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Freitag, 06. Januar 2012

“For millions and millions of youth in the inner cities, crime is a rational choice, the best choice they can make under this system. What fucking kind of system have you got then?”

flattr this!

Der Angriff der kurdischen PKK auf einen türkischen Militärposten im Grenzgebiet zum Irak am 19. Oktober 2011 und die anschließende Militäroffensive der türkischen Armee im Nordirak machten deutlich, dass die „Kurdenfrage“ weit davon entfernt ist, gelöst zu werden. Dabei hatten einige begrenzte Reformen der moderat-islamischen AKP-Regierung Hoffnungen aufkommen lassen, die sich jedoch schnell zerschlugen. Die fortwährende Verweigerung, die Verhandlungsangebote der PKK überhaupt zu registrieren, und die andauernde repressive Bekämpfung ziviler kurdischer Akteure lassen darauf schließen, dass eine zivile und gerechte Konfliktüberwindung von Seiten des türkischen Staates nicht beabsichtigt ist.

Die „Kurdenfrage“ stellt die Türkische Republik als Nationalstaat in Frage und dies nicht erst seit heute. Die Türkei, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches entstand, ist das Produkt eines „Befreiungskrieges“ (1919-1923), der mit zahlreichen Pogromen und Massenmorden an Minderheiten einherging. In zahlreichen Regionen hatten nicht-türkische Bevölkerungsgruppen die Mehrheit gestellt, bis dies durch Massaker und Umsiedlungen geändert wurde. Die türkische Staatsführung wollte aus dem „Überbleibsel“ des Osmanischen Reiches eine türkische Nation bilden und verfolgte dazu eine aggressive Türkisierungspolitik. Nach der Entstehung der Republik bedeutete diese Politik für alle Minderheiten die soziale und kulturelle Ausgrenzung, den Zwang zur Assimilierung und den ökonomischen Niedergang.

Ein zentrales Konzept der Türkisierungspolitik war die Schaffung von unterschiedlichen Staatsbürgerschaftsmodellen: Während in der türkischen Verfassung alle türkischen Staatsbürger als gleichberechtigt deklariert wurden und eine ethnische oder religiöse Differenzierung ausblieb, wurde in staatlichen Bestimmungen und Anordnungen zwischen türkischen Staatsbürgern (einschließlich der Minderheiten) und ethnisch und religiös definierten „echten“ TürkInnen unterschieden. Staatliche Anordnungen legten fest, dass in vielen Sektoren nur noch „echte“ TürkInnen arbeiten durften, was dazu führte, dass Angehörige der Minderheiten entlassen wurden.

In unterschiedlichen historischen Phasen existierten unterschiedliche „Hauptgegner“ des türkischen Staates. Nach dem Genozid an den Armeniern 1915 und der Vertreibung der „griechischen“ Bevölkerung im Zuge des türkischen „Befreiungskriegs“ stellten die KurdInnen das Haupthindernis für die türkische Homogenisierungspolitik dar.

Der Versuch des türkischen Staates, die kurdischen Regionen unter direkte Kontrolle zu bekommen, führte zu einer Reihe von Aufständen zwischen 1925 und 1938. Die fünf größeren Aufstände in diesen Jahren (der Scheich-Said-Aufstand 1925, die Ararat-Aufstände 1926, 1927 und 1930 und der Dersim-Aufstand 1937-1938) und die anschließenden Militäroffensiven und Massaker seitens des türkischen Staates übertrafen den türkischen „Befreiungskrieg“ (1919-1923) im Hinblick auf den Verlust von Menschenleben und auf finanzielle Ausgaben.

Die Aufstände wurden von sehr unterschiedlichen AkteurInnen getragen und hatten somit sehr unterschiedliche Ziele. Diese Zusammenhänge müssen noch intensiver untersucht werden, aber einige stark verkürzte Hinweise können doch gegeben werden. Der Aufstand von 1925 etwa ist die Reaktion der traditionellen kurdischen Eliten darauf, dass sie in der neuen Republik als Machtfaktor an den Rand gedrängt wurden – während sie im Osmanischen Reich eine gewisse Eigenständigkeit besessen und eine relevante militärische Rolle gespielt hatten. Die Niederschlagung dieses Aufstandes bedeutete auch, dass das alte politische System nicht mehr zurückkehren würde und in der neuen Republik kein Platz für eigenständige kurdische Lokalfürsten war. Dies führte dazu, dass der kurdische Nationalismus und die Forderung nach einem eigenen Staat während des Aufstandes 1930 in der Grenzregion Ararat deutlicher zu vernehmen waren. Die Aufständischen erklärten ihre Unabhängigkeit und riefen die „Republik Ararat“ aus, die jedoch mit der Zerschlagung des Aufstandes durch die türkische Armee ein jähes Ende fand. Der Aufstand in der Dersim-Region 1937-1938 steht wiederum im Kontext der zunehmenden Kontrolle der kurdischen Gebiete durch den türkischen Staat. In der Dersim-Region hatten sich die traditionellen sozialen Strukturen weitgehend erhalten und der türkische Staat verfügte über vergleichsweise wenig Zugriffsmöglichkeiten. Der Versuch des Staates, die bisherigen sozialen Strukturen zu zerschlagen und die dortige Bevölkerung direkt zu kontrollieren, führte zu dem Aufstand. Allerdings hatte der Aufstand wenig Aussicht darauf, die lokale Eigenständigkeit erhalten zu können, oder gar einen unabhängigen Staat gründen zu können.

Der Staat zerschlug die Aufstände durch den Einsatz massiver militärischer Gewalt, wobei es zu Massakern und Vertreibungen an der Zivilbevölkerung kam. Neben der militärischen Bekämpfung der Aufstände wurde eine Reihe von politischen Maßnahmen beschlossen, die weitere Aufstände verhindern sollten und gleichzeitig die staatliche Homogenisierungspolitik weiterentwickelte. Bereits 1925, nach dem ersten Aufstand, wurde ein „Reformplan für den Osten“ von der türkischen Regierung beschlossen, wonach für die kurdischen Gebiete der Ausnahmezustand erklärt wurde, kurdische Staatsbedienstete entlassen wurden, nicht-türkische Sprachen verboten wurden und ein Teil der kurdischen Bevölkerung vertrieben wurde, damit sich an derer Stelle türkische Siedler niederlassen sollten. Eine weitere Zuspitzung ist das „Ansiedlungsgesetz“ von 1934, das die Deportation und Umsiedlung von nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich KurdInnen, zufolge hatte. Das Gesetz teilte die Bevölkerung der Türkei in drei Gruppen: (1) TürkInnen, die der türkischen Kultur angehörten und die türkische Sprache sprachen, (2) StaatsbürgerInnen, die zwar Türkisch sprachen aber nicht der türkischen Kultur zugehörig waren, (3) StaatsbürgerInnen, die eine nicht-türkische Sprache sprachen und nicht der türkischen Kultur angehörten. Die zweite und dritte Gruppe konnten umgesiedelt und/oder ausgebürgert werden. Neben der kurdischen Bevölkerung trafen die Umsiedlungsmaßnahmen, die auch gewaltsam umsetzt wurden, die nicht-muslimischen Minderheiten, so etwa türkische Juden und Armenier.

Nach der militärischen Niederschlagung der Aufstände und der Ausschaltung der kurdischen Organisationen haben kurdische AkteurInnen in der Türkei auf den bewaffneten Kampf weitgehend verzichtet und ihre Interessen durch zivile politische Mittel zu erreichen versucht. Allerdings waren die Antworten des türkischen Staates auf diese zivilen Ansätze das Verbot von Organisationen und die Verhaftung der AktivistInnen. Der Staat bestritt die Existenz einer kurdischen Bevölkerung in der Türkei, was dazu führte, dass türkische HistorikerInnen, SozialwissenschaftlerInnen und LinguistInnen die KurdInnen zu einem „türkischen Stamm“ erklärten und die Existenz einer eigenständigen kurdischen Sprache leugneten.

Eine intensive historische Aufarbeitung ist bis heute ausgeblieben. Die Aufstände werden in vielen deutschsprachigen Einführungen zur türkischen Geschichte höchstens kurz erwähnt. AutorInnen, die mit der kurdischen Emanzipationsbewegungen sympathisieren, beschäftigen sich teilweise etwas ausführlicher mit den Aufständen, deuten aber die Aufstände von 1925 bis 1938 als Vorläufer der kurdischen Nationalbewegung. Wie es zu den Aufständen kam und von wem sie mit welchen Zielen geführt wurden, bleibt ebenso unterbelichtet wie der Zusammenhang zur staatlichen Nationsbildungspolitik. In der Türkei selbst war bis vor einigen Jahren eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung kaum möglich. Auch wenn eine begrenzte Öffnung stattgefunden hat, müssen auch heute SozialwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen in der Türkei befürchten, Opfer staatlicher Repression zu werden, wenn sie sich allzu deutlich äußern. Zuletzt wurden im Oktober 2011 eine Reihe von WissenschaftlerInnen, Intellektuellen und StudentInnen verhaftet, mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der PKK-nahen KCK. Dieser Vorwurf dient hier, wie in zahlreichen anderen Fällen dazu, oppositionelle Stimmen zu unterdrücken.

Eine Lösung des gegenwärtigen Konflikts ist ohne eine Aufarbeitung der staatlichen Homogenisierungspolitik und eine Abkehr von der Vorstellung eines ethnisch homogenen türkischen Nationalstaates nicht möglich. Solange die grundlegenden Konfliktursachen bleiben, ist an einen nachhaltigen und gerechten Frieden in den kurdischen Gebieten nicht zu denken. Allerdings ist die Politik des türkischen Staates, sowohl beim Umgang mit den gegenwärtigen kurdischen AkteurInnen als auch im Bezug auf die Geschichtspolitik, einem solchen Frieden entgegengesetzt.

In: analyse & kritik (Nr. 567, 16.12.2011), S. 19.

Bernhard Schmid beschreibt das französische System der Sonderbeziehungen zu afrikanischen Staaten („Françafrique“), das eine tiefgehende Einmischung in die politischen und ökonomischen Fragen der afrikanischen Länder beinhaltet.

Als ab den 1950er Jahren afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erklärten, bedeutete dies keineswegs, dass damit eine vollständige Souveränität erreicht worden war. Ehemalige Kolonialmächte wie etwa Frankreich und die neuen Weltmächte USA und Sowjetunion deklarierten jeweils Interessensphären und knüpften die neuen Staaten in vielfältige Abhängigkeitsverhältnisse ein. Diese Strukturen wirken auch nach dem Ende des Kalten Krieges und des Zusammenbruchs der Sowjetunion weiter.

Weiterlesen bei kritisch-lesen.de

Witjastiefe 3 ist die größte anzunehmende Radiotiefe: ein zweistündiges monatliches Magazin und überregionales Radioprojekt.[via]

Schon seit einiger Zeit ist Witjastiefe 3 als ein gemeinsames Radioprojekt von FSK und Radio Corax auf Sendung. Es geht in der Sendung darum, sich mit politischen Entwicklungen auseinanderzusetzen, ohne dabei selbst in den tagespolitischen Jargon zu verfallen, sondern theoretische Reflexion zu wagen – in den Worten der Sendungsmacher_innen: »›Dass es weitergeht, ist die Katastrophe‹: Realpolitische Erwägungen im Interview, Reflexion der apokalytischen Stimmungslage der Republik und Interventionen an den soziokulturellen Kampfobjekten.« (via) Die bisher schon gesendeten Ausgaben der Witjastiefe sind nun online: witjastiefe.blogsport.de – zu finden sind unter anderem Sendungen über die völkische Wende in Ungarn, Antiziganistische Realitäten, den Wunsch nach einer heilen Welt und einige mehr.

Die Witjas-Sende-Termine (jeder erste Donnerstag im Monat) findet ihr hier, zu empfangen ist die Sendung auf UKW im Raum Hamburg auf 93.0 MHz und 101.4 bzw.105.7Mhz und im Raum Halle-Leipzig auf 95,9 Mhz. Per Internet-Live-Stream ist Witjastiefe 3 über Corax oder FSK zu hören.

Nachdem das Audioarchiv in einen kurzen Jahreswechselschlummer gefallen ist, geht’s hier auch in Kürze wieder weiter.

Zur Beschreibung der Witjastiefe 3:

Freie Radios sind zu allererst real existierender Freiraum in Zeiten kapitalistischer Zeichenhohheit. Damit wird freies Radio zu einem wichtigen Ort von Fragestellungen: Es sind Projekte, die auf dem Feld öffentlicher Diskussion agieren. Und damit geht es um ganz andere Formen der Kommunikation, als das warenförmige Angebot besonderer Schmeckerlis. Unter dieser Prämisse starten am Dienstag den 6.4. ab 10 Uhr das Freie Senderkombinat Hamburg und Radio CORAX Halle mit Witjastiefe 3 eine gemeinsame Magazinsendung. Diese wird in beiden Städten gleichzeitig gestaltet und ausgestrahlt. „Das es weitergeht, ist die Katastrophe“: Realpolitische Erwägungen im Interview, Reflexion der apokalytischen Stimmungslage der Republik und Interventionen an den soziokulturellen Kampfobjekten.
Witjastiefe 3 ist die größte anzunehmende Radiotiefe, möglicherweise erst einmal ein zweistündiges Magazin, dass Anfangs am ersten Mittwoch im Monat, später wöchentlich gesendet wird. Realisiert wird das neue überregionale autonome Radioprojekt durch einen charmanten Umgang mit Nullen und Einsen.
Zu empfangen ist die Sendung auf UKW im Raum Hamburg auf 93.0 MHz und 101.4 bzw.105.7Mhz und im Raum Halle-Leipzig auf 95,9 Mhz. Per Internet-Live-Stream ist Witjastiefe 3 über http://bit.ly/g1yOo9 oder http://bit.ly/euqFD9 zu hören. [via]

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Wie der Kapitalismus an seiner eigenen Produktivität erstickt

Norbert Trenkle

Die Entfesselung der Finanzmärkte wird als der schlechthinnige Sündenfall gebrandmarkt, der die aktuelle Krise ausgelöst haben soll. Wurde in der Diskussion über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ in den 1970er und 1980er Jahren noch der durchschlagende Effekt der Produktivkraftentwicklung thematisiert und darüber nachgedacht, wie die neuen Reichtumspotentiale vor allem durch Arbeitszeitverkürzung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Gesellschaft genutzt werden könnten, so verschob sich seit den 1990er Jahren der Fokus immer mehr hin zu einer verkürzten „Kapitalismuskritik“, die sich darauf fixierte, das Problem sei das „Überwuchern“ der Finanzmärkte.
Keinesfalls jedoch ist die „übertriebene“ Spekulation die Ursache für die ökonomischen und sozialen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte, und sie trägt auch nicht die Schuld an dem aktuellen Krisenschub, der immer bedrohlichere Dimensionen annimmt.
Gerade umgekehrt gilt: Ohne die massenhafte Kapitalisierung von Zukunftserwartungen hätten die gewaltigen Rationalisierungseffekte der dritten industriellen Revolution bereits in den 1980er Jahren eine unaufhaltsame Spirale massenhafter Entwertung in Gang gesetzt, und das warenproduzierende System wäre zunehmend an sich selbst erstickt. Die Entfesselung von Spekulation und Kredit verhinderte dies zunächst, weil sie neue Anlagemöglichkeiten für Kapital schuf, die in den Kernsektoren der Verwertung aufgrund der beschleunigten Verdrängung lebendiger Arbeitskraft nicht mehr gegeben waren. Doch das Verdrängte kehrt nun mit vervielfachter Gewalt zurück.

Wie die Produktivitätsrevolution unsichtbar gemacht wird

In den 1980er Jahren galt es noch allgemein als ausgemacht, dass die breitflächige Anwendung der IuK-Technologien zu einer massenhaften „Freisetzung“ von Arbeitskraft führen würde und deshalb, wie es damals hieß, „der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“. Diese Einschätzung ist jedoch in dem Maße zurückgenommen worden, wie die dritte industrielle Revolution voranschritt und ihre einschneidenden Auswirkungen den anfänglichen Schrecken verloren, während gleichzeitig die Aufblähung des fiktiven Kapitals nicht nur die Krise der Kapitalverwertung überdeckte, sondern auch zur Schaffung neuer Jobs führte. Nun lag freilich der Schwerpunkt der neu geschaffenen Arbeitsplätze keinesfalls in der Industrieproduktion, sondern im sogenannten Dienstleistungssektor, der allenthalben als der große Hoffnungsträger gehandelt wurde. Schon seit den 1970er Jahren galt es als ausgemacht, dass sich die moderne Gesellschaft von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wandeln werde. Und in der Tat schienen sich, gemessen an der quantitativen Verschiebung zwischen den Beschäftigungssektoren, diese Prognosen auch zu bestätigen. In allen kapitalistischen Kernländern ist seit den 1970er Jahren die Beschäftigung im primären und sekundären Sektor massiv zurückgegangen, während der Dienstleistungssektor einen gewaltigen Zuwachs an Arbeitsplätzen erlebt hat. So ist in den G7-Staaten der Anteil des tertiären Sektors von 62 Prozent im Jahr 1984 auf 74 Prozent in 2007 angewachsen. In den USA waren es im Jahr 2007 sogar 79 Prozent (OECD 2008, S. 38 f.).
Dieser empirische Befund darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass damit auch die Abschmelzung der Arbeits- und Wertsubstanz gestoppt worden wäre. Denn entscheidend für die Verwertung des Werts ist ja nicht, dass überhaupt gearbeitet wird, sondern dass diese Arbeit einen Wert und einen Mehrwert „produziert“, der abgeschöpft werden kann. Das ist aber nur dort der Fall, wo Arbeitskraft in der Produktion von Waren im Dienste eines Kapitals vernutzt wird – und genau das trifft für einen Großteil der im Dienstleistungssektor verausgabten Arbeit gerade nicht zu.
Die durchgreifenden Effekte der dritten industriellen Revolution sind aber nicht nur mit Blick auf das scheinbare „Jobwunder“ im tertiären Sektor geleugnet worden. Teilweise ist auch ganz grundsätzlich in Frage gestellt worden, dass sie überhaupt einen nennenswerten Sprung in der Produktivitätsentwicklung bewirkt habe. (So etwa auch Exner 2009.) Am weitesten ging die These vom sogenannten Produktivitätsparadoxon der IT, die zuerst von dem US-Ökonomen Robert M. Solow im Jahr 1987 aufgebracht und vor allem in den 1990er Jahren heftig diskutiert wurde. (Vgl. im Überblick Piller 1998.) Ihr zufolge soll die Einführung der Informationstechnologien überhaupt keine signifikanten Produktivitätssteigerungen zur Folge gehabt oder die Produktivitätsentwicklung sogar gebremst haben. „You can see computing everywhere but in the productivity statistics“, so Solows drastische Formulierung (Solow 1987). Die empirische Beweisführung für diese These war jedoch selbst nach den gängigen statistischen Standards immer schon mehr als fragwürdig und ist daher auch vielfach kritisiert worden; mittlerweile gilt sie als widerlegt (Arens 2004, S. 252).
Im Wesentlichen operierten die Vertreter der Produktivitätsparadoxon-These mit hochaggregierten Zahlen der volkswirtschaftlichen Statistik, die alle Sektoren zusammenfassten und schon allein aus diesem Grund für eine Analyse des behaupteten Kausalzusammenhangs völlig ungeeignet sind. So argumentierte Solow, dass die IT-Investitionen in den USA seit den frühen 1960er Jahren zwar exponentiell zugenommen hätten, bei der gesamtwirtschaftlichen Produktivität jedoch keine signifikante Veränderung feststellbar sei. Unter die Kategorie „IT-Investitionen“ subsumierte er dabei im Prinzip aber alle irgendwie gearteten Ausgaben für die Computertechnologie im weitesten Sinne, ganz egal, welche Anwendungen sich dahinter verbargen. Teilweise wurden sogar die Gesamtverkaufszahlen von Computern als Indikator für den IT-Einsatz herangezogen, ohne auch nur privaten Konsum und Investitionen auseinanderzuhalten (Brödner/Rolf 2005). Es ist klar, dass die Umstrukturierungen im Produktionsprozess sich damit nicht einmal annäherungsweise erfassen lassen, sondern im Gegenteil statistisch unsichtbar gemacht werden. Soweit Solow und seine Anhänger überhaupt zwischen volkswirtschaftlichen Sektoren unterschieden, mussten sie zwar zugeben, dass die Produktivitätsentwicklung in der Industrieproduktion deutliche Steigerungen aufwies, doch galt ihnen das als nicht sehr bedeutsam, weil dieser Sektor vor allem in den USA einen nur geringen Anteil der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung repräsentiere. Im Mittelpunkt der Argumentation stand daher der Dienstleistungssektor, dessen (der statistischen Messung zufolge) äußerst schwache Produktivitätsentwicklung als Beleg für das Produktivitätsparadoxon galt.
Nun sind zum einen die Kriterien für die Produktivitätsberechnung im Dienstleistungssektor selbst nach den üblichen statistischen Methoden ziemlich willkürlich und daher auch heftig umstritten: „Wenn die Statistik den Umsatz als Output-Maßgröße wählen würde, dann würde sie beispielsweise im Falle geringerer Abschlussgebühren für Versicherungen von einer fallenden Produktivität ausgehen, wenngleich die Senkung der Gebühren der gestiegenen Produktivität der Verwaltung geschuldet sein mag. Aus diesem Grunde nimmt das US-amerikanische Bundesamt für Statistik für die meisten dieser Bereiche die Lohnsumme als Maßgröße für die Ausbringungsmengen. Dies führt allerdings dazu, dass das Produktivitätswachstum weitgehend mit den Lohnsteigerungen gleichgesetzt wird.“ (Scherrer 2000, S. 11 f.) Entscheidend ist hier aber noch ein anderer Aspekt: Mit der Fokussierung auf den tertiären Sektor wurden ausgerechnet die technologisch-organisatorischen Umwälzungen im für die Wertproduktion zentralen sekundären Sektor ausgeblendet und für nebensächlich erklärt. Mehr noch: Die Abnahme der Beschäftigung in der Industrieproduktion, die ja wesentlich der rasanten Rationalisierung geschuldet war, geriet sogar implizit zum Argument für die These vom mangelnden Produktivitätszuwachs im Gefolge der IT-Investitionen.
Schon eine einfache Aufschlüsselung auf Branchenebene verdeutlicht die Haltlosigkeit dieser These. Robert Brenner zufolge lag in den USA das Wachstum der Arbeitsproduktivität in den Industriezweigen für dauerhafte Güter von 1993 bis 1999 im jährlichen Durchschnitt zwischen 3,5 Prozent bei Kfz und Ausrüstungen, 12,9 Prozent bei Maschinerie für Handel und Gewerbe und stolzen 20,1 Prozent bei elektrischen und elektronischen Ausrüstungen (Brenner 2002, S. 256, FN 12). Von einer schwachen Produktivitätsentwicklung also keine Spur.
Aber selbst diese durchaus beeindruckenden Zahlen zeichnen noch ein höchst unvollständiges Bild vom tatsächlichen Ausmaß der dritten industriellen Revolution. Denn die üblichen statistischen Indikatoren zur Berechnung der Arbeitsproduktivität tendieren dazu, die Entwicklung dieser Größe systematisch zu unterschätzen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Arbeitsproduktivität ein Verhältnis zwischen stofflichem Output und Arbeitseinsatz darstellt, also in der Menge an hergestellten Waren pro Arbeitsstunde gemessen werden müsste. Da aber die Statistik gewöhnlich auf monetären Größen (Preise, Umsatz, Kosten, Einkommen, Gewinne etc.) basiert, kann sie nur indirekte Rückschlüsse auf die stoffliche Ebene ziehen (Costas 1984, S. 141). Dieses Zurückrechnen wirft jedoch eine ganze Reihe von letztlich unlösbaren Problemen und Widersprüchen auf, die umso stärker ins Gewicht fallen, je höher das statistische Aggregationsniveau ist, je mehr unterschiedliche Waren und Produktionszweige also auf einen gemeinsamen monetären Nenner gebracht werden.
Ein ganz offensichtliches Problem besteht zunächst darin, dass in die Preise alle möglichen betrieblichen und außerbetrieblichen Komponenten eingehen, die mit dem Produktivitätsniveau in der Produktion nicht das Geringste zu tun haben: Verwaltungs- und Vertriebskosten, Steuern und Abgaben, Währungsschwankungen und Rohstoffspekulationen etc. Deshalb sind selbst schon auf der Ebene von Einzelunternehmen direkte Rückschlüsse vom Umsatz auf den stofflichen Output mehr als fraglich. Und selbstverständlich verschärft sich das Problem, je mehr Zahlen von Unternehmen und Branchen zusammengefasst werden. Eine Berechnung der „volkswirtschaftlichen Produktivität“ aus dem Verhältnis BIP zu Arbeitseinsatz, also auf dem höchsten Aggregationsniveau, ist daher für eine Analyse der gesellschaftlichen Produktivkraft vollkommen unbrauchbar. Allenfalls hat sie den Charakter einer Rentabilitätsberechnung (also ein Verhältnis von Geldgrößen), sagt aber rein gar nichts über die Entwicklung der stofflichen Produktivität aus.
Hinzu kommt aber noch ein ganz grundsätzlicher Aspekt, der sich direkt aus dem inneren kapitalistischen Selbstwiderspruch zwischen abstraktem und stofflichem Reichtum ergibt. Wenn die Produktivitätsentwicklung ein Verhältnis zwischen physischen Größen (Menge an Produkten) und verausgabter Arbeitszeit bezeichnet, dann heißt das nichts anderes, als dass sie in der Dimension des stofflichen oder konkreten Reichtums angesiedelt ist. Steigerung der Produktivität bedeutet, dass eine größere Menge stofflichen Reichtums pro Zeiteinheit hergestellt werden kann. Damit wird die gesellschaftliche Arbeitsstunde, also die zeitliche Norm, die den Wertmaßstab bestimmt, neu definiert: Der Wert jeder einzelnen Ware des betreffenden Produktionszweiges sinkt, weil sie ja nun, bezogen auf den gesellschaftlichen Standard, weniger abstrakte Arbeitszeit repräsentiert. Das bedeutet aber nicht, dass sich der Wert der gesellschaftlichen Arbeitsstunde verändern würde. Dieser sinkt nicht und steigt nicht, sondern bleibt immer gleich (Postone 2003, S. 434 f.). Was sich verändert, ist die zeitliche Norm, die den stofflichen Inhalt bestimmt. Mit jedem Zuwachs der Produktivität stellt sich die in einer gesellschaftlichen Arbeitsstunde verausgabte abstrakte Arbeit in einem höheren Produktausstoß dar, was umgekehrt heißt, dass sich die durch sie repräsentierte Wertsumme auf eine größere Anzahl von Waren aufteilt. Wird also beispielsweise die Produktionszahl von Flachbildfernsehern pro Arbeitsstunde verdoppelt und deshalb der Wert pro Stück von, sagen wir, 600 Euro auf 300 Euro halbiert, dann bleibt der Produktionswert pro Stunde gemessen in Geldeinheiten genau gleich, nur dass die 600 Euro sich jetzt in zwei Fernsehern statt in einem darstellen. (Anm. d. Verf.: Zum Zweck der Veranschaulichung liegen dieser Argumentation einige vereinfachende Annahmen zugrunde. Zum einen wurde so getan, als ließe sich der Wert direkt in Preise übersetzen, was aus verschiedenen Gründen nicht der Fall ist. Zum anderen: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Preisentwicklung die Wertminderung adäquat widerspiegelt, reduziert sich durch eine Halbierung der notwendigen Arbeitszeit zunächst nur der in der Produktion des Fernsehers neu zugesetzte Wert. Andere Wertbestandteile, die auf das Produkt übertragen werden, dargestellt etwa in Rohstoffen, Vorprodukten und anteiligem Maschinenverschleiß, werden im Zuge einer allgemeinen Produktivitätsentwicklung auch reduziert, aber möglicherweise nicht im gleichen Ausmaß.)
Versuchen wir nun aber, die Produktivitätsentwicklung in monetären Größen zu messen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass gar keine Veränderung stattgefunden hat. Die gleiche Zahl an Arbeitskräften „produziert“ die gleiche Wertsumme wie zuvor. Dass diese Wertsumme sich auf eine größere Menge stofflichen Reichtums aufteilt, kann in der Dimension des abstrakten Reichtums gar nicht abgebildet werden, weil in ihr ja gerade vom konkreten Inhalt der Produktion und mithin auch von den veränderten Produktionsbedingungen abstrahiert wird. Damit wird aber auch die historische Basisdynamik ausgeblendet, die, vom inneren kapitalistischen Selbstwiderspruch angetrieben, jenen „Tretmühleneffekt“ erzeugt, der sich auch als eine permanente Verdichtung der Zeit beschreiben lässt (Postone 2003, S. 436 f.). In der Dimension des abstrakten Reichtums herrscht ein merkwürdiger unhistorischer Stillstand, der in einem schreienden Kontrast steht zur ungeheuren historischen Dynamik, die der Kapitalismus gerade aufgrund des daraus resultierenden Zwangs zur ständigen Neubestimmung der vorherrschenden zeitlichen Norm, also der „gesellschaftlichen Arbeitsstunde“, entwickeln muss: „Die abstrakte Zeiteinheit lässt ihre historische Neubestimmung nicht manifest zutage treten: sie behält ihre konstante Form als Gegenwartszeit. Somit existiert der historische Fluss hinter dem Rahmen abstrakter Zeit, erscheint aber nicht in ihm. Der historische ‚Inhalt‘ der abstrakten Zeiteinheit bleibt genauso verborgen wie der gesellschaftliche ‚Inhalt‘ der Ware.“ (Postone 2003, S. 444) Aus diesem Grund ist jeder Versuch, die Produktivitätsentwicklung monetär abzubilden, von vorneherein und ganz grundsätzlich zum Scheitern verurteilt.

Der hedonische Preisindex und seine Brüder

Ganz besonders deutlich wird das ausgerechnet dort, wo die Statistiker versuchen, der Tatsache methodisch Rechnung zu tragen, dass nicht nur die Produktionsverfahren sich verändern, sondern auch die Produkte im Zuge des technischen Fortschritts komplexer werden. So unterscheidet sich etwa ein Auto aus dem Jahr 2011 ganz wesentlich von einem aus den 1970er Jahren. Selbst ein Kleinwagen ist heute vollgestopft mit Elektronik und allerlei Sicherheitstechnologie, die früher nicht einmal in Luxuskarossen enthalten war, weil die Technik dafür schlicht nicht zur Verfügung stand. Ein Golf der ersten Generation hat mit dem neuesten Modell von heute eigentlich nur noch den Namen gemeinsam. Noch krasser stellt sich dieses Problem bei allen Produkten und Anwendungen der IuK-Technologien, wo der technologische Fortschritt extrem schnell voranschreitet. Dem sogenannten Moore’schen Gesetz zufolge verdoppelt sich die Leistung von Mikroprozessoren und Computern alle achtzehn Monate, während im gleichen Zeitraum der Preis für rechnergestützte Informationsverarbeitung auf die Hälfte fällt. Wie aber lässt sich das statistisch abbilden? Wie schlägt es sich in der Produktivitätsberechnung nieder, dass ein PC heute sehr viel billiger ist als vor zehn Jahren, dabei aber ein Vielfaches der Rechenkapazität enthält, oder ein Handy inzwischen zu einem tragbaren Multimediagerät geworden ist?
Die Statistiker haben dafür verschiedene Methoden entwickelt, deren bekannteste der sogenannte hedonische Preisindex ist. Im Kern laufen alle diese Methoden darauf hinaus, die qualitativen Veränderungen der Produkte monetär zu bewerten, um auf diese Weise eine allgemeine Vergleichbarkeit herzustellen. (Vgl. Europäische Gemeinschaften 2005, S. 20 ff; Statistisches Bundesamt 2002.) Demnach wird dann beispielsweise ein Auto der neuesten Modellreihe, das gegenüber seinem Vorgängermodell zusätzliche Ausstattungsmerkmale besitzt, rechnerisch mit einem, sagen wir, 10 Prozent höheren Wert angesetzt. Ist nun der Verkaufspreis ebenfalls um 10 Prozent angehoben worden, gilt das nicht als Preiserhöhung, sondern als monetäre Entsprechung eben dieser qualitativen Verbesserung. Weil dem Mehr an Geld ja auch ein Mehr an Leistung entspricht, wird der gestiegene Preis in der Statistik daher wieder herausgerechnet.
Sie weist dann bei Autos eine Inflationsrate von null aus. Bleibt der nominelle Verkaufspreis gleich, vermeldet die Statistik gar eine Preissenkung, weil ja für die gleiche Geldsumme mehr „Nutzwert“ gekauft werden kann. Tatsächlich ist aus diesem Grund der offizielle Preisindex für Automobile beispielsweise im Zeitraum 1995 bis 2001 um nur 5,2 Prozent gestiegen, während die Verkaufspreise mit 17,2 Prozent deutlich stärker zugelegt haben. Die Differenz, so die Erklärung des Statistischen Bundesamtes, „ist auf Qualitätsverbesserungen der PKWs zurückzuführen, die im gesamten Zeitraum einen Wertanteil von 11,9 Prozent der Verkaufspreise des Jahres 1995 ausmachen“ (Statistisches Bundesamt 2003). (Zu den Berechnungsmethoden im Einzelnen vgl. Frei 2005.)
Was dabei freilich unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass die Neuwagenkäufer ja gar nicht die Wahl zwischen einem Auto der neuen und einem der alten Modellreihe haben und daher die höheren Preise so oder so zahlen müssen, auch wenn die Statistik etwas anderes vermerkt. Der Alltagsverstand hat also durchaus nicht ganz Unrecht, wenn er sich über die Diskrepanz zwischen der offiziellen Inflationsrate und dem von ihm wahrgenommenen Kaufkraftschwund wundert.
Nun könnten der hedonische Preisindex und ähnliche Verfahren zwar zunächst einmal als Versuch gewertet werden, die Veränderungen auf der Ebene der stofflichen Reichtumsproduktion wenigstens annäherungsweise abzubilden. Doch statt diese Veränderungen als solche in den Blick zu nehmen und systematisch darzustellen, richtet sich das ganze Bemühen darauf, sie monetär zu beziffern, also in die Kategorien der abstrakten Reichtumsproduktion zu übersetzen. Dadurch wird aber der Widerspruch zwischen den beiden Dimensionen der kapitalistischen Reichtumsform nicht etwa aufgelöst, sondern auf absurde Weise noch einmal reproduziert, womit dann die Verwirrung komplett wäre.
Schauen wir uns das Vorgehen noch einmal an: Um die Qualitätsveränderungen zu erfassen, wird zunächst der in der Wertproduktion vollzogene Abstraktionsprozess zurückverfolgt. Wurden hier die qualitativ unterschiedlichen Waren A, B, C etc. einander gleichgesetzt und darauf reduziert, Ausdruck einer bestimmten Summe an Wert zu sein, versuchen die Statistiker nun in sehr aufwendigen Verfahren die stofflich-konkreten Unterschiede wieder zu entschlüsseln, die auf der Wert- und Preisebene unsichtbar sind, bei Autos beispielsweise eine Verbesserung des Bremssystems, ein höherer Aufprallschutz und hellere Scheinwerfer oder bei Computern eine höhere Taktfrequenz, schnellere Zugriffszeiten etc. Selbstverständlich kann das aufgrund der hohen Komplexität der Produkte und der Produktionsverfahren allenfalls ansatzweise gelingen, weil eine Vielzahl von Parametern berücksichtigt und verglichen werden müssen, dennoch findet zumindest eine gewisse Annäherung an die Ebene der stofflichen Reichtumsproduktion statt.
Dann aber wird die ganze Sache sogleich wieder auf den Kopf gestellt. In einem nächsten Schritt werden nun nämlich die so identifizierten qualitativen Differenzen mit einem fiktiven monetären Maßstab bewertet, um daraus dann die neuen statistischen Pseudopreise zu berechnen. Kostet also beispielsweise ein Computer im Laden genauso viel wie das Vorgängermodell, sagen wir 500 Euro, weist aber eine höhere Taktfrequenz und schnellere Zugriffszeiten auf, die von den Statistikern mit 100 Euro bewertet werden, so ist er rechnerisch um 100 Euro billiger geworden, wird in der Verbraucherpreisstatistik also nur mit 400 Euro ausgewiesen, obwohl der Käufer eben jene 500 Euro hinblättern musste. Der kurze Ausflug in die Dimension des Stofflich-Konkreten endet also wieder genau da, wo er seinen Anfang nahm: in der Dimension des abstrakten Reichtums. Nur dass mit den Maßstäben auch die Ergebnisse verändert wurden, ganz so, als wollten die Statistiker den Prozess der Wertabstraktion, der seinem Wesen nach bewusstlos und hinter dem Rücken der Menschen verläuft, bewusst nachvollziehen und rechnerisch „korrigieren“.
Wer sich jetzt die Augen reibt, hat Recht. Nicht ganz zufällig erinnert das Ganze an die Versuche im sogenannten Realsozialismus, die „wahren Werte“ der Produkte auszurechnen und für die volkswirtschaftliche Planung zu nutzen; eine Planung, die zum Scheitern verurteilt war, weil sie immer schon die Grundkategorien der kapitalistischen Reichtumsform (Ware, Wert, Geld, Preis, Lohn etc.) voraussetzte und sich einredete, die der Wertproduktion inhärenten, objektivierten Zwangsgesetze ließen sich bewusst steuern und „anwenden“. Dies zu versuchen kommt jedoch einer Quadratur des Kreises gleich. (Vgl. Stahlmann 1990 sowie etwas ausführlicher Kurz 1991.)
Aber nicht nur methodisch, sondern auch politisch gesehen lassen sich Parallelen zum verblichenen Staatssozialismus ziehen, insofern nämlich Verfahren wie der „hedonische Preisindex“ das Material für eine systematische Schönfärberei der offiziellen Statistik liefern, die durchaus mit der im ehemaligen Ostblock vergleichbar ist. Einen Effekt haben wir schon angesprochen: Durch die monetäre Bewertung der Qualitätsverbesserungen wird die in der offiziellen Statistik ausgewiesene Inflation kleingerechnet. Weit weniger wahrnehmbar, weil weit entfernt von der unmittelbaren Erfahrung, ist der zweite wichtige Effekt: die statistische Vergrößerung des BIP. Dieser Effekt kommt so zustande, dass in Umkehrung des bei der Inflationsberechnung angewandten Verfahrens die Umsätze der qualitativ verbesserten Produkte rechnerisch höher angesetzt werden und als solche in die volkswirtschaftliche Bilanzierung eingehen.
Das klingt verrückt, folgt aber der immanenten Logik, alle qualitativen Veränderungen auf der Preisebene abzubilden. Um noch einmal auf das Beispiel des Computers zurückzukommen: Da dieser unverändert 500 Euro kostet, aber die genannten technischen Verbesserungen enthält, die von den Statistikern mit 100 Euro bewertet werden, korrigieren sie in der BIP-Statistik den Preis um eben diesen Betrag nach oben, auf 600 Euro. Beträgt dann der jährliche Gesamtumsatz mit diesen und ähnlichen Computermodellen effektiv sagen wir 5 Mrd., so weist hingegen das BIP einen rechnerischen Betrag von 6 Mrd. aus. Mit anderen Worten: Das offizielle BIP, das eigentlich nur die monetäre Summe der Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert wurden, ausweisen sollte, enthält in Wahrheit auch rein fiktive Zahlen, denen keine realen Umsätze entsprechen.
Spätestens hier schlägt das Verfahren des hedonischen Preisindex’ vollends ins Absurde um. Was als Versuch begann, die stofflich-konkreten Prozesse abzubilden, gerät zu einer blanken Manipulation der Statistik. Statt die Dimension des stofflichen Reichtums sichtbar zu machen, mündet die monetäre Bewertung der mühsam herausgefilterten Qualitätsveränderungen gerade im Gegenteil darin, die Akkumulation abstrakten Reichtums schönzurechnen.
Es ist gewiss kein Zufall, dass diese kosmetische Operation an der Statistik in den USA ausgerechnet in den 1990er Jahren eingeführt wurde, als die dritte industrielle Revolution an Fahrt gewann – die EU zog rund zehn Jahre später nach (Statistisches Bundesamt 2002; FAZ 21.4.2005). Ausschlaggebend war vor allem der rasante Preisverfall bei IT-Produkten im Gefolge des gewaltigen Produktivitätssprungs, der sich negativ auf die offiziellen Wachstumszahlen auswirkte. Der stoffliche Reichtum rückte also ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ins Visier der politischen Statistik, als dieser in ein zunehmendes Missverhältnis zur Dimension des abstrakten Reichtums geriet und die Produktivitätsentwicklung zunehmend die Wertproduktion untergrub. Wo diese Tendenz ihre Spuren im BIP hinterließ, besann sich die Politik plötzlich darauf, dass die monetäre Dimension ja gar nicht den gesamten gesellschaftlichen Reichtum abbildet – allerdings nur, um genau diese Dimension noch einmal kosmetisch zu rehabilitieren.
Dass fiktive rechnerische Umsätze keinen Beitrag zur Kapitalverwertung leisten, wird sogar der unkritischste Volkswirt wohl zugeben müssen. Zu den Kuriositäten des auf der Dynamik des fiktiven Kapitals beruhenden Krisenaufschubs gehört es aber, dass das statistische Facelifting dennoch seinen Teil dazu beigetragen hat, die weltwirtschaftliche Dynamik wieder in Schwung zu bringen. Denn obwohl sich die Manipulation der Statistik vor den Augen der Öffentlichkeit vollzog und in Wissenschaft und Medien breit diskutiert und kritisiert wurde, war das bald wieder vergessen und die geschönten Wachstumszahlen galten schließlich doch als Zeichen für die gewaltigen Zukunftsperspektiven der „New Economy“.
Die Simulation dynamischen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitig niedriger Inflation schürte so jene Zukunftserwartungen, die den Treibsatz der Aktien- und Wertpapierspekulation ausmachten, welche wiederum auch die Realwirtschaft wieder in Schwung brachte. Insofern ist die systematische statistische Schönfärberei ein Moment der zunehmenden Fiktionalisierung der Ökonomie seit den 1990er Jahren, die auf einer permanenten Errichtung potemkinscher Dörfer beruhte. Auch darin erwies sich der westliche Kapitalismus seinem untergegangenen Bruder aus dem Osten als weit überlegen.

* Es handelt sich um einen gekürzten Auszug aus dem Buch „Die große Entwertung“, das der Autor zusammen mit Ernst Lohoff derzeit verfasst und das im Frühjahr 2012 im Unrast Verlag erscheinen wird.


Literatur

Arens, Thomas (2004): Methodische Auswahl von CRM-Software, Göttingen 2004.
Brenner, Robert (2002): Boom & Bubble, Hamburg 2002.
Brödner, Peter/Rolf, Arno (2005): Das Produktivitätsparadoxon der IT. Wahn und Wirklichkeit einer neuartigen Technik. Thesen zur 25. Tagung „Mensch-Maschine- Kommunikation“ (MMK 2005), http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/zentrale_einrichtungen/mz/veranstaltungen/konferenzen/2005/mmk_2005/arbeitsgruppen/moderation_ag1.pdf.
Costas, Ilse (1984): Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialstatistik, Frankfurt/M. 1984.
Europäische Gemeinschaften (2005): Handbuch zur Preis- und Volumenmessung in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Luxemburg.
Exner, Andreas (2009): Krise der Produktivität, Grenzen des Wachstums, in: Streifzüge 46/2009.
Frei, Andreas (2005): Was hätte man 1960 für einen Sharan bezahlt?, Diplomarbeit an ETH Zürich, www.ivt.ethz.ch/docs/students/sa139.pdf.
KfW (2004): Triebfedern des US-BIP-Wachstums im Jahr 2003, KfW-Research, Nr. 11, Februar 2004, Frankfurt/M.
Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt/M.
OECD (2008): Labour Force Statistics 1987–2007.
Piller, Franz Thomas (1998): Das Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologie, in: WIST, 27. Jg. (1998), H. 5, S. 257–262.
Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg/Brsg.
Solow, Robert M. (1987): Review of ‚Manufacturing Matters‘, in: The New York Times Book Review, 12.7.1987.
Scherrer, Christoph (2000): „New Economy“: Theoretische Perspektiven, in: Duisburger Arbeitspapiere Ostasienwissenschaften, Nr. 34/2000, S. 1–16.
Stahlmann, Johanna (1990): Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der sowjetischen Planökonomie, in: Krisis 8/9, Erlangen.
Statistisches Bundesamt (2002): Erstmals hedonische Qualitätsbereinigung in der Preisstatistik, innovationsreport 11.7.2002, http://www.innovations-report.de/html/berichte/statistiken/bericht-11257.html.
Statistisches Bundesamt (2003): Hedonische Preismessung bei Personenkraftwagen, innovationsreport 17.2.2003, http://www.innovations-report.de/html/berichte/statistiken/bericht-16511.html.
Trenkle, Norbert (1999): Es rettet Euch kein Billiglohn, in: Kurz, Robert/Lohoff, Ernst/Trenkle, Norbert (Hrsg.): Feierabend. Elf Attacken gegen die Arbeit, Hamburg 1999.

(veröffentlicht in: Streifzüge 53/2011)

Mittwoch, 04. Januar 2012

Laut epd hat der Kölner Kardinal Meisner kritisiert, "dass von offizieller muslimischer Seite keine Verurteilung" der Anschläge auf Christ_innen in Nigeria erfolgt sei. Abgesehen davon, dass sich hier mal wieder die Frage stellt, wer mit wem in einen Topf geworfen wird, was eine "offizielle muslimische Seite" ist, was die mit den Anschlägen zu tun hat, ob sich auch die "offizielle christliche Seite" zu allen Terrorakten von Christ_innen weltweit verhalten muss, etc. - abgesehen davon,...

http://entdinglichung.wordpress.com/2012/01/03/gute-bucher/

Kein Geld, keine Basis

Sonderverkauf im Januar

Ab 1.1.2012:
30% Rabatt auf alle Bücher des
Klassischen und Modernen Antiquariats

Die Basis Buchhandlung hat kein Geld. Seit Monaten müssen die EignerInnen, die den Laden offen halten, ihren Lohn stunden. Diese Selbstausbeutung ist endlich. Der Abverkauf soll und muss Geld in unsere Kassen spülen, sonst müssen wir zuschließen. Wir wollen mit dieser Aktion unser Lager zügig verflüssigen und vielleicht schaffen wir so eine Basis für einen Blick nach vorn.

Wir würden uns freuen, wenn ihr/Sie diese Mail in Umlauf bringt/en, und wir freuen uns auf regen Besuch.

Eure Eignerinnen und Eigner der Basis Buchhandlung

Basis Buchhandlung

Sören Pünjer, unser Lieblingsredakteur der eng mit der Jungle World verknüpften Bahamas, fröhnt ja vielen Hobbys. Manchmal trifft er sich auf ostdeutschen Raststätten oder Feldwegen mit einer Gruppe von Hooligans, viele mit lupenreiner nationalsozialistischer Gesinnung, um sich einen “fairen Fight” mit einer anderen Gruppe Hooligans, unter denen sich ebenfalls nicht wenige lupenreine Nazis befinden, zu liefern. Das nennt man in manchen Kreisen dann “sportlichen Wettkampf”.

An anderen Tagen geht er zum Beispiel in der Jerusalemgemeinde zu Berlin seinem weiteren Hobby nach: Kommunisten oder Antifaschisten verschiedenster Provenienz als Antisemiten oder auch wahlweise als Nazis zu beschimpfen und sich als großen Kämpfer gegen den (leider nicht zu knapp existierenden) Antisemitismus aufzuspielen.

Ansonsten, so hört man, steht Pünjer auch gerne mal in Berlin in einschlägigen Szenekneipen oder “Festsälen” an der Tür oder auch als zweite Wahl am DJ-Pult.

Sein neustes Hobby: Rechtsextreme verharmlosen. Warum? Beide teilen eine Vorliebe für Fußball, die Dritte Halbzeit und:

Die "Antifaschisten" ...

Da ist es auch ganz egal, dass es sich bei der English Defence League sicherlich nicht um lediglich ein paar “patriotisch Fußballfans” handelt, wie Pünjer uns vor einem Jahr in einem seiner  Artikel in der Bahamas weismachen wollte1.

Wenn es gegen Muselmänner und für Israel geht, dann sieht man auch über solche Unschicklichkeiten gerne mal hinweg:2

...der "English Defence League".

Ein EDL-Unterstützer zeigt den Hitlergruß (Leeds, 2009)

Reiner Zufall?

Oder nur eine ärgerliche "Ausnahme"?

Der walisische Ableger der EDL

Wie es zu einer solchen Kehrtwende innerhalb des sog. antideutschen Lagers kommen konnt, erklärt uns Gerhard Hanloser teilweise in seinem Skript zu einer Veranstaltung im Dezember letzten Jahres in Berlin: “Anti?deutschland 2011″

 

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  1. Urkomisch ist die Beweisführung von Pünjer schon. Man wird erinnert an das Aufzählen von jüdischen Kommunisten und anderer Linker durch Gegner der israelischen Politik.
  2. Ich will betonen, dass sich die Kritik an der EDL nicht darauf beschränkt, dass sich dort viele Nazis tummeln.  Auch ohne Nazis in ihren Reihen handelt es sich bei der EDL um einen Haufen gewaltbereiter, rechtsextremer, rassistischer Nationalisten. Es braucht da sicherlich nicht erst eines Hitlergrußes.

In der jungen welt vom 04.01.2012. ist ein Artikel von Theo Wentzke (GegenStandpunkt-Verlag) zum Zweck der Euro-Rettung erschienen:
„Finanzpolitisches Vabanquespiel – Der Zweck der Euro-Rettung: »Den Grundstein für die stärkste Währung der Welt legen«“
Auch ich kann ihn nur empfehlen. Weiteres auch hier:

Finanzpolitisches Vabanquespiel

Ökonomie. Der Zweck der Euro-Rettung: »Den Grundstein für die stärkste Währung der Welt legen«


Die fortlaufenden »Euro-Rettungsmaßnahmen« offenbaren: Längst ist die Finanzmacht nicht nur dieses oder jenes Euro-Landes, sondern selbst der ökonomisch potentesten unter ihnen fragwürdig. Die Abwendung der Pleite Griechenlands durch neue Kreditzusicherungen überfordert das, was die Euro-Staaten, die noch Kredit haben, zu finanzieren bereit sind; Banken sollen Staatsschulden abschreiben; und der »Rettungsfonds« soll mit institutionellen Kreditgebern »gehebelt« werden und reicht doch erklärtermaßen nicht, um den nächsten Problemfällen – Spanien, Italien – ihre Kreditwürdigkeit zu sichern. Deutschland und Frankreich droht die Abstufung durch die Rating­agenturen. Die Krise ist in mehreren Ländern zur politischen geworden, Regierungen werden abgewählt oder durch nationale Notregierungen abgelöst. Das alles, weil – nicht nur – Europas Staaten um die ökonomischen Grundlagen ihrer Macht ringen: um den Zuspruch des Finanzkapitals und ein kapitalistisches Wachstum, das dem staatlich gestifteten Geld die Qualität eines gefragten Geschäftsmittels sichert.

Die Macher Europas – Deutschland voran – begreifen diese Situation als Herausforderung und als Chance: Mit verbindlichen Regeln nationalen Haushaltens, Eingriffen in die Souveränität, die die Mitglieder der Euro-Zone auf effizientes kapitalistisches Wirtschaften nach von der BRD vorgegebenen Maßstäben verpflichten sollen, soll das Gemeinschaftsgeld die Rolle eines Weltgelds erobern, das dem Dollar Konkurrenz macht. Deutschland will damit zugleich die Stellung einer unbestrittenen europäischen wie globalen politischen und ökonomischen Führungsmacht festschreiben.

Krise als Chance

Die Krise als einmalige Chance in der Konkurrenz der Nationen um ihre nationalen Gelder zu nutzen – das ist das Ziel, zu dem sich Deutschlands Politiker bekennen und das sie mit aller Macht bei der »Rettung des Euro« verfolgen: Es geht darum, »jetzt den Grundstein für die stärkste Währung der Welt zu legen«, wie es der bayerische Finanzminister Markus Söder formuliert.

Für die Kreditwürdigkeit der Euro-Zone – für die Rettung der Zahlungsfähigkeit der »Problemfälle«, für die Erhaltung der Liquidität schwächerer Partner sowie für ein gutes Rating der anderen Garanten des Euro-Stabilisierungsfonds EFSF – ist die Finanzmacht Deutschlands entscheidend. Ihre darauf gründende Stellung nutzt die Berliner Regierung zum einen gegenüber Frankreich zur Einschwörung des Konkurrenten auf ihre finanzpolitischen Interessen und ihre Richtlinien­kompetenz in der Krisenpolitik. Sie schmetterte den französischen Antrag ab, den Garantiefonds EFSF durch die Europäische Zentralbank (EZB), also praktisch unbegrenzt, durch die diesem Institut übertragene Geldhoheit der Euro-Länder finanzieren zu lassen. Dieser – von den Partnerstaaten mit schwächerem Rating unterstützte – Vorstoß hat das Ziel und hätte das Ergebnis, die Garanten des »Rettungsfonds« von allen Sorgen um die Belastung ihres Haushalts durch allfällige Zinsen und ihrer nationalen Kreditwürdigkeit durch zunehmende Schulden zu befreien: Die EFSF-Manager könnten sich jede benötigte Summe zu einem mit der EZB ausgehandelten Zinssatz besorgen.

Übrig bliebe allein die gemeinsame Verantwortung aller Euro-Staaten für die – einstweilen noch gar nicht gefährdete – globale Anerkennung und die neben dem und in Konkurrenz zum Dollar weltweite Verwendung des gemeinsamen Geldes. Allerdings wäre Deutschlands gewaltiger materieller Vorteil in der Konkurrenz um Kredit egalisiert, die Abhängigkeit des Fonds, seiner Garanten und seiner Problemfälle von der deutschen Finanzmacht entscheidend vermindert.

So läuft es nun nicht; statt dessen findet Frankreich sich darauf verwiesen, eben diese Abhängigkeit mitzuorganisieren und dabei den engsten Schulterschluß mit Deutschland zu suchen, damit es den kritischen Vergleich seiner Kreditwürdigkeit mit dem deutschen »Triple A« besteht; denn nur so ist der französische Staat – wenigstens bis auf weiteres – in der Lage, die Garantie für den Kredit der Euro-Zone, die er nicht an die EZB abtreten kann, ohne Schaden für seinen Kredit durchzuhalten. Entsprechendes gilt für die kleineren Euro-Partner mit starker Finanzmacht – soweit die sich nicht sowieso von vornherein um ihres nationalen Zinsvorteils willen und im Interesse eines starken, d.h. nicht für die Finanzierung problematischer Schuldenhaushalte aufgeblähten Euro der deutschen Position angeschlossen haben.

Ihre derart gestärkte, nämlich von den Mitmachern unterstützte Kreditmacht nutzt die deutsche Regierung zum anderen –gegenüber den Staaten mit problematischem, von den Banken in Zweifel gezogenen und mit entsprechend hohen Zinsen belasteten Kredit – für die Anmaßung eines Kontrollrechts über deren Haushaltspolitik. Ohne für das Schicksal der dortigen Regierungen, geschweige denn für dasjenige, das die ihren Völkern bereiten, die geringste Verantwortung zu übernehmen, legen die Berliner Politiker ihre mit geringerer Kreditmacht gesegneten Kollegen, der jeweiligen Finanzlage entsprechend erpresserisch darauf fest, ihre Staatsangestellten, Rentner, Kranken, Sozialfälle usw. zu verbilligen und überhaupt die Kosten ihrer Herrschaft zu senken.

Überwachung und Maßregelung überläßt die deutsche Regierung den Experten der EU und des IWF. An den Fällen Griechenland und Italien macht sie gemeinsam mit dem obersten Franzosen klar, bei wem die Entscheidungsmacht über die Finanzmittel liegt, mit denen in den Euro-Ländern regiert wird: Den mittlerweile zurückgetretenen griechischen Regierungschef stellten Merkel und Sarkozy knallhart vor die Alternative, sich allen Verpflichtungen zur Umgestaltung seines Landes zu beugen oder die Union zu verlassen; den ebenfalls abgetretenen italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi blamierten sie als unzuverlässigen Patron, dem ein überfälliges Reformprogramm durch eine von ihnen beauftragte Instanz aufgenötigt werden mußte.

Konkurrent USA

So setzt Europas deutsche Führungsmacht finanzpolitische Direktiven durch, die in der Sache ungefähr die alten Maastrichter Stabilitätskriterien zum Inhalt haben – und damit den Widerspruch verbindlich in Kraft setzen, der diese Kriterien auszeichnet. Sie sind abgeleitet aus Meßgrößen des finanzpolitischen Welterfolgs der D-Mark-Macht BRD; sie sind Indikatoren der Konkurrenz­erfolge, die der seinerzeitige Exportweltmeister sich mit verschiedenen Mitteln und Methoden und letztlich vor allem mit einer überlegenen Kapitalmasse erwirtschaftet hat, zusammengefaßt in einer nationalen Kreditbilanz. Und damit sind sie alles andere als Erfolgsrezepte, deren Befolgung das gewünschte Ergebnis hergeben müßte.

Genau so, als finanzpolitische Handlungsanweisungen, werden sie von deutscher Seite aber in Spardiktate für die überschuldeten Partner umgemünzt. Als ließe sich der Konkurrenzerfolg einer Nation, die ihren Kredit verliert, ausgerechnet durch eine radikale Verbilligung der Staatstätigkeit herbeiführen; als wäre die Sanierung der Finanzmacht eines Landes nicht das Ergebnis akkumulierter Konkurrenzerfolge, sondern eine Auftragsarbeit, die mit dem festen Willen zu äußerster Sparsamkeit zu erledigen ist: In diesem Sinn schreibt die maßgebliche Euro-Macht ihren Partnern eine Politik des Verzichts auf gewohnte Herrschaftsmittel vor.

Tatsächlich wäre eine derart restriktive Haushaltsführung schon unter den Bedingungen eines allgemeinen Aufschwungs alles andere als wachstumsfördernd. In der Krisensituation, die die Länder auf diese Art bewältigen sollen, wirkt sie bis auf weiteres ruinös. Sie mindert die Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums bis auf das Niveau massenhafter Verelendung. Die Krise wird weder abgewendet noch überwunden, sondern erst einmal weiter durchgesetzt. Das wirkt unweigerlich auf die Auftraggeber zurück; nicht nur durch die Minderung der nationalen Zahlungsfähigkeit der finanzschwachen Länder, die bislang nicht zuletzt von den exportstarken Partnern abgegriffen worden ist und deren Bilanzen aufgebessert hat.

Der Einbruch der Geschäftstätigkeit und die verschlechterten Wachstumsbedingungen im Euro-Raum strapazieren den »Rettungsfonds« immer weiter und untergraben zugleich die Kreditwürdigkeit seiner Garanten; mittlerweile wachsen die Zweifel, ob das Angebot an die Märkte, mit EFSF-Anleihen Geld zu verdienen, überhaupt verfängt. Damit stehen die Erfolgsaussichten der produktiven Krisenbewältigungspolitik auf dem Spiel, die die deutsche Regierung durchgesetzt hat und auf der sie umso unerbittlicher besteht, je mehr ihre Partner auf alternative Lösungen drängen. Deutschland leistet sich damit seinerseits den Widerspruch, alles auf einen Erfolg zu setzen, den es erstens gar nicht in der Hand hat, weil er vom Urteil der Finanzwelt über erhoffte Erfolge der Austeritätspolitik überschuldeter Partnerländer abhängt, und den es zweitens selber untergräbt, soweit seine Sparvorschriften den erhofften Erfolgen entgegenwirken.

Für dieses finanzpolitische Vabanquespiel hat die Berliner Regierung einen alles entscheidenden Grund, der in den offiziellen Begründungen – »Stabilitätskultur« usw. – allerdings mehr verschwiegen als offensiv geltend gemacht wird: Es geht um die Macht des europäischen Kredits und die Geltung der europäischen Währung in der Konkurrenz mit dem noch immer führenden Weltgeldschöpfer USA. Das Regime über Europas Finanzen, so wie die deutsche Seite es haben will, dient der Durchsetzung des Euro im globalen Kapitalismus als mindestens ebenbürtiger Alternative zum US-Dollar: Darin liegt seine eigentliche, nämlich weltpolitische Bedeutung.

Offene Erpressung

Politiker und Öffentlichkeitsarbeiter in etlichen EU-Staaten beschweren sich angesichts der von Berlin durchgesetzten Krisenpolitik über ein »deutsch-französisches Direktorium«, das die Mitentscheidungsrechte der anderen 25 überrollt. Tatsächlich ringt Deutschland in einem beiderseits nicht ganz freiwilligen Schulterschluß mit Frankreich um eine Richtlinienkompetenz in Fragen der Haushalts- und Finanzpolitik. Ohne Skrupel nutzt die Berliner Regierung die Auswirkungen der Krise, die Schwierigkeiten der schwächeren Mitglieder, speziell die Finanznot der Pleitekandidaten und setzt ihre eigene relative Stärke, als Machtinstrument ein. Um den Mitgliedern des Euro-Clubs die Unumgänglichkeit der verlangten Sparpolitik vor Augen zu führen, scheuen Deutschland und Frankreich vor einer Rausschmißdrohung gegen Griechenland nicht zurück: Mit ihrem Unvereinbarkeitsbeschluß gegen den Vorstoß der Athener Regierung, die die Übernahme des verhängten »Reform«-Diktats von einer Volksabstimmung abhängig machen wollte, stellten »Merkozy« klar, daß in der Euro-Zone die Souveränität der Einzelstaaten endet, wo die Union um ihre Währung kämpft. Da heißt die Alternative nur noch Unterwerfung oder Trennung.

Ziel dieses offen erpresserischen Vorgehens ist freilich nicht die deutsche Machtergreifung in Europa, die Unterwerfung der 16 bis 26 anderen Souveräne unter einen selbstzweckhaften Herrschaftsanspruch Berlins, wie es manche Klage über ein von Deutschland gewünschtes »Direktorium« unterstellt. Es geht schon um die gemeinsame Sache – auch wenn die meisten Partnerländer sich von selbst nie zu einer derartigen Zielsetzung verstiegen hätten: um den Konkurrenzkampf mit den USA; um die Durchsetzung des europäischen Kredits und des europäischen Kreditgelds als Stoff des kapitalistischen Reichtums der Welt. Ein derartiger Erfolg ist jedoch nur zu haben, wenn alle nationalen Haushalte strikt am Kriterium einer weltweiten Nachfrage des Finanzkapitals nach ihren Schulden und einer entsprechenden Wertschätzung des gemeinsamen Kreditgelds ausgerichtet werden; das ist die Lehre, die die Europäer unter deutscher Anleitung aus der Krise ziehen müssen. Und deswegen verlangt die gemeinsame Sache eine Selbstbindung der Staaten in ihrer Haushaltsführung, die dem Verzicht auf nationale Souveränität in dieser Kernfrage der Politik gleichkommt.

Einen solchen Verzicht hat in den gültigen EU-Verträgen kein Mitgliedsstaat geleistet. Vielmehr haben die Euro-Länder ihre Entscheidungsfreiheit über Haushalt und Schulden behalten und »nur« ihre Geldhoheit an die EZB abgegeben. Mit dieser Preisgabe der Währungssouveränität wurde nach deutschem Verständnis quasi eine Brandmauer eingezogen zwischen der Freiheit der Einzelstaaten, ihren Haushalt nach nationalem Bedürfnis und Ermessen zu führen, und der gemeinsamen ökonomischen Hauptsache, dem Euro mit seinem Auftrag zur Eroberung der Weltgeldmärkte. Diese Trennung ist durch die Eskalation der Finanz- zur Staatsschuldenkrise ad absurdum geführt worden: Griechenland ist ein haushaltspolitisch souveräner kapitalistischer Staat ohne eigenes Geld. Die Umkehrung dieses Verhältnisses wird dem Land jetzt aufgezwungen: Die Ausstattung mit einem Mindestquantum eigener Währung kostet es die Hoheit über den Staatshaushalt. Darin ist Griechenland gemäß der von Deutschland durchgesetzten Krisenrettungspolitik der Präzedenzfall für alle Euro-Länder, die mit ihren Schulden in Verlegenheit kommen. Und die alle sind Beispielfälle für das Prinzip, dem die Verfechter der Weltwährung Euro Geltung verschaffen und zu allgemeiner Anerkennung verhelfen wollen: In letzter Instanz hebelt die gemeinsame Sache die unbeschränkte Entscheidungsfreiheit des einzelnen Staates beim Gebrauch von Geld aus.

Deutsche Definitionshoheit

Den Widerspruch zwischen Wahrung und Preisgabe nationaler Haushaltsautonomie, dem die Euro-Länder (auch Deutschland) sich also stellen müssen, löst die deutsche Staatsgewalt für sich in der Weise auf, daß sie sich die Definitionshoheit über die gemeinsame Sache herausnimmt, sich selbst zum nationalen Subjekt der supranationalen Erfordernisse einer erfolgreichen Weltgeldkonkurrenz erklärt. In diesem Sinn beschließt der parlamentarische Souverän eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang; die Regierung legt sich fast ebenso grundsätzlich und verbindlich darauf fest, bei der »Euro-Rettung« und darüber hinaus keine Alternative zu dem von Deutschland vorgegebenen Erfolgsweg der EU zuzulassen; das Bundesverfassungsgericht hat der Übertragung von Souveränitätsrechten und insbesondere der Hoheit des Parlaments über den Staatshaushalt ganz generell einen Riegel vorgeschoben.

Damit steht von deutscher Seite immerhin nichts Geringeres als die Drohung im Raum, eher das ganze Unternehmen platzen zu lassen als in Sachen Gemeinschaftswährung Kompromisse einzugehen; und das nicht bloß aus finanzpolitischen, sondern aus verfassungsrechtlichen Gründen – also der Sache nach deswegen, weil sonst die Unterordnung unter die Gemeinschaft nicht mehr deckungsgleich wäre mit der Oberhoheit über das ganze Unternehmen und seine Räson, die der deutsche Souverän seiner Souveränität schuldig ist. Bei ihrem Vabanquespiel, in Sachen »Euro-Rettung« alles auf einen Erfolg zu setzen, den sie gar nicht in der Hand hat, baut die Berliner Regierung mit der Souveränitätsfrage einen fundamentalistischen Vorbehalt in ihre Euro-Politik ein, der im Fall des Scheiterns als Sprengsatz wirkt.

Auf ihre Weise bemühen sich die anderen EU-Staaten, es Deutschland gleichzutun und den Widerspruch zwischen der Unterordnung unter das gesamteuropäische Geldregime und ihrer Haushaltsautonomie ebenfalls so zu bewältigen, daß sie die verlangte Disziplin und Beschränkung zum Gegenstand eigener, betont souveräner Entscheidungen machen. Manche verordnen sich nach deutschem Vorbild eine in der Verfassung verankerte Schuldenbremse und verpassen damit ihrer Unterwerfung unter die supranationale Räson der Weltgeldkonkurrenz den rechtlichen Charakter eines frei gewählten obersten Staatsziels. Über ihre gleichartigen Bemühungen stürzen in den Nationen, denen der Verlust ihrer Kreditwürdigkeit und die Notwendigkeit einer Rettung durch ihre solventen Führungsmächte droht, die amtierenden Regierungen – und werden durch neue ersetzt, die mit frischer Kraft dasselbe tun: In Irland sowie auf der iberischen Halbinsel nimmt das jeweilige Wahlvolk seiner Obrigkeit die Kürzungsprogramme übel, mit denen diese nichts anderes versucht, als die Vorgaben der europäischen Führungsmächte in ein ganz und gar nationales »Rettungsprogramm« zu überführen. Mit der Ermächtigung einer neuen Mannschaft, die gleich noch rigider ans Werk zu gehen verspricht, stellt es klar, daß ihm seine alten Herren und deren Verelendungspolitik vor allem unter dem Gesichtspunkt mißfallen haben, daß die Nation sich ohnmächtig gezeigt und fremden Diktaten gefügt hat. Mit seinem Wahlakt jedenfalls setzt es seine materiellen Hoffnungen und patriotischen Erwartungen auf Politiker, die das Versprechen verkörpern, mit ihrer Machtübernahme wäre die Nation wieder Herr ihres Schicksals – das deswegen noch elender als unter der alten Regierung ausfallen darf.

Im Fall Griechenlands und Italiens nimmt die massive Mißtrauenserklärung seitens der Finanzmärkte sowie der Euro-Politiker in Berlin und Paris dem Wahlvolk die Mühe eines Urnengangs vorerst ab. Neue Regierungen der überparteilichen Fachkompetenz kommen ins Amt, um erstens das Verordnete ohne falsche Rücksicht aufs Volk zu vollstrecken und zweitens diesem glaubhaft zu machen, daß mit dem neuen Personal die bessere Einsicht und der autonome Wille der Nation zum Zuge kommen.

So bringen Deutschlands Euro-Partner sich mehr oder weniger selbst auf die verlangte Linie – und ermutigen die Berliner Regierung auf der einen, die Brüsseler Europapolitiker auf der anderen Seite zu Initiativen, die darauf zielen, im Sinne der supranationalen Sache die dafür für nötig gehaltene Haushalts- und Schuldendisziplin rechtsverbindlich festzuschreiben.

Innereuropäische Fronten

Die deutsche Seite befürwortet Änderungen am geltenden Einigungsvertrag, um nach der Logik des »Rettungsfonds« EFSF eine Verpflichtung aller Mitglieder auf eine von den Weltfinanzmärkten und -mächten akzeptierte und honorierte Kredit- und Geldpolitik festzuschreiben und so ihre Sonderstellung als entscheidende Finanzmacht der Union zu verewigen. Zunächst schlägt sie in aller Bescheidenheit bloß ein paar Korrekturen im Kleingedruckten vor; daraus ist freilich sehr schnell die Forderung nach einer rechtlich verbindlichen »Fiskalunion« geworden.

Die Alternativvorschläge beinhalten mehr eine Art Tauschgeschäft: Aufsichtsbefugnisse der Brüsseler Behörden über die nationalen Haushalte gegen eine gemeinschaftliche Kreditaufnahme, die den Schuldendienst der schwächeren Partner entlasten würde – auf Kosten des Zinsvorteils der Deutschen und der Abhängigkeit der anderen von Deutschlands Kreditwürdigkeit. Damit ist auch schon eine der Fronten klar, an denen die aus der Krise erwachsende Nötigung der Euro-Länder zu mehr Einigkeit die Währungsgemeinschaft spaltet.

Eine andere tut sich im Verhältnis des vom »deutsch-französischen Direktorium« dirigierten Euro-Krisenclubs zu Großbritannien immer weiter auf: Der große Außenseiter bleibt nicht bloß von der Streiterei um die faktische und rechtliche Weiterentwicklung der Union ausgeschlossen; mit seiner eigenen Finanzindustrie, seinem eigenen Kreditgeld und vor allem mit der hartnäckigen Verweigerung der Abgabe von Hoheitsrechten an die Union rangiert das Land als Schranke und immerwährende Beeinträchtigung des Programms, das für die Führungsmächte auf dem Kontinent den letzten Zweck ihres Bündnisses ausmacht und dessen überragende Bedeutung von der deutschen Kanzlerin immer wieder beschworen wird, wenn sie mit dem Euro gleich die Einheit Europas scheitern sieht: das Projekt einer den USA ebenbürtigen Weltmacht des Geldes.

Und mehr noch: Es geht, so hört man, um den Frieden in Europa. Die Bündelung der europäischen Kräfte für den Euro als Weltgeld, von dem jede Nation sich einen ökonomischen und politischen Machtzuwachs verspricht, den sie auf sich allein gestellt nie zuwege brächte, hat die Gegensätze untereinander nicht zum Erliegen gebracht. Im Gegenteil, die aktuelle Staatsschuldenkrise scheidet die europäischen Staaten in Gewinner und Verlierer, bringt also neue Gegensätze hervor. Deswegen verkündet die Kanzlerin den europäischen Völkern: »Ohne Europa gibt es keinen Frieden!« – Entweder, ihr laßt euch für die »Rettung Europas« einspannen und verarmt dabei, oder es könnte mit dem Zerfall ein neuer Krieg drohen, in dem weit mehr von euch gefordert ist! Geld oder Leben. Das sind sie, die Signale, die Europas Völker auf dem vorläufigen Höhepunkt der Krise zu hören kriegen.

Dienstag, 03. Januar 2012

Irgendetwas stimmt hier doch nicht. Nur was?

(Fundstelle: irgendwo auf Facebook)

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Angesichts der Revolutionen im Nahen Osten und der Verschärfung der Wirtschaftssanktionen durch den US-Präsidenten Barak Obama, der kürzlich ein Embargo gegen die Iranische Nationalbank verhängt hat, entwickeln die iranischen Machthaber eine neue Doktrin, die Ajatollah Chamene‘i mit folgenden Worten formuliert hat: „Wir sind eine Nation, die auf jegliche Aggression, auf jegliche Drohung standhaft und mit aller Macht antworten wird. Wir sind keine Nation, die dasitzt und zuschaut, wie die innerlich leeren, materialistischen Mächte, die vom Wurm zerfressen und von den Ameisen zerlöchert sind, die standhafte und stählerne iranische Nation bedroht. Wir setzen Drohung gegen Drohung!“

Wir sind bereit, den Raketenschirm der NATO in der Türkei zu bombardieren
Im Rahmen dieser neuen Doktrin hat der Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte der Pasdaran erklärt: „Für den Fall, dass wir einer Drohung ausgesetzt werden, sind wir bereit, zuerst den Raketenschirm der Nato in der Türkei zu bombardieren, danach werden wir uns anderen Zielen zuwenden.

Schließung der Meerenge von Hormos
Auch die Drohung, die Meerenge von Hormos zu schließen, falls die iranischen Erdölexporte mit einem Embargo blockiert werden, und das Abhalten von Manövern der Marine bis zum Meer von Oman, Cyber-Attacken, Verhaftungswellen gegen angebliche Spione und der angebliche Abschuss eines Spionageflugzeugs gehören zu dieser neuen Strategie.

Besetzung der britischen Botschaft
In diesem Kontext ist die Besetzung der britischen Botschaft durch Handlanger des Regimes nur eine Fortsetzung des psychologischen Kriegs mit dem Ziel, Drohkulissen aufzubauen. Im Vergleich zur Besetzung der US-Botschaft in Teheran von 1979 war diese Aktion allerdings nur ein dürftiger Abklatsch des großen Vorbilds. Damals diente die Aktion der Ausschaltung des liberalen Flügels unter den Geistlichen und der Unterdrückung der linken Bewegungen, denen Ajatollah Chomeini auf diese Weise die Parole vom „Kampf gegen den Imperialismus“ raubte. Heute finden sich keine echten Studenten mehr, die so eine Aktion durchführen, und in der Bevölkerung interessiert sich keiner dafür. Denn mit einem neuen Rekordstand des Wechselkurses für den Dollar von 1 zu 1800 (1800 Tuman für 1 Dollar) werden die Importe immer teurer, und das trifft auch Menschen, die keinen Zugang zu Dollars haben.

Zum Streiten gehören zwei
Das interessiert die politische Führung allerdings nicht, solange die außenpolitischen Ziele dieser Drohungen erreicht werden: Das westliche Lager zu spalten und bessere Konditionen für heimliche Verhandlungen mit den USA zu erzielen. Dabei sollte auch nicht unter den Tisch fallen, dass für den Wettlauf der Drohungen zwei Seiten notwendig sind. Dass die westlichen Staaten nicht die Menschenrechte im Auge haben und für sie die mit der Militarisierung des Irans einhergehende Zunahme der Unterdrückung im Land nur „Kollateralschäden“ sind, darf man nicht aus den Augen verlieren.

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taz 30.12.2011 http://www.taz.de/Serie-Fluechtlingsleben-IV/!84685/ Serie Flüchtlingsleben (IV) In der Warteschleife Asylbewerber dürfen nur einen Job annehmen, den kein Deutscher, kein EU-Ausländer, kein Flüchtling mit gesichertem Aufenthaltsstatus machen will oder kann. Eine solche Arbeitsstelle zu finden, ist nicht einfach.von Marco Carini HILDESHEIM taz | Am Anfang war Hazratullah Abasi voller Elan. Das erste Jahr, in dem der afghanische Flüchtling wie alle...

Die Angehörigen politischer Gefangener im Iran müssen bei ihren Besuchen im Gefängnis feststellen, dass die Behörden sie wie Kriminelle behandeln. Die Besucher müssen gelbe Westen tragen, von ihnen werden Fingerabdrücke genommen und Fotos gemacht, auch sonst ist das Verhalten der Behörden gegenüber den Familien sehr entwürdigend. Aus diesem Grund protestieren die Familien seit zwei Wochen jeden Mittwoch in der Staatsanwaltschaft von Teheran, wo sie ein Gespräch mit dem Staatsanwalt der Stadt, Dscha‘fari Doulat-Abadi forderten. Nicht nur, dass dieser einen Besuch verweigerte, er ließ die Besucher auch rauswerfen und die Türen schließen, so dass auch andere Personen, die von auswärts angereist waren, um ihr Anliegen in der Staatsanwalt vorzutragen, ausgesperrt blieben. Angesichts der Behördenarroganz haben die Familien der Gefangenen angekündigt, jede Woche vor der Staatsanwaltschaft einen Sitzstreik abhalten zu wollen, und dies, obwohl ihnen Geheimdienstbeamte mit einer Festnahme gedroht hatten.

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Was Sie schon immer über die Krise wissen wollten, aber nie zu fragen wagten. Die etwas anderen FAQ zur kapitalistischen Dauerkrise

Tomasz Konicz

Haben Sie sich in der Dauerkrise schon häuslich eingerichtet? Können Sie noch den Überblick behalten, bei all den über uns zusammenbrechenden Schuldenbergen? Für alle, die endlich im Krisendickicht durchblicken wollen, hier nun ein ganz besonderer Service: Werden Sie in wenigen Minuten zum Krisenexperten und Bescheidwisser, mit den großen FAQ zur Krise – diesmal mit verbesserter Kapitalismuskritikformel! In wenigen Antworten auf selbst erfundene Fragen werden die Krisenursachen benannt und die häufigsten Krisenmythen entlarvt. Der Clou dabei: Am Ende einer jeden Antwort finden sich Links zu Texten, die weitergehende Infos und Hintergründe zu den entsprechenden Themenkomplexen bieten. Soviel Krise war noch nie – jetzt neu mit krisenbedingter Zufriedenheitsgarantie!

Überall türmen sich gigantische Schuldenberge auf. Wer ist nun schuld an der gegenwärtigen Schuldenkrise? Die faulen Südeuropäer oder unsere gierigen Banker?

Statt nach “Schuldigen” müssen wir nach den systemischen Ursachen der Verschuldungsdynamik suchen. Diese gigantischen Schuldenberge sind in den vergangenen Jahrzehnten entstanden, weil sie notwendig waren, um den Kapitalismus überhaupt funktionsfähig zu erhalten. Ohne Schuldenmacherei zerbricht das System an sich selbst. Private und/oder staatliche Verschuldung stellt im zunehmenden Maße eine Systemvoraussetzung dar, ohne die der Kapitalismus nicht mehr reproduktionsfähig ist.

Wir müssen uns nur vergegenwärtigen, dass die Kreditaufnahme eigentlich einen Wechsel auf die Zukunft darstellt, bei dem Finanzmittel im Hier und Jetzt zur Verfügung gestellt werden, die erst später vom Kreditnehmer erwirtschaftet und zurückgezahlt werden müssen. Und diese Kredite werden ja für Investitionen, Bautätigkeit oder Konsum aufgewendet. Somit schafft die Verschuldung eine zusätzliche, kreditfinanzierte Nachfrage, die stimulierend auf die Wirtschaft wirkt.

Im Endeffekt ist es egal, ob der Staat, die private Wirtschaft oder die Konsumenten sich verschulden: Gemeinhin stimuliert diese kreditgenerierte Nachfrage die Konjunktur und führt zu weiterem Wirtschaftswachstum. Ob nun der amerikanische Staat neue Marschflugkörper ordert, in Spanien zur Spekulationszwecken neue Ferienhäuser gebaut oder in Osteuropa Konsumentenkredite vergeben werden: All diese Aktionen generieren Nachfrage, schaffen Arbeitsplätze und beleben die entsprechenden Industriezweige. Wenn die Verschuldungsdynamik stark genug ist, dann entsteht eine sogenannte Defizitkonjunktur. Hierbei handelt es sich um einen Wirtschaftsaufschwung, der durch das Anhäufen von Schulden, also von Defiziten, getragen wird.

Es waren gerade diese Defizitkonjunkturen, die in der Epoche vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in 2008 als maßgeblicher Motor der Weltwirtschaft fungierten. Hierbei handelt es sich um einen langfristigen, graduell an Intensität gewinnenden Prozess, der zeitgleich mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Aufstieg des Finanzsektors in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte. Diese mit der Expansion der Finanzmärkte einhergehende Verschuldungsdynamik ging mit der Ausbildung von gigantischen Spekulationsblasen auf dem Finanzsektor einher, die ebenfalls – bis zu ihrem Zusammenbruch – stimulierend auf die Wirtschaft wirkten. Hier sind insbesondere die zwischen 2007 und 2008 geplatzten Immobilienblasen zu nennen, die ja vielfältige belebende Effekte auf die Industrie zeitigten, da sie ja mit realer Bautätigkeit einhergingen.

Es verschuldeten sich aber nicht alle Länder gelichmäßig: Die stärksten Defizitkonjunkturen – mitsamt den einhergehenden Schuldenbergen – bildenden mit weitem Abstand die USA aus, gefolgt von Südeuropa, Osteuropa, Irland und Großbritannien. Diese Länder und Regionen wiesen immer weiter ansteigende Leistungsblianz- und/oder Handelsdefizite aus, während sie zugleich eine fortschreitende Deindustrialisierung erfuhren.

Daneben bildete sich in einem scharfen Verdrängungswettbewerb eine Reihe von Ländern aus, die enorme Handelsüberschüsse erwirtschaften konnten und weiterhin über einen nennenswerten Industriesektor verfügen. In diesem Zusammenhang müssen China, Deutschland, Japan oder Südkorea genannt werden. Diese Länder konnten vermittels ihrer Handelsüberschüsse von den Verschuldungsprozessen in den USA oder Südeuropa profitieren, ohne sich selber verschulden zu müssen. Die enormen globalen und europäischen “Ungleichgewichte” in den Handelsbilanzen sind genau auf diese Entwicklung zurückzuführen.

Der Kapitalismus als ein Weltsystem kann ohne diese Defizitkonjunkturen und die damit einhergehenden Ungleichgewichte nicht mehr funktionieren: Sobald die – private oder staatliche – kreditgenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen.

Weitere Informationen:

Das Ende des “Goldenen Zeitalters” des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus
Explosionsartige Ausweitung der Finanzmärkte in der Clinton-Ära
Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur

Wieso sollte der Kapitalismus, der als eine auf höchstmögliche Effizienz ausgelegte Wirtschaftsweise gilt, nicht mehr ohne Schuldenmacherei funktionieren? Was ist die Ursache dieser angeblichen Abhängigkeit des kapitalistischen Weltsystems vom Kredit?

Es ist gerade diese in den vergangenen Jahren immer weiter gesteigerte betriebswirtschaftliche Effizienz, die den Kapitalismus auf volkswirtschaftlicher Ebene in einen regelrechten Verschuldungszwang treibt. Das System ist zu produktiv, um weiterhin seine Reproduktion innerhalb seiner Produktionsverhältnisse ohne Defizitbildung aufrechterhalten zu können.

Frei nach Marx ließe sich zusammenfassen: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesslen der Produktionsverhältnisse. Diese kapitalistische Systemkrise ist also tatsächlich eine Krise des Kapitals. Das Kapital muss hier bei als ein soziales Verhältnis, als ein Produktionsverhältnis begriffen werden: Der Unternehmer investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Maschinen, Arbeitskräfte und Rohstoffe, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn auf dem Markt verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem uferlosen Verwertungsprozess des Kapitals reinvestiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser Prozess der Akkumulation oder Verwertung von Kapital funktioniert nicht mehr ohne die besagte Schuldenmacherei.

Um diese Diagnose vollauf verständlich zu machen, müssen die berühmten Widersprüche kurz dargelegt werden, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen. Neben dem bekannten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit prägt das System noch eine weitere fundamentale Unvereinbarkeit, die einen permanenten Strukturwandel zur Folge hat.

Obwohl Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, strebt das Kapital zugleich danach, die Lohnarbeit möglichst weitgehend durch Rationalisierung aus dem Produktionsprozess zu verbannen: Es ist eine Art Wettlauf mit den Maschinen. Die Marktkonkurrenz zwingt die Unternehmer in allen Industriezweigen dazu, ihre Produktion dank wissenschaftlich-technischer Innovationen immer weiter zu rationalisieren, sodass die Beschäftigung in den Wirtschaftszweigen immer weiter fällt, die schon längere Zeit etabliert sind und deren Märkte schon erschlossen sind.

Der gleiche technische Fortschritt, der zum Arbeitsplatzabbau in den etablierten Industriezweigen führt, lässt aber auch neue Industriezweige entstehen. Schon immer gab es in der Geschichte des Kapitalismus einen Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Investitionen und Lohnarbeit eröffneten. Folglich ist die Geschichte des Kapitalismus durch eine Abfolge von Leitsektoren der Wirtschaft gekennzeichnet, die als Akkumulations-, Konjunktur-, und insbesondere Beschäftigungslokomotiven fungierten: Textilindustrie, Schwerindustrie, Chemie, Elektroindustrie, Fahrzeugbau.

Dieser Strukturwandel funktioniert aber mit dem Aufkommen der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik und Informationstechnologie nicht mehr. Die IT-Industrie schafft zwar Arbeitsplätze, aber ihre Technologien und Produkte erfahren eine gesamtwirtschaftliche Anwendung, bei der im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen weitaus mehr Arbeitsplätze verschwinden. Es findet ein Prozess des Abschmelzens der Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion statt: Immer weniger Arbeiter können in immer kürzerer Zeit immer mehr Waren herstellen.

Die avancierten kapitalistischen Gesellschaften gerieten folglich in die Krise der Arbeitsgesellschaft, die mit steigender Arbeitslosigkeit, allgemeiner Prekarisierung und/oder einem stagnierenden Lohnniveau einhergeht. Zugleich steigen mit dem technischen Niveau der Produktion die Aufwendungen für Infrastruktur, Bildung oder Produktionsinvestitionen, was wiederum die Massennachfrage und/oder die Unternehmensgewinne belastet. Die gesamtgesellschaftlichen notwendigen Investitionen zur Aufrechterhaltung der Akkumulation von Kapital wachsen immer weiter an, wodurch das Verhältnis zwischen profitabler Kapitalverwertung und den hierfür notwendigen Aufwendungen sich zugunsten der Letzteren verschiebt.

Die wahren Krisenursachen liegen also konträr zu der populistischen Parole, wonach die Bevölkerung der Schuldenländer Europas oder der USA “über ihren Verhältnissen” gelebt habe. Es verhält sich gerade umgekehrt: Der Kapitalismus hat ein derartig hohes Produktivitätsniveau erreicht, dass er nur noch durch ein “Leben über den Verhältnissen”, also durch Schuldenmacherei eine Zeit lang eine Art Zombieleben führen kann – bis zum großen Crash.

Weitere Informationen:
Krisenmythos Griechenland
Roboter statt Arbeiter
Der Wettlauf mit den Maschinen
Ein Leichnam regiert die Gesellschaft
Vielleicht sind wir alle schon die Insassen eines Gesamt-Irrenhauses
Von Schulden und Jobs


Welche Rolle spielen die Finanzmärkte? Es heißt doch überall, die bösen “Bankster” haben uns die Krise mit ihrer maßlosen Gier eingebrockt

Da der Finanzkrach dem Wirtschaftseinbruch vorangeht, kann der Eindruck entstehen, dass die Finanzmärkte die reale Wirtschaft in den Abgrund gestoßen haben. Tatsächlich aber hielten die Finanzmärkte durch ihre Kreditvergabe die reale Wirtschaft überhaupt am Laufen, indem sie – wie ausgeführt – kreditfinanzierte Massennachfrage erzeugten. Die Finanzmärkte ermöglichten erst die besagten Defizitkonjunkturen, da der Kredit ja generell die wichtigste “Ware” der Finanzwirtschaft bildet.

Erst der Zusammenbruch der Immobilienblasen in 2008 und die damit einhergehende “Kreditklemme” ließen die Nachfrage wegbrechen, was zur Wirtschaftskrise von 2009 führte. Das jahrzehntelange Wachstum der Finanzmärkte ist selbst Folge der oben beschriebenen, aus fortschreitenden Rationalisierungsschüben resultierenden Krise der Arbeitsgesellschaft. Kapital strömt nun mal dort hin, wo die höchsten Renditen zu erwarten sind. Den Bankern maßlose Gier vorzuwerfen, ist geradezu absurd, da “Gier” – als die höchstmögliche Kapitalvermehrung – das Wesen des Kapitals bildet.

Dies gilt aber nicht nur für die Finanzbranche, sondern auch für die Warenproduktion. Wenn die Verwertung von Kapital in der realen, warenproduzierenden Wirtschaft stockt und zunehmende Verdrängungskonkurrenz die Renditen absenkt, dann strömt anlagewilliges Kapital nun mal in die Finanzmärkte. Generell gilt, dass Finanzexzesse auf eine Krise in der Warenproduktion hindeuten.

Somit schienen die rasch expandierenden Finanzmärkte die Rolle des beschriebenen Leitsektors der Wirtschaft einzunehmen, da der besagte Strukturwandel in der realen Wirtschaft nicht mehr funktionierte. Diese finanzielle Explosion ab den 80ern – und verstärkt ab den 90ern – Jahren des 20. Jahrhunderts war aber auf Dauer nicht tragfähig, obwohl selbstverständlich auch im Finanzsektor viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Dieses explosionsartige Wachstum der Finanzwirtschaft war auf Sand gebaut. Kapitalistischer, sich in Warenfülle äußernder Reichtum muss im Rahmen der dargelegten Kapitalverwertung tatsächlich erarbeitet werden. Die Finanzmärkte können zu diesem Prozess beitragen, indem sie Unternehmen Kreide gewähren, die zur Modernisierung der Produktionsanlagen und/oder Ausweitung der Produktionsmengen verwendet werden.

Aufgrund der beschriebenen systemischen Überproduktionskrise in der realen Wirtschaft verlief die Expansion der Finanzmärkte hauptsächlich in eine andere Richtung: in die reine Spekulation, die letztendlich immer zur Blasenbildung führen muss. Wir haben es seit gut zwei Jahrzehnten mit einer Art Finanzblasenkapitalismus zu tun, der durch das Aufsteigen immer größerer Spekulationsblasen gekennzeichnet ist, die in ihrer Aufstiegsphase als regelrechte Konjunkturmotoren fungieren – und die beim Platzen immer größere Verwüstungen hinterlassen.

Hierbei handelt es sich um einen langwierigen Prozess, in dem die Abhängigkeit des Gesamtsystems von der Verschuldungsdynamik sukzessive ansteigt: Angefangen von der Asienkrise Ende der 90er, über die Hightech-Blase von 2000, die 2008 geplatzte Immobilienspekulation, bis zur gegenwärtig zusammenbrechenden Liquiditätsblase. Dabei konnten bisher die verheerenden Folgen dieser zusammenbrechenden Spekulationsdynamik nur durch erneute Blasenbildung – durch eine blinde “Flucht nach vorn” in weitere Spekulationsexzesse- hinausgezögert werden.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass die derzeitige Staatsschuldenkrise größtenteils auf das Platzen der Spekulationsblasen auf dem Immobiliensektor zurückzuführen ist. Spanien oder Irland wiesen vor Krisenausbruch in 2008 eine niedrigere Staatsverschuldung als etwa die Bundesrepublik auf. Erst durch die milliardenschweren “Hilfsmaßnahmen” für die taumelnden Finanzmärkte und die “Sozialisierung” der Krisenverlauste explodierte die Staatsverschuldung in vielen Ländern. Es scheint paradox, aber tatsächlich haben die Staaten die Finanzmärkte im Endeffekt durch weitere Verschuldung auf den Finanzmärkten stabilisiert. Damit wird die europäische Staatsschuldenkrise aber auch automatisch zu einer Finanzmarktkrise, da Staatspleiten sofort die Banken in den Bankrott treiben werden, die Staatsanleihen aufgekauft haben.

Beide Pole kapitalistischer Vergesellschaftung – der Staat wie das Kapital – sind somit in einer Krisensymbiose aneinander gefesselt. Es lohnt, sich in Erinnerung zu rufen, dass staatliche und private Schulden denselben gesamtgesellschaftlichen Effekt zeitigten: die Stimulierung der Wirtschaft. Folglich bilden die nun angehäuften Schuldenberge ebenfalls eine gesamtgesellschaftliche Belastung. Die Schuldenkrise ist nicht nur eine Krise der Staaten oder der Banken, sondern des gesamten Systems.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein wucherungsartig anschwellender Finanzsektor als ein eindeutiges Krisenphänomen zu deuten ist – nicht aber als die Krisenursache. Es ist der stürmisch vom Kapitalismus vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unterminiert. Die Krise hat ihre Ursache nicht im Finanzsektor, sondern in den Widersprüchen der warenproduzierenden Industrie. Gerade das exzessive Wuchern der Finanzmärkte hat die unter einer latenten Überproduktion leidende reale Wirtschaft durch schuldengenerierte Nachfrage am Leben gehalten.

Weitere Infos:
Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur
Das Wunder an der Wall Street
Hurra, der (Pseudo-) Aufschwung ist da!

Was können die finanziell klammen Staaten nun überhaupt noch unternehmen? Welche Optionen hat die Politik noch?

Die Politik kann mit dem ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarium die gegenwärtige Krise nicht lösen, sie kann aber sehr wohl den drohenden schweren Wirtschaftseinbruch hinauszögern.

Die Krisenpolitik befindet sich in einer Aporie, in einem unlösbaren Selbstwiderspruch, bei dem sie nur zwischen zwei unterschiedlichen Wegen in die Krise wählen kann: Die Politik kann einerseits die Staatsverschuldung immer höher treiben, um den wirtschaftlichen Absturz zu verhindern. Dieser Ansatz, der zumeist mit einer expansiven Geldpolitik einhergeht, führt letzten Endes zur Inflation oder zum Staatsbankrott – da letzten Endes die Notenpresse angeworfen werden muss, um die Verschuldungsdynamik aufrechtzuerhalten. Andererseits können Regierungen versuchen, die staatlichen Schuldenberge durch drakonische Kürzungen abzubauen. Dies jedoch bewirkt einen sofortigen ökonomischen Einbruch, der auch zu erheblicher Verelendung in der betroffenen Gesellschaft führt.

Die meisten Regierungen entschieden sich zuerst für die Schuldenmacherei: Die Staaten haben nach Krisenausbruch die auf den Finanzmärkten betriebene Verschuldungsdynamik im Endeffekt durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme ab 2008 weiter aufrecht gehalten. Die vormals durch die Finanzmärkte organisierte Defizitkonjunktur, bei der die Anhäufung von Schulden konjunkturbelebend wirkt, wurde nach Krisenausbruch verstaatlicht – bis die Staaten selber an ihre finanzielle Belastungsgrenze stießen. Mit zunehmender Krisenintensität eskalieren auch die Streitereien um die Krisenpolitik. Derzeit konnte die deutsche Regierung die Europäische Union auf strikte Sparprogramme verpflichten, während etwa die USA auf einer Fortführung von Verschuldung und Anleiheaufkäufen beharren.

Die Auseinandersetzungen um die konkrete Ausgestaltung der kapitalistischen Krisenpolitik gewinnen auch deswegen an Härte, weil beide Fraktionen in diesem Disput die desaströsen Konsequenzen der Politik der Gegenseite durchaus zurecht fürchten. Fakt ist, dass etliche Länder ihre Haushaltsdefizite aufgrund ausartender Staatsverschuldung tatsächlich nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanzieren können – und etwa unter den “Euro-Rettungsschirm” flüchten mussten. Fakt ist aber auch, dass eine Einstellung der schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme zu einer Konjunkturflaute führt, die in Stagnation und Rezession mündet.

Somit befinden sich tatsächlich beide Seiten in dem finanzpolitischen Streit um die Ausgestaltung der künftigen Krisenpolitik bei ihrer Diagnose im Recht: Weitere Staatsverschuldung wird unweigerlich zum Staatsbanktrott oder zur Hyperinflation führen, ein Ende der staatlichen Verschuldung wird in die Rezession führen. Beide Parteien befinden sich aber auch auf dem Holzweg, wenn sie davon ausgehen, dass ihre “Therapien”, ihre Politikkonzepte, die fundamentale Krise der Weltwirtschaft lösen könnten, die seit 2008 nur durch ausufernde staatliche Verschuldung verlängert werden konnte.

Aus der Unmöglichkeit, diese Systemkrise mit dem Instrumentarium der Krisenpolitik zu bewältigen, resultieren auch die irrationellen und ins Chauvinistische tendierenden Reflexe, die in Politik und Massenmedien an Breite gewinnen – und bei denen die gegebenen kapitalistischen Ideologien ins Extrem gesteigert werden.

Weitere Infos:
Politik in der Krisenfalle
Krise und Wahn

Wieso bildet Europa derzeit das globale Krisenzentrum, obwohl andere Staaten – wie etwa die USA – ähnlich hoch verschuldet sind?

Die Schuldenberge der USA und Europas sind in ähnlich gigantische Dimensionen angewachsen, und auch die Ursachen der Schuldenbildung auf beiden Seiten des Altantik sind auf den gescheiterten Strukturwandel und die besagte Krise der Arbeitsgesellschaft zurückzuführen. Konfrontiert mit der obig dargelegten Krisenfalle, hat die Politik in den USA aber einen anderen Weg eingeschlagen als in der Eurozone.

Der Unterschied zwischen den USA und der EU besteht in der Bereitschaft der USA, die Verschuldungsdynamik des US-amerikanischen Staates durch Aufkäufe von Staatsanleihen aufrechtzuerhalten – und mittelfristig eine ausartende Inflation in Kauf zu nehmen. Indem die US-Notenbank Fed notfalls im großen Stil die amerikanischen Staatsanleihen aufkauft, wird die Zinslast der USA niedrig gehalten und ein katastrophaler Wirtschaftseinbruch verhindert, da zumindest die staatliche Verschuldungsdynamik – und somit auch die kreditfinanzierte staatliche Nachfrage – weiter aufrechterhalten werden kann.

In der EU setzte sich hingegen Deutschland mit der Forderung nach sofortiger Haushaltssanierung durch, während die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB von Berlin vehement abgelehnt werden. Ohne Anleiheaufkäufe durch die EZB oder den ESM wird die Zinslast der südeuropäischen Schuldenstaaten bald untragbar sein, ein Auseinanderbrechen der Eurozone wird so sehr wahrscheinlich. Ohne fortgesetzte Verschuldung wird die Eurozone in einer schweren Rezession versinken, die sich bereit mit europaweit fallender Industrieproduktion ankündigt. Ein Schuldenabbau wir so vollends illusionär.

Zudem muss beachtet werden, dass der Euro zur Ausbildung gigantischer Ungleichgewichte in der Eurozone beigetragen hat – und dass die Krisenpolitik der EU von eskalierenden nationalen Interessensgegensätzen geprägt ist. In der Eurozone wurden Volkswirtschaften mit sehr unterschiedlichen Produktivitätsniveaus in einem Währungsraum zusammengefasst, sodass die ökonomisch unterlegenen Länder in Südeuropa ohnehin zur Ausbildung von Handelsdefiziten gegenüber den überlegenen Ländern im Zentrum neigten. Der Euro nahm den schwächeren Staaten die Möglichkeit, mittels Währungsabwertungen ihre Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen.

Zusätzlich setzte in der Bundesrepublik wenige Jahre nach der Einführung des Euro ein rabiater Sozialkahlschlag ein, der in der Einführung der Hartz-IV-Gesetze gipfelte und zur allgemeinen Prekarisierung des Arbeitslebens und einer Absenkung des Lohnniveaus beitrug. Hierdurch konnte die deutsche Exportwirtschaft weitere Exportvorteile gegenüber der Eurozone gewinnen und einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss von inzwischen 770 Milliarden Euro akkumulieren. Bei der EU handelte es sich also bereits um eine Transferunion – um eine Transferunion zugunsten der deutschen Exportindustrie, die nicht zuletzt dank sinkender Löhne und der Prekarisierung der Lohnabhängigen in der BRD ermöglicht wurde.

Diese deutschen Exportüberschüsse in die Eurozone trugen also maßgeblich zur Ausbildung der Schuldenberge in der Eurozone bei – die Exportüberschüsse Deutschlands sind logischerweise die Defizite der Zielländer deutscher Exportoffensiven.

Rückblickend betrachtet war die “europäische Integration” selber ein Reflex auf diese Krise. Das “Europäische Haus” wurde spätestens seit der Euroeinführung auf einen beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der bis zum Platzen dieser Schuldenblase allen Beteiligten die Illusion gab, an einem allgemein vorteilhaften Integrationsprozess beteiligt zu sein: Deutschlands Industrie erhielt dank des Euro Exportmärkte, während Europas Schuldenstaaten ihre kreditfinanzierte Deifizitkonjunktur erfuhren.

Weitere Infos:
Krisenmythos Griechenland
Zerbricht Europa an der Krise?
Transatlantischer Schuldenturmbau im Vergleich
Die Weltwirtschaftskrise als Schuldenkrise

Wie schlimm wird die Krise werden? Worauf müssen wir uns einstellen?

Kurzfristig wird das System mit Sicherheit in einer schweren Wirtschaftskrise versinken, sobald die Verschuldungsdynamik zusammenbricht, die den Kapitalismus – noch – am Laufen hält. Die anstehende globale Depression könne durchaus die Schärfe und Dramatik der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erreichen, inklusive schwerwiegender sozialer und politischer Verwerfungen und Umbrüche. Der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren Aufschwung abgelöst werden. Stattdessen findet in der Peripherie der EU ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Absieg statt, der die betroffenen Länder in ihrer zivilisatorischen Entwicklung zurückwerfen wird. Es ist, als ob die “Dritte Welt” von sich Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Es findet derzeit ein Prozess des “Abschmelzens” der reaktiven Wohlstandsinseln der “Ersten Welt” im globalen Maßstab statt.

Die kommende globale Depression bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langfristigen, weltgeschichtlichen Prozesses, bei dem das kapitalistische Weltsystem nach einer gut 500-jährigen Entwicklungsperiode an die dargelegte innere Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und an seinen eskalierenden Widersprüchen zugrunde geht. Das System tritt nun in eine Phase des chaotischen Umbruchs ein, wobei die Richtung und der Ausgang dieses Prozesses nicht prognostizierbar sind. Der US-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein hat diese Periode des systemischen Umbruchs folgendermaßen beschrieben: “Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, eine sehr schwierige sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein. Es wird auch, was nicht paradox ist, eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung bei Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.” (Immanuel Wallerstein, Utopistik, Wien, 2002, S. 43)

Im gewissen Sinne können die bereits global eskalierenden Auseinandersetzungen und Verwerfungen als Teil dieses Kampfes um die Ausgestaltung des künftigen Weltsystems aufgefasst werden, auch wenn dies den Akteuren dieser Kämpfe zumeist nicht klar ist. Die ungeheure Intensivierung der Umbrüche und Konflikte resultiert aus der Tatsache, dass das gegenwärtige System für immer mehr Menschen unerträglich wird, da es an seine Entwicklungsgrenzen stößt.

Immer mehr Menschen fallen aus dem Prozess der Kapitalakkumulation heraus, sie werden “überflüssig” – während der Druck auf die noch in Arbeit befindlichen Lohnabhängigen immer weiter wächst. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen im arabischen Raum etwa bildete eine wichtige Triebkraft der Umbrüche in dieser Region. Deutschland kann als eine Burnout-Republik bezeichnet werden, während in Südeuropa zweistellige Arbeitslosenraten erreicht werden.

Mit zunehmender Krisenintensität werden sich diese Widersprüche verschärfen. Der Ausgang dieses chaotischen Transformationsprozesses ist – wie von Wallerstein konstatiert – völlig unklar, da er von den unendlich komplex verwobenen Handlungen der daran Beteiligten Menschen abhängig ist. Das kommende Weltsystem kann viel schlimmer (hieratischer und diktatorischer) als das Gegenwärtige werden – oder auch besser, egalitärer und demokratischer. Mit Sicherheit kann aber jetzt schon konstatiert werden, dass die aus dieser Transformation hervorgehende Gesellschaft keine kapitalistische sein wird, da es das dargelegte Kapitalverhältnis selbst ist, das an seine inneren Grenzen stößt und die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise bildet.

Letztendlich scheint es angebracht, diese Krise auch als Chance wahrzunehmen; als Chance auf die Errichtung eines besseren, demokratischeren und egalitären Gesellschaftssystems. Bei Abstrahierung von den konkreten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung nimmt die Krise ja einen regelrecht absurden Charakter an: Die Gesellschaft erstickt an ihrem Überfluss.

Der Kapitalismus verliert letztendlich seinen ewigen “Wettlauf mit den Maschinen.” Weil zu viele Waren mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden können, versinken immer mehr Bevölkerungsgruppen und Weltregionen in Marginalisierung und Verelendung. Die technischen und materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit befriedigt, sind aber objektiv gegeben.

Weitere Infos:
Immanuel Wallerstein on the end of Capitalism
“In 30 Jahren wird es keinen Kapitalismus mehr geben”
Schleifung der Überkapazitäten
Zweite Welle der globalen Wirtschaftskrise innerhalb der nächsten Jahre

(erschienen auf Telepolis 23.12.2011)

Al Masry al Youm hat einen Rückblick auf die Organisierung der Arbeiterbewegung in Ägypten veröffentlicht:

The revolution has given birth to the first independent trade union federation in Egypt’s history. It has also spurred authorities into dissolving the board of the state-controlled Egyptian Trade Union Federation (ETUF,) which had monopolized the union movement — by law — since 1957.(…)
Yet 2011 was also marred by numerous violations of workers’ rights. According to Karam Saber, Director of the Land Center for Human Rights, “The greatest setbacks to Egypt’s labor and union movements this year” include: the issuing of a new law criminalizing strikes, the forceful dispersal of strikes by hired thugs and security forces, and the referral of striking workers to military tribunals.

Auf Tahrir & Beyond gibt es einen Rückblick auf das Jahr 2011 bzgl. des Aufstands und seinem weiteren Verlauf – the year of Heros:

Pictures speak louder than words so instead of telling you all the events that made the Egyptian revolutionaries my heroes of 2011. Below is the year of the revolution in pictures highlighting the most powerful images I chose for 2011. This is why there is hope, as long as we are breathing, we will fight for our freedom, social equality, and dignity. We die for freedom, but we live on hope & resistance. May 2012 be the year of freedom. Revolution until victory.

Montag, 02. Januar 2012

Die taz berichtet, dass Deutschland im Rahmen des Dublin II-Verfahrens Minderjährige in andere EU-Staaten abschiebt, ohne dass geklärt ist, dass diese versorgt sind - und so gegen eine EU-Richtlinie verstösst. Im konkreten Fall geht es umd ie wiederholte Abschiebung eines 17jährigen Afghanen nach Italien, wo er keine Unterkunft bekommt.

Mir fällt im Anschluss an die Mike-Davis-Platitude noch ein älterer Kommentar ein, den ich irgendwann mal bei Neoprene in irgendeiner Diskussion gebracht hatte, auf den aber nicht weiter eingegangen wurde, was mir aber auch egal war. Ich hatte ihn vorgeschrieben und ihn auf meiner Festplatte gespeichert und irgendwann beim Aufräumen rutschte der Text in die Wiedervorlage.

Grundsätzlich nervig ist die Angewohnheit, nicht nach dem Inhalt einer Sache zu fragen, sondern nach dem richtigen Gerüst für einen – nicht näher thematisierten, als gültig oder aber verbesserungswürdig schon insgeheim angenommenen – Inhalt zu fragen. Bei Davis ist es das Axiom »Organisiert euch«, anstatt zu fragen, wofür eigentlich und anstatt hinzugucken, was es bereits für reale Organisationsformen »auf der Straße« gibt. Die Intervention bei Neoprene richtete sich gegen einen Teilnehmer – »Antikap« (DER Antikap? Der sich vor zwei, drei Jahren als Anti-MG-GSP-Spürhund in der Blogosphäre profilieren wollte? Ich weiß es nicht mehr.) –, der einen arg formalistisch ausgetrockneten Begriff vom Streik hatte – also auch nicht, weder historisch noch systematisch, hingeschaut hatte, vielleicht auch gar nicht hinschauen wollte.

Here we go.

Gegen den Streik als »›Mittel‹ der alleinigen Arbeitsniederlegung« wandte er/sie ein, dass

damit nichts verbunden wird, keine Forderungen, keine Alternativen. Natürlich muss die kapitalistische Produktion aufgegeben werden, damit eine sozialistische einsetzen kann. Nur kommt die nicht automatisch, wenn Leute aufhören zu arbeiten. Das führt nur dazu, dass nützliche Güter nicht produziert werden und Löhne nicht gezahlt werden, vergrößert also die Armut. Natürlich sollen Arbeiter aufhören kapitalistisch zu arbeiten. Leider erfährt man von euch nie, was sie stattdessen tun sollen. Da kommt immer nur „X abschaffen, mit Y aufhören“.

Diese Kritik halte ich für doppelt falsch.

1. Historisch gesehen. Jede große Streikbewegung, die nicht nur symbolisch ist (siehe z.B. die eintägigen Generalstreiks im letzten Herbst [2010] in Spanien, Griechenland, Portugal …), die nicht in einer militärischen Kampfsituation schnell und blutig abgewürgt (Rote Ruhr Revolution) und die nicht von der eigenen Organisationen verraten wird (Mai 1968 in Frankreich), geht in eine Rätebewegung, in eine Selbstverwaltung und Selbstorganisation der Produktion über. Siehe Russland 1905 und 1917, siehe Italien 1919/20, siehe die Räte in der iranischen Revolution, siehe Chile, Argentinien … die Leute wissen offenbar schon, wie sie sich zu verhalten haben.
Bei einigen [Blog-]Teilnehmern hier herrscht wohl die Vorstellung, eine Revolution oder kleiner gehangen – eine Aufstandsbewegung sei so etwas wie ein Brettspiel, wo man immer einen Schritt nach dem anderen setzen muss, und wenn man einen übersieht, dann muss man zurück aufs Los. Es ist albern anzunehmen, die Leute ließen sich zu einem Streik aufhetzen und würden dann von ihrer Avantgarde im Regen stehen gelassen, weil die ihnen nämlich nicht sagt – so, jetzt macht mal dies oder das… Es ist immer so gewesen, dass die Streikbewegung die Avantgarde überrollt. Da bricht was los, und all die großen Strategen sind erst mal krass überfordert. Man sieht ja an den April-Thesen Lenins, wie sehr der dem revolutionären Aufruhr hinterher galoppieren musste, und er war ja auch der einzige Führer in der Partei, der da was geblickt hatte.

2. Systematisch gesehen. Ich vermute, dass hier die wenigsten Ahnung haben, wie es eigentlich in der Arbeitswelt zugeht. Ist schon okay, nur sollte man dann nicht rumeiern – uh, was machen die Leute, was machen sie bloß?!
In den Betrieben, Büros, Fabriken, auf den Baustellen etc.pp. gibt es das große Summen, wie beschissen und schlecht doch die Arbeit organisiert ist. Überall inkompetente Chefs, cholerische Vorarbeiter, selbstgefällige Meister, faule Kollegen, eine lähmende Bürokratie, ignorante Vorstände… Ihr werdet in den Fertigungshallen und Großraumbüros verdammt viele Leute finden, die der festen Meinung sind, sie würden etwas Vernünftiges tun, die sich also einbilden, es würde, sagen wir: bei Ford WIRKLICH darum gehen, gute Autos zu bauen – und es läge allein an den inkompetenten Managern etc.pp., dass die Autos eben doch nicht gut sind. Das kann man Gebrauchswertfetischismus nennen.

Was bedeutet das für die hiesige Diskussion? A) Die Leute schmeißen bereits den Laden, sie wissen längst, wie sie besser und effektiver und unter Umgehung der Chefs (= OHNE Chefs) arbeiten können (es gibt etliche soziologische Studien, die auch empirisch nachgewiesen haben, dass bestimmte Produktionsvorgaben von den Arbeitern gar nicht anders als durch kreative Regelverletzung zu lösen sind – und sie lösen sie auch!). B) Es ist der Streik, also der Ausstand, der temporäre Ausstieg aus JEDER Arbeitsorganisation (aus der offiziellen, »tayloristischen«, wie aus der untergründigen, »proletarischen«), der überhaupt so etwas wie das Durchbrechen dieses Gebrauchswertfetischismus ermöglicht. Im Streik stehen sich nämlich für gewöhnlich nicht eine einzelne Abteilung und ein dämlicher Vorgesetzter gegenüber, ein Streik markiert immer schon die beiden großen Linien, an denen sich unterschiedliche – unvereinbare – Interessen gegenüberstehen. Da geht’s um mehr Lohn, weniger Arbeitszeit, eine bessere Rentenregelung … um Grundsätzliches. Deshalb sind Streiks staatlich betreute – regulierte – Ereignisse, sie laufen hochgradig ritualisiert ab und sind mit zig Einschränkungen versehen (eine bemerkenswerte Reverenz an die Klassengesellschaft ist die Tatsache, dass das Arbeitsrecht tatsächlich eine Gewalt abseits des staatlichen Gewaltmonopols erlaubt). Natürlich kann man einen Streik zu einer ganz harmlosen Sache herunterkochen, aber das setzt voraus, dass es per se keine harmlose Sache ist.

(…)

Staaten wie der Iran, deren Regierung hauptsächlich vom Erdöleinkommen lebt, pflegen in der Regel kein großes Gewicht auf das Eintreiben von Steuern zu legen. Da die Bevölkerung der Ansicht ist, dass die Taschen der Regierung ohnehin gefüllt sind und längst nicht alle gleichmäßig in den Genuss der Erdöleinnahmen kommen, ist es aus der Sicht der Betroffenen auch nicht vernünftig, Steuern zu bezahlen, und bislang haben sich Basarhändler recht erfolgreich gegen die Einführung oder Erhöhung von Steuern gewehrt. In dem Maß, wie die Wirtschaftssanktionen wegen des iranischen Atomprogramms zu greifen beginnen, macht sich die Regierung auf die Suche nach neuen Einnahmen.
So wundert es nicht, dass der Oberbefehlshaber der Polizeikräfte Esmail Ahmadi Moqaddam laut Angaben der Zeitung Keyhan (Teheran) am 31. Dezember 2011 erklärt hat, dass man sich auf die Gründung einer Banken- und Zollpolizei vorbereite. Diese Polizei solle auch den Schmuggel bekämpfen.
Das wird wohl bedeuten, dass nur noch der Schmuggel der Revolutionswächter erlaubt sein wird und alle anderen Wege geschlossen werden sollen. Durch Ausschluss der Konkurrenz werden so die Einnahmen der Pasdaran und die Preise der geschmuggelten Ware erhöht, was zwar in diesem Fall die Staatseinnahmen nicht vermehrt, wohl aber die privaten Taschen der Machthaber.
Die Polizei soll auch Steuerbetrug bekämpfen und dabei Zugang zu Bankkonten bekommen. Esmail Ahmadi Moqaddam meinte, hätte es diese Polizei schon früher gegeben, dann wäre der jüngste Skandal der Veruntreuung von 3 Milliarden Dollar im iranischen Bankensystem gar nicht so weit gekommen. Das sollte man nicht für bare Münze nehmen, aber zumindest diejenigen, die nicht auf der Seite von Ahmadineschad stehen, dürften nun Ärger mit dieser Polizei bekommen. Mittelfristig könnte dies zur weiteren Schließung von Firmen und Fabriken führen. Ob sich die Regierung allerdings traut, sich noch einmal mit den Basarhändlern anzulegen, wird die Zukunft weisen.
Der Polizeibefehlshaber wies im übrigen zu Recht darauf hin, dass die Vorstellung irrig sei, man könne den Schmuggel verhindern, indem man eine hohe Mauer ums Land ziehe. Solange es der Bevölkerung schlecht gehe und infolge der Wirschaftskrise keine andere Möglichkeit offenstehe, für seinen Unterhalt zu sorgen, werde es Schmuggel geben.

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Wie der Abgeordnete von Sarawan im iranischen Parlament, Abdulasis Dschamschidsehi, der zugleich Mitglied im Gesundheitsausschuss des Parlaments ist, gegenüber der Zeitung Chorassan erklärt, sind in den letzten zwei Monaten die Preise für Medikamente im Schnitt um 8 bis 10 Prozent gestiegen, die von Importmedikamenten sogar um 40 Prozent. Die Importe sind durch den fallenden Wert der iranischen Währung teurer geworden, die Preise für im Iran produzierte Medikamenten sind durch den Anstieg der Preise für Gas, Wasser, Strom und Löhne (?) ebenfalls angestiegen.
Für Kranke und ihre Angehörigen ist das eine schlechte Nachricht.
Der Abgeordnete kritisierte außerdem, dass bei der Abschaffung der Subventionen vor zehn Monaten und der Einführung des „Freundschaftsgelds“ (Yarane) erklärt worden sei, dass ein Teil der eingesparten Subventionen ans Gesundheitsministerium überwiesen würden. Das sei nicht geschehen.

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Am Freitag, den 30. Dezember 2011, fand in Teheran ein Treffen des Wahlstabs des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad statt. Es handelt sich noch um seinen Wahlstab aus der Zeit der Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009. Dass er überhaupt noch existiert, kommentierte die Zeitung Tehran Times mit der verwunderten Frage, ob denn mehr als nur zwei Amtsperioden für den Präsidenten vorgesehen seien? Nach der iranischen Verfassung kann der Präsident nicht für eine dritte Periode antreten. Der Wahlstab befasste sich in Gegenwart von Ahmadineschad mit verschiedenen Themen, so etwa, ob die Kampagne gegen Ahmdineschad, seine Regierung als „abweichlerisch“ zu bezeichnen, in der Bevölkerung ankomme, wie es um die Person von Esfandyar Rahim Mascha‘i stehe, ein enger Berater von Ahmadineschad, dessen Tochter mit Ahmadineschads Sohn verheiratet ist und der auch im Rahmen von Bestechungsskandalen in der Bevölkerung bekannt wurde.
Der Wahlstab hat wohl auch schon ein Wahlmotte entworfen:


Ahmadi, zerschlag den Götzen, zerschlag den großen Götzen.

Wer mit Götze gemeint ist, wird nicht gesagt, aber es dürfte sich auf den Religionsführer Ajatollah Chamene‘i handeln. Und da das Zerschlagen von Götzen ja auch ein Werk des Propheten war, scheinen die Wahlmanager wohl nochmal die Rolle Ahmadineschads als von Gott Inspiriertem aufwärmen zu wollen. Ahmadineschad hatte ja nach seiner Rede vor der UNO in New York behauptet, Lichterscheinungen gesehen zu haben, und es sei nicht die Deckenbeleuchtung gewesen…
Da die Abhaltung der Wahlen eine Aufgabe des Innenministeriums ist und dieses in der Hand von Ahmadineschad liegt, befürchten die Gegner Ahmadineschads (also die Prinzipialisten um Chamene‘i), dass er das Ministerium zur Manipulation der Wahlen benutzen wird.
Da sprechen sie wohl aus Erfahrung, bei den Präsidentschaftswahlen haben sie Ahmadineschad ja noch eifrig bei der Fälschung der Wahlergebnisse unterstützt.

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Sonntag, 01. Januar 2012

Januar:
Der Russe stand im Januar
Gefährlich nahe und der Grund:
Gesine Lötzsch nahm’s Wort mit K
In ihren frevelhaften Mund.

Februar:
In Afrika, der Facebooknutzer,
Rebellisch macht‘ er sich an Werk. -
In Deutschland war er Stiefelputzer
Und kämpfte für zu Guttenberg.

März:
Bis März war alles gut, dann raubte
Ein Super GAU uns jedes Glück.
Denn es geschah, was keiner glaubte
Herr Guttenberg trat doch zurück.

April:
Die Welt erschien verdammt, zerrissen
Doch die Versöhnung kam nicht „late“.
Wir wiegten uns in Sofakissen
Symbolisch mit William und Kate

Mai:
Im Mai wurd‘ Präsident Obama
Dem Friedensnobelpreis gerecht:
Auf sein Geheiß starb Herr Osama
Und schwups, die Welt war nicht mehr schlecht.

Juni:
Der Juni brauchte neue Schurken,
Denn Feindschaft schafft Identität.
Drum wurden Sprossen oder Gurken
Zur Ablenkung als Feind erspäht.

Juli:
Der Terror kam zurück und Trauer
Ergriff direkt den deutschen Mob.
Denn Breiviks Augen warn zu blau, er
War auch zu blond für diesen Job.

August:
In London frönten junge Leute,
Was sie das Kapital gelehrt:
Konsum, Gewalt und fette Beute
Und wurden dafür eingesperrt.

September:
Der Autokrat erhielt Beschwerden:
Sein Handeln hat uns nicht verzückt.
Vertrat er jedoch Gott auf Erden
Warn Hunderttausend schwer beglückt.

Oktober:
Oktober und die Welt schien friedlich,
Kein Hass, kein Krieg, kein Staatsbankett.
Doch weshalb schien es so gemütlich?
- Ich hatte bloß kein Internet!

November:
Mit Abbe, Goethe, Zeiss und Schiller
Beschmückt sich Jena allgemein.
Dann störten plötzlich Nazikiller
Drum rockte man das Image rein.

Dezember:
Steve Jobs verließ die Fans für immer,
Auch Loriot ward totenstill.
Und dann – als ging es nicht noch schlimmer -
Verließ uns auch noch Kim Jong Ill.

Anmerkung:
Hier findet ihr die Jahresrückblicke von 2008, 2009 und 2010.

Vor ein Tagen war ich zum erstenmal auf dem Hambacher Schloß und habe mir die Ausstellung zum Hambacher Fest angeschaut. Die Ausstellung und auch unsere Ausstellungsführerin sind sehr bemüht, auch Frauen in der Ausstellung vorkommen zu lassen. Das ist sehr angenehm. Aber noch etwas unbeholfen, denn die Frauen kommen doch wieder nur als Nebenfiguren vor und Nebenbemerkungen von Männern werden zu emanzipatorischen Aussagen stilisiert (und in der Führung emanzipatorische Aussagen...

An der Haltestelle August-Bebel-Strasse in Karlsruhe

Die ägyptische Militärregierung hat sich erfolgreich daran gemacht den Aufstand einzuschläfern, bevor er sich zu einer Revolution entwickeln konnte. Den größten Teil der Aufständischen konnte man mit leeren Versprechungen und Wahlen als Knochen zufriedenstellen, den revolutionären Rest hat man gewaltsam befriedet. Mittlerweile sitzen mehr politische Gefangene als unter Mubarak ein. Im Gegenzug wurden islamistische Terroristen und Massenmörder entlassen.1

Teil dieser Strategie ist die Einbindung der Moslembrüder. Bereits Mubarak gewährte ihnen Freiräume und Teilhabe an Institutionen, verwehrte ihnen aber ein Vordringen in die eigentlichen Machtbereiche der Institutionen. Sie blieben auf die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure beschränkt. Obwohl sie grundsätzlich oppositionell waren, wollten sie das System nicht komplett stürzen, sondern nur verbessern – letztendlich den Staat nur besser managen. Daher trat ab den 80er Jahren eine gewisse Mäßigung ein, in dem sich die Moslembrüder darauf beschränkten akzeptiert zu werden und für Wahlen antreten zu dürfen2. Der militante Teil der Moslembrüder trat dagegen in den bewaffneten Kampf. In den 80er Jahren zogen sie zunächst gen Afghanistan, um schließlich in den 90ern eine Terrorwelle loszutreten.

Die stille konservative Koalition

(vgl. auch Artikel Islamisten und der Umsturz in Ägypten)

Mubaraks Vorgänger Sadat hat in den 70er Jahren eine der ersten Neoliberalisierungen weltweit durchgeführt3. Die einst starken Bauernverbände4 waren unter Nasser in den Staat integriert und wurden schließlich zentral gelenkt. Die nasseristische Agrarpolitik sah eine Bodenreform, Landwirtschaftsschulen, zentrale Marketingstellen und Maschinenringe vor. Unter Sadat wurde all das abgeschafft und die Traktoren nach Saudi-Arabien verkauft. Die Bauern verarmten dadurch zusehends und verloren schließlich ihr Land an Aufkäufer. Häufig waren dies Militärs, die deshalb heute die größten Landbesitzer sind. Die Arbeiterbewegung in Ägypten war aufgrund der geringen Industrie zahlenmäßig eher schwach, trat aber bereits schlagkräftig in Erscheinung. Allerdings gab es nur eine Einheitsgewerkschaft, die zentral gelenkt wurde, und deren einzige Aufgabe darin bestand Konflikte einzudämmen und einen Zusammenschluss zu verhindern. Zudem schwebte immer noch das Gespenst des Massenmords über Ägypten, weil Sadat 1977 die sog. Brotunruhen5 und die Demonstrationen der Fabrikarbeiter aus Helwan zusammenschießen ließ. Daher waren die Brotunruhen in den 80er Jahren viel kleiner. Die Moslembrüder blieben dabei immer außen vor bzw. wurden abgewiesen (vgl. Schulze 2003, S. 304).

Mit der Neoliberalisierung wurden bisherige soziale Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitsversorgung und Subventionen von Lebensmitteln und Öl reduziert bzw. ganz gestrichen. In diese Lücke rückten NGOs vor. Besonders die Moslembrüder wurden vom Staat hofiert. Sie sollten durch karitative Einrichtungen und Moscheen die sozialen Konflikte befrieden sowie einer Organisierung von Arbeitern und Armen entgegenzuwirken. In der Gesamtschau der Maßnahmen – Repression, alltäglicher Überlebenskampf, die um sich greifende Leistungsideologie und die soziale Mindestversorgung durch NGOs war dies leider sehr erfolgreich.

Islamisten als postrevolutionäre Staatsgaranten

Die Salafisten in Ägypten stehen in unverbrüchlicher Nibelungentreue zum Militärapparat. Zwar hat der Salafismus seinen Ursprung in Ägypten, avancierte aber in den 70er Jahren zum größten Exportschlager Saudi-Arabiens hinter Erdöl und miserablen Shishas, die landläufig für Wasserpfeifen gehalten werden. In Saudi-Arabien hat man viele Salafisten (u.a. Ibn Baaz, Al Albani) integriert, damit sie den Staat mit Legitimität versorgen. Allerdings verzichteten sie dafür auf jegliches politisches Programm und beschränkten sich auf Hagiographien auf die herrschende Saudi-Kleptokratie und Todesdrohungen gegen Ketzer und Staatsfeinde. Diese Funktion nehmen sie auch in Ägypten wahr. Hossam Tammam hat bzgl. ihrer Inaktivität zum Aufstand im Januar es wie folgt beschrieben:

Die Stellung der Salafisten zur ägyptischen Revolution ist keine Überraschung, besonders nicht, da sie eine Geschichte der Unterstützung des Regimes haben. Die berühmte salafistische Fatwa den prominenten Reformer Mohammed El Baradei zu töten, beweist es. Derselbe Scheich hatte eine Fatwa erlassen, die in den Präsidentschaftswahlen von 2005 Kandidaturen gegen Präsident Mubarak verbaten mit der Begründung, dass Mubarak der „Führer der Gläubigen“ (= Kalif, Anm. Daeva) ist. (Hossam Tammam: Islamisten und die ägyptische Revolution)

Zudem traten sie nach der Abdankung Mubaraks als Teil eines schwelenden Bürgerkriegs auf. Zahlreiche Angriffe auf Minderheiten, v.a. Kopten, sollten ein Klima des Chaos und der Unsicherheit erzeugen, wodurch sich das Militär als Garant der Stabilität produzieren konnte.

Für die Moslembrüder gibt es nur zwei Ziele, Mubarak muss weg und die Institutionen müssen demokratisiert werden – d.h. sie müssen Zugang zu ihnen haben. Solange in Ägypten ein Militärregime herrscht(e), konnte man dies als demokratische Forderung verstehen. Wie jede konservative Partei, geht es ihnen aber nicht um Demokratie, sondern darum selber die staatliche Autorität auszuüben. Das Verständnis von Autorität zielt darauf, dass sich alle anderen unterordnen müssen und noch nicht einmal Einwände erheben dürfen.6 Das großartige Vorbild liefert die AKP in der Türkei. Zunächst ist sie als Agentin der Menschenrechte und der Demokratie angetreten, hat sich aber mittlerweile komplett ins System integriert und übt nun die Rolle der Konservativen aus. Sogar vor Wahlfälschungen wie im Osten der Türkei scheut man nicht zurück. Eine Demokratisierung sieht anders aus.

Die Moslembrüder halten sich deswegen mit einschneidenden Vorwürfen und Forderungen an die Militärregierung zurück und beharren lediglich auf einer Demokratisierung. Am Aufstand haben sie nicht teilgenommen und den andauernden Protesten versagen sie die Solidarität. Die bislang gemeinsamen Demonstrationen, z.B. für einen baldigen Wahltermin im Juli oder gegen sektiererische Gewalt, gingen nicht über Minimalziele hinaus und wurden immer von den Islamisten unterlaufen. Die große Protestkundgebung vom 29. Juli trug dementsprechend den Titel “Freitag der Bigotterie“:

Sprechchöre wie “Wir sind alle Osama” – gemeint ist tatsächlich der Terrorist – und Aufrufe zur Implementierung der islamistischen Version der Sharia wurden angestimmt. Gewisse islamistische Gruppen, bei weitem nicht alle, haben angefangen ihre klassischen Feindbilder einzuschüchtern, nämlich Frauen, Liberale und Linke. Die Versuche verschiedener junger Mitglieder der Muslimbrüder zu schlichten und Islamisten zu beruhigen scheiterten. Schließlich haben am Nachmittag die säkularen Gruppen den Platz verlassen. In einer Pressekonferenz zeigten sie sich sichtlich erschüttert und konsterniert. (Zitat und weitere Informationen hier)

Gegen die Kopten zogen vor allem, aber nicht nur, die Salafisten zu Felde und griffen Kirchen und Personen an. Bei den Solidaritätskundgebungen nahmen zwar auch Moslembrüder und andere Islamisten teil, aber nur unter dem Arbeitstitel “gegen sektiererische Gewalt”. Dass die Gewalt von den Salafisten ausgeht, dass sie bereits früher von ihnen ausging und dies womöglich Teil einer Befriedungsstrategie ist, verschwand hinter dieser Bezeichnung. Stattdessen stellt sie eine Äquidistanz her, die von Gewalt auf beiden Seiten ausgeht, die Motive und Akteure ausblendet – quasi eine islamistische Extremismustheorie. Versöhnlich zeigt man sich dagegen mit der Militärregierung. Diese mache eine gute Arbeit und stellt den Garanten für die Ordnung. Folgerichtig verkündete die Militärregierung, dass die Moslembrüder ein toller Haufen und “keine Gefahr” seien. Wenn eine Militärregierung einer Organisation bescheinigt, keine Gefahr zu sein, so spricht das für sich. Einerseits könnte diese Einschätzung Ausdruck der  Schwäche einer Organisation sein, nämlich dass sie viel zu klein und unbedeutend wäre um eine reale Gefahr darzustellen. Das trifft aber auf die Moslembrüder nicht zu. Andererseits könnte es sich aber auch um eine gewisse Kooperationsbereitschaft handeln. Diese Kooperation zeigte sich in den Reaktionen der Moslembrüder auf die Gewalt des Militärs, als diese Demonstrationen zusammenschossen:

  • Militär und Staatsfernsehen kommentierten die Menschenrechtsverletzungen wie folgt:

Am nächsten brachte die Militärregierung (kurz SCAF, Supreme Council of Armed Forces) ihr Entsetzen darüber zum Ausdruck, allerdings über eine Handvoll toter und verletzter Soldaten sowie die schrecklichen Ausschreitungen. Das Staatsfernsehen zeigte sich ebenfalls erschüttert und erzählte den Unsinn, den auch hiesige Medien bei Demonstrationen erzählen: die Demonstranten waren nicht friedlich, haben mit Gewalt angefangen, plündern Geschäfte und zünden Autos an.

  • Sowohl an den Menschenrechtsverletzungen wie der Öffentlichkeitsarbeit regte sich Kritik. Die Moslembrüder brachten sich auch ein, aber nur, indem sie auf die Kritik reagierten. Diese Reaktion gliederte sich in zwei Punkte: (1) Bei den Tätern handelte es sich um Regimekräfte, die sich in die Menge geschlichen hatten und das Militär angegriffen hätten. (2) Daher musste das Militär annehmen, dass es von der Demonstration angegriffen wurde und schoss sie deshalb zusammen.7 Deshalb kann man das Militär für diesen allzu menschlichen Fehler nicht verurteilen.

Den nächsten Schritt der Kooperation vollzogen Militär und Islamisten in der Wahl. Nicht nur ich gehe von Wahlbetrug aus, sondern auch verschiedene andere Personen, z.B. der Blogger Sandmonkey. Im Moment führen die Hizb al Hurriya wal Adala, die Partei der Führung der Moslembrüder, und salafistische Hizb an Nour die Wahlen an.

Zur gleichen Zeit finden immer noch Demonstrationen in der Innenstadt Kairos statt, insb. um den Tahrirplatz und vor dem Parlamentsgebäude. Die Moslembrüder halten sich auch schön aus diesem Konflikt heraus und verkürzen den Konflikt auf gewaltbereite Demonstranten, die durchsetzt sind von Feinden der Revolution und dem aktuellen Innenministerium. Zugleich fordern sie das Militär zum Eingreifen auf:

Die anhaltende Gewalt in den Straßen um die ägyptische Staatskanzlei, die Kasr al Aini-Straße und die umgebenden Straßen werfen dunkle Schatten auf die Situation in Ägypten. Dringend Maßnahmen sind erforderlich um diese Auseinandersetzungen zu stoppen. Alle Parteien, Behörden und Stakeholder müssen ihrer nationalen Verantwortung gerecht werden um diesem Blutvergießen und dem Chaos, das das zivilisierte Bild der ägyptischen Revolution besudelt, Einhalt zu gebieten. (…)

Ferner ruft die Hizb al Hurriya wal Adala das Militär an seine nationalen Aufgabe auszüben um diese Auseinandersetzungen zu stoppen und alle Verantwortlichen für diese blutige Eskalation sofort zur Rechenschaft zu ziehen um seinen eigenen Status im Herzen des ägyptischen Volkes aufrecht zu erhalten. (Ikhwanweb vom 19.12.2011)

Bei diesen Feinden der Revolution handelt es sich natürlich um die Personen, die gegen die Wünsche der Führung der Moslembrüder und ihrer Partei Hizb al Hurriya wal Adala verstoßen. Revolution ist, wie obenstehend gesagt, die Abdankung Mubaraks und ihre feste Position in der Regierung.

Folglich haben mehrere Angehörige der Moslembrüder die “falschen” Revolutionäre angezeigt.

Seit Wochen attackieren Internet- und Facebookseiten, die von der Muslimbruderschaft entweder offiziell oder durch einzelne Mitglieder betrieben werden, Anarchisten und revolutionäre Sozialisten in Ägypten, um sie als Anstifter von Gewalt und Propagandisten der Zerstörung des Staates zu isolieren. Heute hat ein Mitglied der Muslimbruderschaft Klage gegen drei Sozialisten eingereicht; einer von ihnen ist Genosse Yaser Abdel Kawy, ein bekannter Anarchist und Mitglied der Ägyptischen Bewegung Libertärer Sozialisten. (Quelle: Kosmoprolet)

Einige Tage darauf haben sich die Moslembrüder offiziell von der Anzeige distanziert und sie als individuelles Vorgehen bezeichnet. Diese Haltung ist typisch für die Moslembrüder. Die Gerichtsurteile gegen Mohammed Arkoun oder Nasr Hamid Abou Zaid wurden ebenfalls als individuelle Vorgehen und nicht als Ausdruck der Bruderschaft erklärt. Auch bei der Ermorderung Faraj Fodas und der posthumen Todesfatwa durch Mohammed Al Ghazali (nicht der Philosoph) wurde so verfahren. Auch in diesem Fall ist diese Verschleierung nicht sonderlich effektiv, denn die Moslembrüder selbst haben diese Anzeige öffentlich gemacht.

Quellen:

Schulze, R. (2003). Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. München. C.H. Beck.

  1. Einen grundsätzlichen Text zu den Perspektiven des Aufstandes findet sich hier.
  2. In den 90er Jahren haben die zentristischen Kräfte der Moslembrüder die Hizb al Wasat (Zentrumspartei) gegründet.
  3. Zur selben Zeit wurden diese ach so erfolgreiche Programm in Chile, Argentinien und Pakistan implementiert und von den Chicago-Boys freudig begleitet. Nicht ganz zufällig waren alle vier Staaten Militärdiktaturen.
  4. Im 19. Jahrhundert gab es alleine mehrere hundert Aufstände, die sich z.B. im Nildelta Jahrzehnte hinzogen.
  5. Da die Hauptforderung um den Begriff chobz (=Brot) kursierte, nennt man sie Brotunruhen.
  6. Eine Modernisierung dieses Verständnis gibt es durch Anhörungen der Öffentlichkeit, die aber in der Regel nichts bringen, außer dem Prozess den Anschein von Demokratie zu geben. Denn grundsätzlich wird dabei nur über eine Maßnahme entschieden, aber nicht über Alternativen oder gar die gesamte Planung diskutiert. Ein schönes Beispiel aus der BRD sind die Anhörungen im Rahmen von Infrastrukturprojekten wie dem Atomschutzbunker in Stuttgart. Grundsätzlich sind diese öffentlichen Anhörungen weder öffentlich noch demokratisch. Denn die Ämter, in der Regel die Regierungspräsidien laden die Verbände und “betroffene” Personen. All die geladenen Personen können aber nicht über den Landesentwicklungsplan oder den Regionalplan entscheiden, sondern nur über diese einzelne Maßnahme. Alternativen zum Regionalverkehr (z.B. Ring-S-Bahn) oder Fernverkehr oder eine bessere Verwendung der Mittel (Ausbau der Güterzugmagistrale Basel-Nordseehäfen, Lärmsanierung im Rheintal) stehen nicht zur Diskussion. Somit bleibt die Autorität staatlicher Planung konserviert.
  7. Es wurden u.a. Heckenschützen eingesetzt.

Samstag, 31. Dezember 2011

Und ein toffes neues Jahr;-)

Gibt´s hier wieder etwas zum Thema Ouri Yalloh: Kein Geringerer als Mumia Abu Jamal sagt ein paar eindeutige Sachen zu dem Thema. http://video.google.com/videoplay?docid=-8238640172468957863 - Mumia Abu Jamal: http://www.youtube.com/watch?v=Rj01-uuA008 http://www.youtube.com/watch?v=qXKur2FAN7g Und ansonsten kommt zur Demonstration in Dessau 7. Todestag Oury Jallohs 07.01.2012 Start: 13 Uhr, Dessau Hauptbahnhof

Das ist bei uns eine Halbhalb-Mischung aus Herings- und Fleischsalat, in den eine große Fleischwurst reingemischt wird, kleingeschnippelte Gurkensticks, Majonnaise, Joghurt, Sahne. Muss dann etwa 36 Stunden in der Fensterbank ziehen. Dazu gibt´s Würstchen, Lachs und Langstinhos.

Nach durchzechten Nächten pflege ich mir so zu helfen: Erst ein heißes Bad, dann heiße und kalte Wechselduschen, systematisch von den Beinen bis zum Kopf vorarbeitend, zum Frühstück viel Zitrus, z.B. mehrere frisch ausgepresste Grapefruits und Sweeties trinken, dazu eine Chili- oder Jalapeno-Schote kauen, und dann wird gejoggt, Sauerstoff in die Lungen gerammt. Perfekt!

So tief, dass die Nachbarin ihren Staubsaugerbeutel im Morgenmantel zur Mülltonne bringt. Unglaublich.

So tief, dass die Nachbarin ihren Staubsaugerbeutel im Morgenmantel zur Mülltonne bringt. Unglaublich.

Am ersten Weihnachtstag bildete sich eine mehrere hundert Meter lange Menschenschlange entlang der Rákóczi út bis zum Blaha Lujza tér in der Budapester Innenstadt. Der Auflauf war die wohl eindrücklichste Demonstration der Zustände in Ungarn, die Leute standen nach einer warmen Mahlzeit an, ausgegeben vor der katholischen Szent Rókus Kapelle von einer „Sekte“, der Hare Krishna Gemeinschaft …

Seit Dezember ist zudem ein Gesetz in Kraft, dass Obdachlosigkeit unter Strafe stellt …

pester lloyd

nebenbei:

Das ungarische Parlament hat am Freitag die oppositionelle Sozialistische Partei (MSZP) zur Rechtsnachfolgerin der einstigen kommunistischen Partei erklärt. Als solche teile sie sich mit der einstigen Staatspartei „in jeder Hinsicht die Verantwortung“ für die Verbrechen des Kommunismus, heißt es in einem Verfassungszusatz, der mit den Stimmen der rechtskonservativen Regierungsmehrheit gebilligt wurde.

 


"People demand freedom of speech as a compensation for the freedom of thought which they seldom use." (Sören Kierkegaard)

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