Trendwende in Berlin? Hoffentlich!

Berthold Bürger 03.02.2011 13:26 Themen: Blogwire Freiräume Repression Soziale Kämpfe
Im Zuge der Reaktionen auf die gestrige Räumung der L14 versuchte sich die Polizei offensichtlich an einem neuen Konzept - und scheiterte grandios an ihm, während Klein- und Großgruppen die Vorlage, beinahe wundersamer Weise, für den eigenen Vorteil zu nutzen wussten.
Beschränkt man sich in einem Resümee der gestrigen Aktionen einzig und allein auf die Demo, die um 19Uhr am Boxhagener Platz starten sollte, reicht es eigentlich schon fast, um zu erkennen, worauf die Polizei im großen und ganzen mit ihrem Konzept hinaus wollte: Bilder vom wütenden Mob, der nicht nur Sachschaden hinterlässt, sondern auch Menschenleben ganz gezielt angreift. Denn während entglaste Banken und Event-Hallen dem typischen, jüngeren, eher alternativen Bewohner von Friedrichshain-Kreuzberg eher ein müdes Lächeln, womöglich sogar etwas Genugtuung in den Gesichtsausdruck zaubern, hört bei vielen jung-Bürgerlichen der Spaß genau da auf: tätlicher Angriff auf Menschen. Ganz gleich ob in grüner Uniform oder mit lila Zylinder auf dem Kopf.
Allerdings soll es in diesem Artikel weniger um eine Militanzdebatte gehen, die ganzen Für und Wider abzuwägen, sondern darum, was gestern Abend eigentlich geschehen ist, das Herrn Körting und seinem Sprachrohr, den Medien einen Strich durch die Rechnung machte.
Bereits zum Start der Demo fiel eines auf: trotz recht großer Bullenpräsens am gestrigen Tag, gab es beinahe unbemerkt ein Novum, nämlich, dass keine Vorkontrollen stattfanden. Selbst Menschen in dunkler Kleidung, mit Kapuze auf dem Kopf und Rucksack auf dem Rücken konnten ohne Probleme auf den Boxhagener Platz. Wohl gemerkt nicht, weil keine Sperrkette um den Startpunkt gezogen war, sondern weil die Cops es schlichtweg nicht zu interessieren schien, was in den Rucksäcken steckte - prinzipiell ein Grund zur Freude, scheinen sie es doch endlich begriffen zu haben, dass der Tascheninhalt sie nichts angeht, solang Einjede_r die atomaren Sprengkörper zu Hause gelassen hat. Dass es jedoch ausgerechnet gestern der Fall war, das verwundert.
Auch das eher motivationslose Seitenspalier, welches sich kurz nach dem Start ausschließlich an die rechte Seite der Demo heftete war untypisch und regte eher zum wundern an, denn zum "entspannten" mitlaufen: einzelne Züge von Cops, zwischen denen dann aber immer wieder mindestens 10m Platz waren. Und das auf der sonst bei Demos stark gesicherten Simon-Dach-Str.
Überhaupt: hat es das jemals gegeben, in Berlin, dass die Polizei die Route einer Demo mit solchem Konfliktpotential fast konsequent über die ganze Länge der engen und mit Bierbänken und -Tischen gefüllten Yuppi-Meile zugelassen hat? Mit einer Wendeschleife über die Revaler, Warschauer, Grünberger, um dann wieder auf die Straße zu kommen, die Team Grün doch in der Regel eher Magenschmerzen macht?
Komische Route, die Ersatzroute für die eigentlich viel besser zu kontrollierende Warschauer/Frankfurter Allee, die ursprünglich angefragt worden war.
Letztlich ist die Frage jedoch müßig, da die Demo im Endeffekt ohnehin nicht weiter als bis zur Wühlischstr. kam, wobei es wiederum schonfast an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt so weit kam, was wahrscheinlich auch gar nicht im Plan der Cops vorgesehen war.
Die Krönung der Seltsamkeiten in der gestrigen Polizeistrategie war schließlich die Kreuzung Revaler/Warschauer, an der es dann wohl jede_r auch nur mäßig erfahrene Demo-Gänger bemerkte, dass etwas nicht war wie sonst:
Die Wannen, welche im Bogen die Warschauer in Richtung Kreuzberg versperrten, um lediglich das Abbiegen nach rechts zu ermöglichen waren komplett ungeschützt, und zu allem Überfluss bis auf die Fahrer_innen leer. Dass unter ihnen ein Sanitätswagen einer Hundertschaft war, passte ebenfalls kein Stück zur eigentlichen Gefahreneinschätzung der gestrigen Demo.
Zehn Meter weiter ging es dann direkt weiter mit den Merkwürdigkeiten, als sich feststellen lies: das geschotterte Gleisbett der M10, welches für Gewöhnlich mit Hamburger Gittern gesichert und von einer Hundertschaft bewacht wird, war vollkommen frei. Wie eigentlich die gesamte Kreuzung, wenn man von den genannten leeren Wannen und dem einsamen Zug einer Hundertschaft in der kleinen Straße neben Kaisers einmal absieht. Ach ja: und von den zahlreichen Zivi-Cops, die sich auf den Treppen vor dem Supermarkt tummelten, teilweise mit großen ReizsgasSprühGeräten unter ihren Jacken hervorschauend. Ansonsten konnte man lediglich sehen, dass außer Teilnehmern der Demo nichts zu sehen war. Zumindest nichts, was einen Mob dort hätte stoppen können.

Und mag das womöglich des Pudels Kern gewesen sein? Eine gewollte Entladung der Wut auf der Warschauer Str., nicht lange nach dem Start der Demo? So abwegig scheint es nicht, eher im Gegenteil, wenn man die genannten Fakten zusammenrechnet: da haben wir nicht stattfindende Vor-/Taschenkontrollen, und kaum Schutz in der glasigen Simon-Dach-Str.. Ein Spalier? Nicht wirklich, und auch im hinteren Bereich der Demo wenig Begleitung. Zu alledem eine Gruppe von mehreren Wannen, die quer zur Demoroute stehen und nur von Fahrern besetzt sind, während die Einheiten nirgends zu sehen sind, und ein Gleisbett mit Schotter, welches man wohl durchaus als eine Art All-You-Can-Throw Buffet bezeichnen darf.
Die Tatsache, dass an der Kreuzung, einen Steinwurf entfernt, wie der Volksmund es nennt, gleich zwei Banken, eine Sparkasse und eine Raiffeisen Bank sind, klingt doch zusätzlich eher so, als sei sie dem feuchten Traum des randalierenden Mobs entsprungen, denn als eine reale Situation, die die Berliner Polizeiführung nach einem der wohl brisantesten Ereignisse der letzten Jahre einfach so vergisst, in ihrer Planung.

Den Sinn, der dahinter steckte? Nun, den könnt ihr Euch wahrscheinlich selbst denken, aber wir sind der Meinung: die Polizei wollte eine Eskalation unsererseits, und zwar am liebsten an dieser Stelle. Allerdings wollte sie eine ganz konkrete Eskalation, welche den Unterschied zur wahrscheinlich im Verlauf ohnehin zu erwartenden Eskalation macht: sie wollte "feige" Angriffe unsererseits. Weniger auf die Banken, keine Sachbeschädigungen, sondern Angriffe auf die Wannen, zu allem Überfluss auf den San-Wagen, der mit in der Fahrzeugkette stand - denn welcher Bürger würde sich noch mit Menschen solidarisieren, die Krankenwagen angreifen, und mit einem Mob auf bloß von Fahrern besetzten Wannen losgehen? Das alles, wohl gemerkt, mit einem Steinhagel, denn um Munition musste sich dank der Gleise niemand Gedanken machen. Es erinnert etwas an den einsamen Bullen in Rostock...
Im hinteren Bereich, vor Kaisers, hätten dann die Zivis gestanden, die fein säuberlich dokumentiert, die entsprechenden Personen hätten markieren können, und, zur Not, sich in der aufgeheizten Stimmung bei Enttarnung mit der großen Dose Pfeffer den Weg nach draußen frei geschafft hätten.
An der O2-World (Das macht die spätere Entglasung um so lustiger!) standen mehrere Hundertschaften, und auch in der Wühlischstr. Richtung Wedekindstr. stand Wanne an Wanne. Eine Kesselung der gesamten Demo währe nach bravem Ausrasten an der eingeplanten Stelle also innerhalb weniger Minuten möglich gewesen, was auch die einsamen Fahrer_innen Sperr-Wannen wahrscheinlich so unglaublich unbeteiligt und lässig hat in ihren Autos sitzen und sogar lesen (!) lassen.

Und nun das Fazit, bzw der Grund, weshalb diese Taktik nicht aufging: der Mob hat zur Ausnahme mal irrational, aber vernünftig reagiert! Statt des sonst so Berlin-typischen Block-denkens und den Bullenstress favorisierenden handelns, entlud sich die Wut nicht sofort an der erstbesten Stelle, nicht sofort an der ersten leeren Wanne, sondern für die Cops unerwartet ganz vorn, an der Ecke Wühlischstr. wo auch recht flott die WaWe bereitstanden. Zur Unterstützung, und damit zeigte der Einsatzleiter gestern, dass er keine Nerven hat, wurden die Einheiten vor der O2-World über den Ostbahnhof, Straße der Pariser Kommune, Karl-Marx-Allee und Warschauer abgezogen, womit die für den eigentlichen Plan benötigten Bullen, die die Warschauer-Brücke hätten abriegeln sollen, um ein durchbrechen Richtung Kreuzberg zu verhindern und den Kessel dicht zu machen, fehlten, lustiger noch, wie aufgescheuchte Hühner durch den Kiez bretterten.
Während nun unter normalen Umständen mindestens Dreiviertel des Blocks den Bullen entgegen-gerannt wären (Motto: führ mich zum Blau-Licht), verhielt man sich aber antizyklisch, besser gesagt, effektiv. Denn die Cops die vorn an der Demo waren, konnten schließlich laut Einsteins Materie-Kram nicht mehr hinten an der Demo sein...oder eben an der O2-World, womit der Run seinen Lauf nahm!
Dass zeitgleich eine auch recht große Menge wieder zurück in der Revaler verschwand nachdem er dann doch "endlich" die Sparkasse entglast hatte, und plötzlich ein Mob in der Mainzer Barris bauen konnte, während aber noch immer ein Teil auf der Warschauer stand, das überforderte besonders die auswärtigen Bullen ungemein, die sich beim ewigen hinterher-fahren auf den teilweise recht langen Wegen (zB. Warschauer, Ostbahnhof, Str.-Pariser Kommune, Karl-Marx-Allee) auch gern mal verfuhren. Aber auch die Berliner Helden der 23. wirkten leicht panisch, als sie auf beiden Seiten der Warschauer Richtung Frankfurter Tor preschten, während wir uns noch dachten "Jetzt Blitzeis, please!".
Der Unterschied von gestern zu üblichen Demos in Berlin war, dass es einmal andersherum war. Nicht der Mob rannte in Hoffnung auf Action den Bullen hinterher, sondern er machte sich seine Action selbst, solang die Bullen nicht da waren, und lies diese hinter sich her rennen/fahren. Schaut man sich dann heute Friedrichshain bei Tag an, lässt sich da allerdings auch noch anhängen: ...aber sie fuhren zu langsam!


Kurz: passt in den kommenden Tagen und bei den kommenden Demos mit L14-Bezug auf, dass ihr nicht in eine strategische Bullenfalle lauft! Nichts schadet der Sympathie in der Bevölkerung mehr, als Gewalt gegen Leib und Leben, während mit der Sparkasse wohl die Wenigsten Kiezbewohner Mitleid haben, wahrscheinlich nicht mal die, die selbst ein Konto dort haben. Aber genau diese Sympathie, die ist es, wovor die Cops aktuell Angst haben, denn meist sind die Demos ein, zwei Tage nach Räumungen größer, als die am selben Tag. Bedenkt man aber, dass am Wochenende auch die SiKo in München ist, und es für Team Green schwer werden dürfte, Unterstützungseinheiten aus anderen Bundesländern zu bekommen, war das Konzept gestern: unauffällige Provokation, um öffentlichkeitswirksame Aufnahmen für negative Schlagzeilen zu bekommen. "SIE WOLLTEN TÖTEN", oder so. Ihr kennt das. Und nach solchen Meldungen kommen Mama Laurelia mit Sohnemann Marvin-Justinus bestimmt nicht mehr zur Demo, trotz aller Solidarität und Sympathie.
Und das wiederum, das bedeutet, dass es keine Demo über 1000 Teilnehmern gäbe, was im Berlin-typischen Fall bedeuten würde, es würde ein Kiezspaziergang, da "wir sind zu wenig" - dabei haben wir doch gestern gesehen, wie Kleingruppen rocken können, wenn sie sich spontan zu Großgruppen zusammenschließen.

Aber das ist eine andere Geschichte, und die müsst Ihr Euch selbst vorlesen...


Passt auf Euch auf, und:
R84,L14 - NEVER FORGET!
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Ergänzungen

mal

davon 03.02.2011 - 14:20
abgesehen, dass deine "Wühlischstrasse" an der Stelle die Kopernikusstrasse ist und ein teil deiner beobachtungen zutrifft bleibt trotzdem meine ehrlich interessierte Frage: Was will uns der/die Autorin eigentlich sagen?

vorkonrollen gabs übrigens zumindest am östlichen teil des boxi, mit der üblichen routine liessen sie sich aber (wie fast immer) umgehen.

an der demo vorne war durchaus spalier, aber kein enges bzw. massives, die Einheiten kamen aus Niedersachsen und wirkten nicht sehr erfahren oder zumindest etwas orientierungslos.

Ob die Eskalation an der Stelle gewollt war, da hätte ich so meine zweifel, ich denke eher dass sich die bullen auf ein hufeisen mit kesselmöglichkit am ende der reote vorberitet hatten.

mit dem losgerenne von kleingruppen während der demo haben sie sicher nicht wirklich gerechnet. passiert in berlin ja auch eher selten, nach der vorzeitigen auflösung der antifademo im dezember auf der wiener war die komplette demo mit der Situation ja auch völlig überfordert.

so richtig aufklären liesse sich die situation allerdings nur, wenn so wie früher ein funk-protokoll vorliegen würde.

Wurde

kontrolliert 03.02.2011 - 14:29
Also das es keine Vorkontrollen gab stimmt so nicht. Ich musste meinen Rucksack aufmachen. Wurde zwar nicht gründlich durchsucht, aber kurz reingeguckt und Pulli hochgehoben haben sie schon.

Fotos von gesmashten Mehrzweckhallen...

pflasterstrand 03.02.2011 - 14:34
Fotos vom Sachschaden von heute nacht gibt es unter anderem hier...

 http://www.flickr.com/photos/mikaelzellmann/sets/72157625840063803/

aha

ja 03.02.2011 - 14:43
einige Richtigstellungen
- Vorkontrollen gab es
- Spalier war auf beiden Seiten, erst als die Demo stand wurde es Rechts abgezogen um wohl so etwas wie Sa vorm McDonals zu vermeiden mit den verletzten Bullen du rennen musten
- Demo kam fast bist Warschauen/Kopernikus

Eine wichtige Neuerung!

l14 forever 03.02.2011 - 15:52
Eine besonders schöne Sache: viele festgenommene Menschen wurden von den Umherstehenden wieder rausgeholt! Leider hatte sich in den letzten Jahren in Berlin der Trend entwickelt, Leute nicht mehr aktiv aus den Fängen der Bullen zu befreien, sondern nur blöd zu pöbeln und resigniert stehen zu bleiben.
Das war gestern Abend anders! Sehr schön! Wir haben gesehen, dass es funktionieren kann, denn die Gefangenenbefreier_innen waren selbst durch den Mob geschützt und mussten sich so nicht der Gefahr aussetzen, selber mitgenommen zu werden.Hoffentlich hält dieser Trend an!

Für mehr Solidarität auf Demos!

PS: Ja, leider gab es Vorkontrollen, und zwar schon sehr sehr weit vorne am Frankfurter Tor, und das auch, nachdem die Demo bereits losgegangen ist (Rechtmäßigkeit?? Egal, pseudo-rechtsstaatliche Argumente sollten wir eh nicht reproduzieren)

Und ja: Sachschaden kann eine revolutionäre Tat sein. Für die Skeptiker_innen: es lohnt sich, sich mit Insurrektionalismus zu beschäftigen!

Überregionales Echo

Lesender Arbeiter 03.02.2011 - 18:49
Für alle die der Meinung sind, die gestrigen Aktionen seien ein regionales Phänomen, das ausserhalb Berlins niemand wahrnimmt (eine Ergänzung behauptete ja gerade: "Nichtmal eine Meldung in der überregionalen Presse"), hier der Gegenbeweis:

Überregional:
"Die Welt":
 http://www.welt.de/videos/politik/article12433031/Ausschreitungen-nach-Haus-Raeumung-in-Berlin.html#autoplay
"Süddeutsche Zeitung":
 http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-hausraeumung-in-berlin-verletzte-polizisten-festnahmen-1.1054933

International:
"The Guardian":
 http://www.guardian.co.uk/world/2011/feb/03/clashes-berlin-commune-eviction-liebig14?INTCMP=SRCH
"BBC":
 http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-12344603

mainstream medien

anto 03.02.2011 - 20:53
Müßt euch die Kommentare in der Taz mal ansehen , oder auch nicht, man meint bei Tagesspitzel gelandet zu sein.

 http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/schlimmer-als-am-1-mai/

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 13 Kommentare an

Verklickt und zugenäht! — Berthold Bürger

Nicht Militanzdebatte — Roland Ionas Bialke

Berlin nervt — Sören

Nichts ist geschehen — mal ehrlich

@ mal ehrlich — Hamburger

blitzeis, hm? — tagmata

Morgen agent provocateur — Körtingzuhausebesucher

Fake und Richtigstellung — Roland Ionas Bialke