28.01.2008 / Thema / Seite 10

Vor dem Siedepunkt heruntergekühlt

Der Eisenbahnerstreik und seine Lehren

Von Jim Knopf
Zum großen Arbeitskampf im Bahnverkehr kam es nicht – dafür sorg
Zum großen Arbeitskampf im Bahnverkehr kam es nicht – dafür sorgten die Spitzen der drei Eisenbahnergewerkschaften (Gleisarbeiten in Oberhausen am 16.11.2007)
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hat in ihrem zehnmonatigen, ungewöhnlich harten Kampf wesentlich dazu beigetragen, die Verzichtshaltung großer Teile der Lohnabhängigen aufzubrechen. Sie wurde durch den Abschluß der Tarifgemeinschaft von Transnet und der Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamter und Anwärter (GDBA) vom 9. Juli 2007, der die Lohnrate zugunsten der Profitrate drückt und auf Mehrarbeit nicht verzichtet, als Opposition unter den Bahngewerkschaften herausgefordert. Es ging den Kollegen in der GDL um den Reallohn, die bezahlte Verkürzung der Arbeitszeit und die Eigenständigkeit ihrer Gewerkschaft.

Die Vorstände der Gewerkschaften anderer Branchen sahen sich deshalb unter dem Druck ihrer Mitglieder gezwungen, achtprozentige Lohnforderungen aufzustellen. »Man kann sich wehren!« – das ist ein entscheidendes Ergebnis des Kampfes der GDL im Denken von Millionen Lohnabhängigen. Diese kämpferische Haltung trat im Juli 2007 mit einem regelrechten Paukenschlag hervor und steigerte sich im Laufe der Monate. Diese Haltung ist die Voraussetzung für künftige erfolgreiche Lohnkämpfe.

Eine Nachbetrachtung des Streiks der Eisenbahner hinsichtlich seiner Ursachen und Folgen ist daher notwendig. Denn die streikenden Kollegen haben wesentliche Ziele erreicht (aber nicht alle, innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen sind damit gewiß). Der Vorstandsvorsitzende der Bahn AG, Hartmut Mehdorn, hat eine Niederlage nicht nur für die Bahn, sondern auch für den »Standort Deutschland« – somit für das Kapital – eingestanden.

Gegen Privatisierung

Der Streik der in der GDL organisierten Eisenbahner war eine Folge der Bahnprivatisierung. Die »Eisenbahnerfamilie« wurde zersetzt, Konkurrenz zog in sie ein. Die Ursache des Streiks existierte völlig unabhängig von der GDL. Es blieb der GDL gar keine andere Wahl, als zu streiken. Der Fortschritt im Kampf der kleinsten und ältesten Bahngewerkschaft ging von den Mitgliedern aus, die gerade in Ostdeutschland besonders gut organisiert sind. Es war den Kollegen klar: Gewerkschaften sind eine Art »Kriegsschule«, sind streikfähige Organe im Kampf zur Sicherung der Lebenshaltung der Lohnabhängigen (95,8 Prozent votierten in der Urabstimmung am 26. August 2007 für einen unbefristeten Streik). Tarife sind zeitweilige Waffenstillstandsabkommen. Diese Einsicht setzte sich bei Transnet/GDBA nicht durch, die ihre »einzige Chance in der Gestaltung des Reformprozesses«, in der Sicherung des Profits sehen. Sie verwandelten die Gewerkschaften in eine Gesellschaft von Gesundbetern.

Die ganze Last der Privatisierung sollte spätestens seit November 2002 auf zwei Berufsgruppen abgewälzt werden: die Lokführer und die Zugbegleiter. An der Person Norbert Hansen entzündete sich der Zorn der Eisenbahner konkret. Als Vorsitzender der Transnet und Vizechef des Aufsichtsrates gilt er als Hauptstütze Mehdorns bei der Bahnprivatisierung. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Der gesamte Aufsichtsrat der DB AG hat sich am 15. November 2007 für eine Privatisierung nach dem Holdingmodell ausgesprochen (jW vom 4.12.2007, Seiten 10/11). Fünf Tage vorher hatte Hansen noch mit Streiks gedroht. Und in seinem Brief an Mehdorn vom 15. Januar 2008 spricht er erneut davon, die »bewährte Sozialpartnerschaft auch in Zukunft« zu »sichern«. Es bleibt dabei, »eine gestaltende Rolle bei der Vollendung der Bahnreform zu übernehmen«, wie es schon in einem Transnet-Papier vom 9. Dezember 2002 heißt, wobei klar ist, daß dieser Weg kein Weg des Widerstandes »gegen einseitige, profitorientierte Bahnpolitik« ist. Nicht nur aus diesem Grund gilt es unter den Kollegen des Fahrpersonals als prinzipiell unvereinbar, gleichzeitig Vorsitzender einer Gewerkschaft zu sein und sich der Konspiration des Aufsichtsrates zu unterwerfen. Das bedeutet für sie, sich dem Diktat des Konzerns unterzuordnen. Der Warnstreik der Transnet/GDBA 2007 war nach ihrer Überzeugung mit Mehdorn verabredet.

Es gibt eine historische Parallele: Die Herabstufung der Lokführer in der Gehaltsgruppe, die zunehmende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen des gesamten Fahrpersonals, die auf einen gewollten Verschleiß des Personals hinausläuft, die Tendenz, die gesamte Lebenszeit als dem Konzern gehörig zu betrachten, die Einkommensverluste der Eisenbahner in zehn Jahren um mindestens 9,5 Prozent bei gleichzeitiger Gewinnmaximierung (Verdreifachung von 2005 bis 2007) und über jegliches Vorstellungsvermögen hinausgehende Erhöhung der Bezüge des achtköpfigen Vorstandes der DB AG ( um 255 Prozent seit 2001, um 77 Prozent allein 2006, um gut 50 Prozent jährlich für Mehdorn) – dies alles war auch 1922, als es um die »Stinnisierung«1 der Eisenbahn ging und die Eisenbahner für die Defizite der Bahn bluten mußten, nicht anders. Der damalige Reichstagsabgeordnete der KPD Paul Frölich hat diese Situation in seiner Streitschrift: »Das Verbrechen an den Eisenbahnern. Der Februar-Streik und seine Lehren« eindringlich beschrieben. Der Streik von 1922, der vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund verraten wurde, war der unmittelbaren Not der Eisenbahner entsprungen. Die Ursache des heutigen Streiks ist letztlich keine andere. Er ist eine Konsequenz des Börsenwahns. In diesem Krieg wurde der Personalbestand der Deutschen Bahn halbiert auf heute 230000 Mitarbeiter, davon 19500 Lokführer und 12000 Zugbegleiter. Rund zwei Drittel des Personalabbaus sind in Ostdeutschland erfolgt. Es wurde auf Lohn, Urlaub, Freizeit verzichtet – damit die Bahn schwarze Zahlen schreiben könne und die Arbeitsplätze erhalten blieben. Und wie bei allen Privatisierungen, so gilt auch hier: Die Privatindustrie mästet sich an den Staatsbetrieben.

Die wahren Terroristen

Genau in die Auseinandersetzung um die Privatisierung, für die Transnet und GDBA dem Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) den Segen erteilten, platzte der Streik der GDL. Er war der Auflösung der Klassenaktion einer vermeintlichen »Einheitsgewerkschaft« entsprungen. Der Abschluß von Tarifen, die die speziellen Berufsinteressen der Eisenbahner vereinheitlichen, wurde als Basis für geschlossene, wuchtige Kämpfe nicht genutzt. Der Vorwurf der »Spaltung der Gewerkschaftsbewegung« traf gerade diejenigen, die der GDL die Solidarität verweigerten. Mehdorn drohte, es dürfe nicht sein, daß »eine kleine Berufsgruppe ganz Deutschland terrorisiert«. Unterstützung erhielt er vom Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Jürgen Thumann, von Tiefensee, seinem Parteivorsitzenden Kurt Beck und von Bundeskanzlerin Angela Merkel – vom kapitalistischen Tarifkartell überhaupt. Hansen und GDBA-Chef Klaus-Dieter Hommel sowieso, aber auch die Vorsitzenden vom DGB Michael Sommer, vom Deutschen Beamtenbund Peter Heesen, von der IG Metall Berthold Huber und von ver.di Frank Bsirske bliesen in das gleiche Horn. Selbst die DKP, von der anderes zu erwarten gewesen wäre, widersprach nicht sofort vehement. Das Feindbild »Lokführer« stand. Die Tarifeinheit wurde beschworen – sie sei ein »Standortvorteil«, denn schließlich hat sie die Profitrate hoch und die Lohnrate niedrig gehalten. Es war schon fast wie 1922, als das allgemeine Stichwort lautete: »Das Verbrechen der Eisenbahner«. Und wie damals sollte das Streikrecht vom Koalitionsrecht getrennt und nach dem Willen des Bahnkonzerns am besten beides abgeschafft werden. GDL-Anwalt Ulrich Fischer hat dieses skandalöse Vorgehen in seiner »Schutzschrift in einem eventuellen einstweiligen Verfügungsverfahren« vom 1. Oktober 2007 für jedermann nachvollziehbar angeprangert.

Das Streikrecht – damit das Koalitionsrecht – behindert die Privatisierung. Deren eisenbahnerfeindlicher Charakter offenbart sich in den Auswirkungen: Die Fahrpreise werden erhöht, die Löhne werden herabgesetzt, die Ausbeutung der Arbeitskraft wird gesteigert, die überflüssigen Eisenbahner fliegen auf die Straße. Der Bahnkonzern ist daher sehr daran interessiert, die Eisenbahner um ihr Streikrecht zu bringen. Das widerspricht dem Grundgesetz, das das Koalitionsrecht »für jedermann und für alle Berufe« gewährleistet. Wenn deshalb das Streikrecht schon nicht abzuschaffen war, so sollte es doch wenigstens weiter eingeschränkt werden. Kluge Richter gaben diesem Ansinnen letztlich nicht nach, auch die Medien tendierten eher zur Unterstützung der GDL. Wenn Macht das Gesetz bricht, so wies das Gesetz die Macht hier in die Schranken. Auch die öffentliche Meinung ist eine Macht. Diese Macht stand auf der Seite der Eisenbahner. Und wer als Richter gegen die Macht der öffentlichen Meinung das Gesetz gebrochen hätte, der hätte sehr wahrscheinlich einen ernsten politischen Konflikt verursacht.

Dennoch wurden alle Register gegen die GDL gezogen: Prozeßhanselei, millionenschwere Schadenersatzforderungen, eine von Transnet initiierte Unterschriftensammlung gegen die Urabstimmung der GDL, Verbannen der Eisenbahner in die Friedenspflicht durch schriftliche Erklärungen über die Annahme des Tarifabschlusses von Transnet/GDBA, Maßregelungen, Suspendierungen, Entlassungen, Verleumdungen, Beschimpfungen, Falschmeldungen, Hetze. Mit der Frage nach der »Verhältnismäßigkeit« des Streiks, im Zuge des Wehklagens der großen Konzerne über ihre Profitverluste, wurde die »Zwangsschlichtung« beschworen – fehlte nur noch die »Notverordnung«. Und so war klar: Was heute die GDL betrifft, betrifft morgen vielleicht die Gewerkschaftslinke und übermorgen alle Lohnabhängigen. Sind die Eisenbahner geschlagen, triumphiert das gesamte Kapital.

Große Solidarität

Spielt eine umstrittene Rolle: der Vorsitzende von Transnet und
Spielt eine umstrittene Rolle: der Vorsitzende von Transnet und Vizechef des DB-Aufsichtsrats Norbert Hansen (r.) mit GDBA-Vorsitzenden Klaus-Dieter Hommel (l.), streng beäugt von Bahnchef Hartmut Mehdorn
Die Solidarität der Lohnabhängigen mit den streikenden Eisenbahnern war groß. Es gelang dem Kapital nicht, die Front aufzubrechen. Mit jeder neuen Gemeinheit steigerte sich die Zustimmung zu den Forderungen der GDL. Für die Gewerkschaftsführungen allerdings galt, was auch im Aufruf der KPD vom 5. Februar 1922 stand: »Die gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen, die nach dem Willen der Arbeiter berufen sind, die wirtschaftlichen Interessen des Proletariats zu vertreten, sind (…) diesem ungeheuren gewerkschaftlichen Kampfe in den Rücken gefallen« (Frölich, S. 37). Sie waren auch 2007 nicht bereit, angesichts des zeitweiligen Streikverbots durch deutsche Gerichte, ernsthaft und massenhaft gegen diesen Bruch des Grundgesetzes zu mobilisieren. (1922 gab wenigstens der Deutsche Beamtenbund den Streikenden Rückendeckung.) Auch die GDL hat beim Streikrecht nur abgewartet.

Es ist die soziale Misere in unserem Land, die bewirkte, daß sich die Mehrzahl der Lohnabhängigen in den Forderungen der Lokführer wiedererkannte. Fast täglich gab es Solidaritätserklärungen. Gliederungen der DGB-Gewerkschaften führten gemeinsame Veranstaltungen mit der GDL durch. Die Streikenden im Einzelhandel tauschten sich über die gemeinsame Lage mit kämpfenden Eisenbahnern aus. Kundgebungen wurden durchgeführt. Die Kampfkraft der GDL und ihr Durchhaltevermögen im Streik waren untrennbar mit der Sympathie der Masse der Lohnabhängigen verbunden. Sehr aufmerksam hat die GDL-Führung deren Entwicklung verfolgt, ohne jedoch in der Lage gewesen zu sein, sie auch politisch umzumünzen. Daran hat die GDL-Spitze ihr eigener Mangel an Klassenbewußtsein gehindert.

Andererseits war der Unmut der Masse der Lohnabhängigen über den anhaltenden Verzicht in allen Fragen der Lebenshaltung nicht so groß, daß daraus solidarische Aktionen für die Streikenden hätten entspringen können. Es gab also ein Hindernis in der weiteren Entfaltung des Streikwillens: die Gewerkschaftsführungen. Gegen diese hätten die Lohnabhängigen sich durchsetzen müssen, denn Solidaritätsaktionen hätten gegen die eigene Gewerkschaftsführung stattfinden müssen. Das erkannte DGB-Chef Sommer, als er vor den »britischen Verhältnissen« warnte, die hier nur bedeuten, daß die Gewerkschaftsmitglieder stärkeren Einfluß auf die Gewerkschaftspolitik bekommen könnten.

Der Kampf der streikenden Eisenbahner paßte nicht in die Politik des DGB. Sein bürokratischer Apparat ist aufgebläht. Die Vorbereitung zum Streik beschäftigt ihn nicht. Man kann auch nicht gleichzeitig die Interessen des Unternehmens und die Interessen der Arbeiter vertreten. Aus den formalen Einwänden des DGB gegen den Streik der GDL sprach immer wieder die Auffassung Mehdorns: »Ein Streik ist die schlechteste Form der Auseinandersetzung in einem Unternehmen«. Auch der Dualismus, die GDL-Forderungen zu bejahen, aber die Klassensolidarität zu verneinen, läuft auf die Kritik am Mittel des Streiks hinaus. Das Hauptgewicht in der Gewerkschaftstätigkeit wird nicht mehr auf den Kampfcharakter der gewerkschaftlichen Einrichtungen gelegt, damit nicht mehr auf die klassenkämpferische, sondern auf die arbeitsgemeinschaftliche Haltung gegenüber dem Tarifvertragswesen.

Die Solidarität der Masse der Lohnabhängigen verdeutlicht, daß sich im Kampf der GDL nicht etwa zeigt: Den Berufsverbänden gehört die Zukunft. Denn die Sympathie der Millionen Lohnabhängigen mit dem Streik und den Streikenden, die das gleiche Interesse zur Solidarität getrieben hat, nämlich »Schluß mit dem Verzicht!«, setzt die Frage auf die Tagesordnung: Welchen Sinn machen dann noch kleine Gewerkschaften? Die Stärke der GDL ist die verbandspolitische Schwäche des DGB; ein Rahmen – ohne klassenbewußten gewerkschaftlichen Inhalt, ohne wirkliche Kollektivaktion.

Mehr Klassenbewußtsein

Die GDL trat als die organisierte Verteidigung der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits an. Je kompromißloser sie dabei vorging, desto größer wurde der Zulauf in ihre Reihen. Je rücksichtsloser der Profit reagierte, desto größer wurde ihre Geschlossenheit. Aber von Anfang an gab es zwei Probleme: Die Ursache des Kampfes, die Privatisierung als entscheidende Frage für die Eisenbahner, wurde nicht zum Ziel des Angriffs selbst gemacht. Die Führung der GDL erklärte stets, kein Privatisierungsgegner prinzipieller Art zu sein. Auf die Frage: »Sind Sie prinzipiell gegen den Börsengang?«, erklärte der GDL-Vorsitzende Manfred Schell: »Ich bin nicht prinzipiell gegen den Börsengang, solange die Infrastruktur beim Bund bleibt. Ich halte die Bahn zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht für börsenfähig« (süddeutsche.de, 5.11.2007). Das zweite Problem: Das Fahrpersonal, bestehend aus Lokführern, Zugbegleitern und Bordgastronomen, wurde organisiert. Gemeinsam wurden die äußerst widrigen Arbeits- und Lebensbedingungen in die Forderungen eines Fahrpersonaltarifvertrages gegossen. Aber schon vor der Schlichtung der CDU-Moderatoren Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf war bekannt, daß die GDL gegebenenfalls auch mit einem »Lokführertarifvertrag« zufrieden wäre. Allerdings wurde auf die GDL wiederholt mit Gesetzeskraft Druck ausgeübt, um das Zugbegleitpersonal nicht mit einzubeziehen. Wenn aber mit Gesetzen gegen Gewerkschaften vorgegangen wird, müssen Gewerkschafter eine politische Antwort finden. Doch die GDL-Führung hatte schließlich auch eigene Ziele, die die Gefahr in sich bargen, daß sie die Gewerkschaftsmitglieder benutzt, um ihre Eigenständigkeit zu erreichen und ihre Daseinsberechtigung zu sichern.

Diese Inkonsequenzen holten die GDL immer wieder ein. Zugbegleitpersonal und Bordgastronomen blieben draußen – das war die Bedingung! Der Fahrpersonaltarifvertrag blieb eine Idee. Die Rede war nur noch vom »Lokführertarifvertrag«. Es ging um eine Kraftprobe, die nur zu bestehen gewesen wäre, wenn klassenbewußtere Gewerkschafter an der Spitze der GDL gestanden hätten und die Solidarität der anderen Gewerkschaftsspitzen nicht ausgeblieben wäre, dieses Hindernis war entscheidend. »Gefechtspausen«, die dem Bahnvorstand zwischen den sich verschärfenden Streiks gewährt wurden, gingen aber überall zu Lasten der GDL-Führung. Sie war mit ihrer engen gewerkschaftlichen Auffassung, bei der die Profitrate in die Lohnrate per Tarifvertrag überführt werden sollte, nie in der Lage, den Kampf konsequent zu führen. Ihre ständige Kompromißbereitschaft, ihr Zögern und nachgiebiges Taktieren haben dazu geführt, daß die entscheidende Aktivität der kämpfenden Eisenbahner, nämlich der unbefristete Streik, zu dem sie fest entschlossen waren, ständig zurückgehalten wurde. Während gleichzeitig der Bahnvorstand zu immer schärferen Angriffen überging, die die Stimmung der Kollegen auf den Siedepunkt brachten.

Die GDL, die kein Organ der außerparlamentarischen Macht der Arbeiterklasse sein wollte, hat den wirtschaftlichen, nicht den politischen Charakter ihres Kampfes in den Mittelpunkt gestellt. Der Staat und die Regierung taten das Gegenteil. Der endgültige Beweis ist erbracht durch Tiefensees »Zwangsschlichtung«. Der Staat mußte um seiner selbst willen eingreifen – und den unbefristeten Streik durch Druck auf Mehdorn (Tiefensee/Schell bestreiten das) unterbinden. Die Regierung mußte unter allen Umständen vermeiden, daß sich der Kampf der Lokführer mit den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst verbindet. Der Widerstand gegen die Politik der großen Koalition nimmt zu. Wird der Verkehr für längere Zeit stillgelegt, dann hören die Staatsfunktionen auf. Der Streik richtet sich so gegen den Staat. Die Bekämpfung der Privatisierung als Streikziel hätte dies sofort verdeutlicht. Und dieses Ziel lag in der Luft, denn der Streik der GDL behinderte seine Verwirklichung gewaltig. Ein Streik aller Eisenbahner macht die Privatisierung unmöglich. Deshalb vor allem nennt Hansen wohl den Streik der Lokführer und Zugbegleiter, den »überflüssigsten Streik in der Bahngeschichte Deutschlands«. Er disqualifiziert sich damit selbst, aber das ist ja seine besondere Stärke.

Neuer Ausgangspunkt

Die Eisenbahner haben mit dem Streik der GDL einen neuen Ausgangspunkt für eine kämpferische Gewerkschaftsarbeit gewonnen. Die Wirkungen werden langfristig sein. Getrieben wurde die Tarifgemeinschaft bei ihren Verhandlungen zur neuen Entgeltstruktur. Getrieben wurde der Konzern zur Beschleunigung dieser Verhandlungen. Und allein durch die Drohung, Arbeitsplätze abzubauen, wird deutlich, daß es um die Kollektiv­aktion geht, darum, daß alle Bahngewerkschaften eine Gewerkschaftspolitik anstreben, die sich gemeinsam gegen die Spaltung der Belegschaft durch den Bahnkonzern richtet. Damit dies kein frommer Wunsch bleibt, gilt es, alle klassenbewußten Kollegen in einem linken Gewerkschaftsflügel zu sammeln, der mit einer klaren Stellungnahme vor die Gewerkschaftsöffentlichkeit tritt, denn noch sind nicht alle Messen gesungen – Hansen und Mehdorn üben weiter Druck aus. Dramatische Wendungen sind nicht ausgeschlossen. Deshalb: Hand angelegt, alle Kräfte der Opposition ans Werk.

Allen Lohnabhängigen wurde durch den Kampf der Eisenbahner verdeutlicht: Die Kämpfe entwickeln sich ungleichmäßig. »Die Sache jedes einzelnen, jeder besonderen Schicht, jedes besonderen Berufs muß die Sache aller werden. Sie müssen sich gegenseitig stützen und fördern im Kleinen und das große Ziel vor Augen haben. Sie müssen bereit sein, dafür zu kämpfen. Dann wird es gehen. Dann wird das Verbrechen ausgetilgt, das heute am ganzen arbeitenden Volke begangen wird« (Frölich, S. 30).



1 »Stinnisierung« ist das geflügelte Wort für die Privatisierungspläne des vom Großindustriellen Hugo Stinnes vertretenen deutschen Kapitals

Paul Frölich: Das Verbrechen an den Eisenbahnern. Der Februar-Streik und seine Lehren, Berlin 1922, Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten, 40 Seiten

Jim Knopf reist unter anderem Namen als DB-Zugbegleiter durch die Lande

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