeit wohl spannendste Projekt von jungen Spielern unter der sportlichen Leitung vom alten Haudegen Zdenek Zeman statt. Napoli verleiht Jungstar Insigne (letztes Jahr an Pescara verliehen) ebenso einen Vertrag bis 2017 wie Milan seinem jungen Wilden Stephan El Sharaawy. Es gibt also durchaus Anzeichen für ein vorsichtiges Umdenken.

Vielleicht wäre es ein Ansatz, wegen der anhaltenden Finanzknappheit jungen Talenten eine Chance zu geben, anstatt sie jahrelang in der Provinz "Erfahrungen sammeln zu lassen". Was bei Trainern möglich ist, kann dem Spielbetrieb selbst nur zuträglich sein. Eine Rückbesinnung auf die hauseigene Jugendarbeit als Talentschmiede (und Kostensenkungsfaktor) bei Vereinen wie dem AC Milan spricht ja durchaus dafür. Fakt ist, dass es dem Land und dem Fußballbetrieb ökonomisch nicht sonderlich gut geht. Eigene Stadien als Einnahmefaktor fehlen den Vereinen (mit Ausnahme von Juventus) und den Vereinseigentümern, die bis auf Di Benedetto vom AS Roma allesamt aus dem Inland stammen, machen Wirtschafts- und Finanzkrise zu schaffen. Ich will hoffen, dass es positive Überraschungen gibt, Beispiele dafür, dass man mit intelligenter Jugendarbeit und Transferpolitik, einem Festhalten an einmal eingeschlagenen "Projekten" und "Strategien" und einem radikalen Umbau der Vereine zu zählbaren Ergebnissen kommt. Ich bin gespannt auf den AS Roma, ich freue mich auf den AC Milan mit einem hoffentlich wiedergenesenen Pato und auf PescAra in der höchsten Spielklasse. Wenn die Saison 2012/13 dann wieder schlecht, langweilig und erfolglos wird, dann weiß ich aber wenigstens die Gründe hierfür: Es kann ja nicht immer eine Überaschung geben.

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Gianfrancesco Turano: Fuori Gioco. Fußball und Macht.

von altravita · Montag, 23. Juli 2012 · Keine Kommentare · 1 Trackbacks/Pingbacks

Gianfrancesco Turano: Fuori Gioco. Fußball und Macht. Die wahre Geschichte der Präsidenten der Serie A.

Gianfrancesco Turano: Fuori Gioco. Fußball und Macht. Die wahre Geschichte der Präsidenten der Serie A.

Ein Buch wie ein Verkehrsunfall. Man erfährt Dinge, die man eigentlich lieber nicht wissen möchte, eignet sich Wissen an, das den eigenen Blick auf den Fußballsport unausweichlich traumatisch verändern wird. Trotzdem muss man weiterlesen, kann sich nicht losreißen von diesem Buch, das genügend Material für eine ganze Reihe von Krimis hergegeben hätte, aber leider nur in journalistischer Fleißarbeit das Fundament des italienischen Fußballbetriebs freilegt. Ich verfolge den italienischen Fußball seit mehr als zwei Jahrzehnten und habe mich, wie jeder Italiener auch, damit abgefunden, dass es im heimischen Fußballbetrieb eine Reihe außersportlicher Faktoren gibt, über die man geflissentlich hinwegsehen sollte. Alle paar Jahre durchstößt ja die Spitze des Eisbergs in Form von Bestechungs-, Doping- oder sonstigen Skandalen von unten den notdürftig geflickten Rasenplatz, auf dem sich italienische Fußballmannschaften begegnen. Allerdings ist es auch für mich ebenso faszinierend wie verstörend, welche Kräfte sich außer den 11 Feldspielern noch auf den Platz begeben. Leider ist das Buch nicht auf deutsch erschienen, dabei ist es doch die deutlichste Brandrede für die Beibehaltung der 50+1 Regel, die ich jemals in die Hände bekommen habe.

"Bei der Wahlversammlung für die Kommunalwahlen 2011 versprach Berlusconi der Stadt nicht, sie vom Müll zu befreien, sondern dass er darauf verzichten würde, Napoli den slowakischen Fußballer Marek Hamsik abzukaufen."

Der italienische Fußballbetrieb ist seit Jahrzehnten in der Hand einheimischer Gönner und Mäzene, die sich einen Fußballclub (oder mehrere) zugelegt haben und mit mehr oder weniger großem Einsatz finanzieller Mittel dessen Geschicke lenken. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist der Fußballbetrieb ein Zuschussgeschäft und Gianfrancesco Turano, Journalist aus den Reihen der Repubblica, stellt und beantwortet die Frage, was einen Geschäftsmann dazu bewegt, sich in die Unwägbarkeiten des Fußballgeschäfts zu stürzen. Turano geht dabei so beflissen und detailreich vor, dass dem nicht mit den politischen Verhältnissen des Nachkriegsitaliens sowieso vertrauten Leser bereits nach den ersten Kapiteln gehörig der Schädel brummt angesichts der Fülle an Namen, Zahlen, Parteien, Banken und Geheimlogen, auf deren Geflecht die 10% Sport ausgetragen werden, die man für gewöhnlich als Spieler, Tore, Resultate und Tabellen kennt.

"Niemals stand ich vor einer Lobbyarbeit von so großen Dimensionen. Ein einzelner Mann blockiert das gesetz zu den neuen Stadien, Claudio Lotito."
(Giovanni Lolli)

Vom ersten Kapitel über den "Neueinsteiger" Thomas di Benedetto (AS Roma) bis zum wohl schillerndsten Vertreter seiner Zunft Silvio Berlusconui (AC Milan) dröselt Turani detailversessen auf, woher die Präsidenten der aktuellen Serie A-Teams (Saison 2012/12) stammen, wie der Wunsch zur Vereinsinhaberschaft geboren wurde und wie sie mehr oder weniger erfolgreich Teams mit teils mehreren Millionen Fans durch die Untiefen des Fußbalbusiness gesteuert haben. Denn nichts sorgt in Italien für eine sofortige mediale Dauerpräsenz und Sichtbarkeit wie die Eigentümerschaft eines Fußballvereins. Nichts öffnet Türen zu Banken, Immobiliengeschäften und politischer Einflussnahme so rasant. Nichts erschließt Wählerherzen und Konsumentenvertrauen so leicht, wie eine Fußballmannschaft und mit nichts anderem bewegt man Politiker so elegant dazu, dem eigenenj Geschäft ein paar Wege zu ebnen, wie eine erfolgreiche Fußballmannschaft im Herzen der Stadt. Dabei wäre es vermessen zu glauben, man kauft sich einen Fußballclub, um dadurch Macht und Einfluss zu gelangen. Man kann aber sicherlich Macht und Einfluss multiplizieren und die eigenen Anstrengungen etwas stromlinienförmiger zu gestalten.

"Wenige Tage nach dem Börsengang der Saras, hob die Investmentbank JP Morgan Gianmarco Morattis Sohn auf einen Posten, der zwischen dem Firmensitz in Mailand und dem Hauptqaurtier in London auszuüben wäre."

Dabei sind die – immer schillernden – Persönlichkeiten am Ruder der Fußballclubs aber so vielfältig, wie ihre Ziele und Strategien. Da gibt es Unternehmer wie Gianpaolo Pozzo von Udinese Calcio oder Aurelio de Laurentiis vom SSC Napoli, die es geschafft haben, ihren Fußballklub in die schwarzen Zahlen zu führen, so dass der Fußballclub mittlerweile als Einnahmequelle die krisengeplagten eigentlichen wirtschaftlichen Hauptbetätigungen hinter sich lässt. Während de Laurentiis die einbrechenden Einnahmen aus seinem Kinoproduktions- und -vermarktungsgeschäft mit seinem Napoli bestens abfedern kann, ist bei Pozzo der eigentliche Familienbetrieb (Feinmechanik) mittlerweile zugunsten der Einnahmen aus dem Fußballgeschäft praktisch völlig verschwunden. Da gibt es den aufstrebenden Bauunternehmer und Ex-Sänger auf Kreuzfahrtschiffen Silvio Berlusconi, der es über die Erfolge seines AC Milan geschafft hat, zunächst seine Idee vom privat finanzierten Fernsehen zur Killerapplikation der letzten zwanzig Jahre zu machen und dieselbe Notorietät auch gleich in Wählerstimmen umzumünzen und zum zwischenzeitlich mächtigsten Mann Italiens aufzusteigen. Der Reichste ist er ja sowieso. Da gibt es Maurizio Zamparini (US Palermo), den neben seinen Supermärkten mittlerweile auch das einträgliche Immobiliengeschäft rund um den Stadionbau interessiert. Dabei ging es doch zu Beginn nur darum, bei den Stadtoberen der sizilianischen Hauptstadt ein paar Handreichungen bei der Eröffnung weiterer Supermärkte zu erlangen. Denn die wissen auch um die Bedeutung einer erfolgreichen Fußballmannschaft für die Wählerklientel. Und dann ist da natürlich die Juve der Agnelli und von Fiat, Paradebeispiel für den "Staat im Staat", fußballerisch, wirrtschaftlich und politisch.

"Thomas di Benedetto hat sich den AS Roma gekauft (2011), die Mannschaft, die während der ersten Republik vom wohlwollenden Blick Andreottis begleitet wurde, der es seinem Spezi Giuseppe Ciarrapico anvertraut hatte und für die Finanzgeschäfte seinem Banker des Vertrauens, Cesare Geronzi."

"Fuori Gioco" bedeutet "Abseits" und heißt wörtlich "aus dem Spiel" oder "außerhalb des Spiels". Der Leser lernt, welche Interessen Vereinspräsidenten auch außerhalb des Spiels noch so gemeinsam haben. Er bekommt auch einen hübschen Einblick in das sehr italienische Geflecht aus Politikern im Vorstand milliardenschwerer Banken und Bankern in der Führungsriege politischer Parteien. Der Leser lernt auch, dass deswegen ein Konkurs noch lange kein Konkurs sein muss und die Tatsache, dass man einen Verein letztgültig an die Wand gesetzt hat noch lange kein Grund ist, sich nicht gleich wieder einen neuen Verein zu kaufen. Am besten, indem man die Spieler gleich mitnimmt. Interessant ist zum Beispiel auch das Funktionieren der Bilanzmanipulationen, das Hin- und Hermauscheln von Spielermaterial, um Einschreibekriterien zu erfüllen oder gegebenenfalls die Steuerlast zu drücken. Bei alledem ist die eigentliche politische Ausrichtung bestenfalls zweitrangig, wirtschaftliche Potenz sicher hilfreich, aber kein Zwang und genügend Raum für auch absurd klingende Allianzen. Und dass es "too big to fail" nicht nur bei Banken gibt: ohne einen großzügigen Verzicht auf ausstehende Steuer- und Rentenkassenzahlungen gäbe es Parma oder Lazio überhaupt nicht mehr.

"Heute ist das schwer zu glauben, aber Diego Della Valle war ein Geldgeber der ersten Stunde für Forza Italia."

Ein wie Eingangs bemerkt ebenso faszinierendes wie verstörendes Buch. Eines, dessen Lektüre dringend zu empfehlen ist, von dem ich aber trotzdem der Meinung bin, dass ich es besser nicht gelesen hätte. Die Auswirkungen werden sich erst in der neuen Saison zeigen, Fakt ist, dass ich im Moment über den anstehenden Wettskandal nur schmunzeln kann. Auch die im Buch angedeuteten Spielverschiebungen sind vor dem Hintergrund des dargestellten Filzes allerhöchstens noch Beiwerk. Denn auf’m Platz ist überhaupt nicht wichtig.

Gianfrancesco Turano: Fuori Gioco (Abseits). Fußball und Macht. Von della Valle bis Berlusconi, von Preziosi bis Moratti. Die wahre Geschichte der Präsidenten der Serie A.
Chiarelettere, 2012

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Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt schwimmt.

von altravita · Donnerstag, 19. Juli 2012 · 6 Kommentare · 2 Trackbacks/Pingbacks

Tristesse

Tristesse

Der wildgewordene Mob aus Innenministern, Fußballbund und Vereinen unterhält sich über effektive Maßnahmen, deutsche Fußballstadien in ein Meer aus bunt bemalten, lachenden Gesichtern mit lustigen Hüten zu verwandeln und wirft so ausgefeilte Konzepte wie Stehplatzverbot und Gesichtsscanner in die Runde. Wie weit sich die Diskussion um so genannte "Sicherheit" und so genannte "Gewalt" von der Realität entfernt hat, mag ich gar nicht mehr kommentieren. Aber auch wenn Stadionkultur demnächst abgeschafft wird, weil auf Stehplätzen angeblich sogar Menschen ohne Krawatten gesehen worden sein sollen, es kann immer noch schlimmer kommen:

Denn einstweilen hat der deutsche Stehplatzfan noch die Möglichkeit, zu entscheiden, ob er seinen Verein auch dann noch im Stadion besucht, wenn er dafür durch einen Nacktscanner muss und zwangsverpflichtet wird, im Stadionshop Bettwäsche in Vereinsfarben zu erwerben. In Italien sorgt eine Mischung aus genereller wirtschaftlicher Krise, strukturellen Problemen im Fußballgeschäft und ganz konkreter Misswirtschaft dafür, dass sich die Entscheidung zwischen Sitz- und Kurvenplätzen für viele Fans überhaupt nicht mehr stellt, weil ihr Verein entweder nicht mehr existiert oder aber in die Stadtteilliga abgestürzt ist, wo er sich mit der Belegschaft vom Campingplatz gegenüber misst.

Fünf Teams sind vor zwei Jahren von der Bildfläche verschwunden, letzten Sommer waren es schon acht und auch dieses Jahr sind wir wieder bei acht Vereinen, bei denen der letzte das Licht gelöscht hat. Besonders hart trifft es die Vereine der Lega Pro (3. und 4. Liga) und abwärts. Hier ist es seit geraumer Zeit so, dass die Zusammenstellung der Staffeln weniger mit den sportlichen Erfolgen der Vorsaison sondern mehr mit dem Potential zu tun hat, überhaupt die Einschreibegebühr zu stemmen. So werden aus den neunzig Vereinen der "Prima e Seconda Divisione" der Saison 2010/11 aktuell noch neunundsechzig. Tendenz sinkend. Vergleichbar mit Deutschland sind die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Abstiegs aus der Serie B in den Bereich der Halbamateure:

"Ein Abstieg aus der Serie B bedeutet den Verlust von 3,8 bis 4,4 Millionen Euro in Fernsehrechten und 5 bis 10 Millionen an zu zahlenden Mehrwertsteuerforderungen. Das lässt noch das Gewicht der Spielerverträge außer Betracht, die für einen anderen Wettbewerb ausgehandelt wurden und auch gültig bleiben, nachdem man in die Lega Pro gestürzt ist…"
(Francesco Ghirelli, Generaldirektor der Lega Pro)

Ich spare mir die Aufzählung ehemaliger Landesmeister und Europacup-Teilnehmer, die es mittlerweile schlichtweg nicht mehr gibt oder die in den Niederungen des Hartplatz-Spielbetriebs ihr Dasein fristen. Seltsam unbeachtet bleibt in den Medien aber die Tatsache, dass allein diesen Sommer (bis jetzt) acht Vereine mit einem Potential von einer Million Fans den Laden dicht gemacht haben. Triestina, Spal, Pergocrema, Giulianova, Piacenza, Foggia, Taranto und Siracusa. Wenn alles bestens läuft, können diese Clubs mit neuem Namen und neuer Vereinsstruktur in der vierten Liga einen Neuanfang wagen. Auch dies werden die allerwenigsten schaffen. Die wirtschaftliche Lage in den unteren Ligen sorgt tendenziell dafür, dass die Vereine immer weniger werden, Francesco Ghirelli spricht offiziell von einem Ziel von neunzig Vereinen für die vier Staffeln der Lega Pro. Das ist sicherlich optimistisch geschätzt, denn auch Vereine, die sich irgendwie ins Saisonende retten, sind in der Regel wirtschaftlich nicht auf Rosen gebettet: Punktabzüge für nicht oder zu spät gezahlte Spielergehälter, Steuern oder Versicherungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Und selbst dann, wenn der Klassenerhalt sportlich erreicht ist, stellt die Einschreibegebühr von 300.000 EUR (Seconda Divisione) oder 600.000 EUR (Prima Divisione) oft genug eine unüberwindbare Hürde dar.

Hinzu kommt die desolate Finanzlage der Kommunen, die als Stadioneigentümer in aller Regel auch für die normgerechte Umgestaltung der Stadien zuständig ist. Mehr als einmal scheiterte der überlebenswichtige Aufstieg schon an der Klammheit des Stadionbesitzers, der Sicherheitsbestimmungen nicht umsetzen konnte. Und dies ganz abgesehen von Kommunen wie Ferrara (Spal), die derzeit mit dem Wiederaufbau der schweren Erdbebenschäden vom Mai diesen Jahres stemmen müssen.

Vor diesem Hintergrund wird sogar fast verständlich, wieso die Sportgerichtsbarkeit die in den derzeitigen Wettskandal verwickelten Vereine mit Samthandschuhen anfasst. Generelle Linie der Entscheidungen scheint zu sein, dass beteiligte Personen relativ hart bestraft werden, die (objektiv verantwortlichen) Vereine allerdings mit sehr milden Punkt- und Geldstrafen belegt werden. Angesichts der Unsicherheit, überhaupt genügend Teams für den Spielbetrieb der unteren Ligen zusammenzubekommen, werden Vereine lieber nicht noch künstlich in die Pleite bewegt.

Es ist wie gesagt leider seit längerem so, dass auch dekorierte und bekannte italienische Vereine, die noch vor kurzem in der höchsten Spielklasse antraten, auf Nimmerwidersehen verschwinden. Vielleicht kennt der eine oder andere Teams wie Messina, Venezia, Spezia, Pro Vercelli oder Pro Patria. Manchmal schaffen es Clubs wie Varese, Hellas oder Novara es nach mehreren Jahrzehnten harter Arbeit und einer Menge Glück, sich wenigstens in die zweite Liga zu retten. Aber Fakt ist auch, dass jedes Jahr hunderttausende Fans von heute auf morgen ihren Verein verlieren. Hunderttausende von Fans, denen nichts bleibt, als die Banner einzurollen, den Schal wegzulegen und sich für das Wochenende ein neues Hobby zu suchen. Oder einfach weiterzumachen. Die Fans von Lodigiani, einem Verein, der sich in die letzte Saison überhaupt nicht mehr eingeschrieben hat, machen weiter und feierten letztes Jahr ihr 15-jähriges Bestehen. Ihren Club, der unter anderem Spieler wie Francesco Totti, Luca Toni, Paolo di Canio oder Antonio Candreva hervorgebracht hat, gibt es derweil nicht mehr. Dazu aber demnächst mehr. Im Moment wollte ich nur auf einen Aspekt des italienischen Fußballs hinweisen, der hinter dem Abgang der Stars aus der Serie A (zuletzt Zlatan Ibrahimovic und Thiago Silva) zuwenig Beachtung findet.

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