Der Ruf"... Eines Mannes sanfte Stimme brach die Stille, rief ihren Namen. "Julia", sagte er. Sie schaute über ihre Schulter um zu sehen, ob jemand die Kapelle betreten hätte, obwohl die Stimme nicht von hinten gekommen war. Sie war immer noch alleine. Die sanfte Stimme wiederholte beharrlich "Julia". Es klang sehr nahe. Sie hielt still. Die Dunkelheit teilte sich langsam vor ihren Augen und eine strahlende Lichtsäule formte sich zur Gestalt eines Mannes, entkleidet, verwundet. Er sagte "Julia, ich bin ganz alleine. Komm mit mir in die Wüste. Ich werde Dich niemals verlassen!" Julia fühlte keine Angst. Sie wusste, wer dieser Mann war. Als sie ihm in die Augen schaute, sah sie Liebe, eine Liebe, größer als alles, was ihr bislang in ihrem Leben an Liebe begegnet war. Wortlos gab sie ihm ihre Einwilligung. Dann hüllte sie wieder die Dunkelheit und Stille der Kapelle ein, und sie weinte vor Freude. ..."Im kleinen Laden oben in der Eremitage von
Camaldoli stieß ich auf ein Buch, geschrieben von Thomas Matus, einem Mönch aus dem Orden der
Kamaldulenser der Kongregation von Camaldoli:
Nazarena, an American Anchoress. Aus diesem Buch übersetzte ich die kurze Passage oben. Es ist ein Bericht über die Berufungsvision einer begabten jungen Musikerin, Julia Crotta mit Namen; die wohl einzige Vision die sie in ihrem Leben hatte. Es war aber für sie diese eine Vision Anlass genug ein Leben zu wählen, das vermutlich von nahezu allen Zeitgenossen (davon nehme ich auch - oder besonders - Katholiken nicht aus) zumindest mit Kopfschütteln quittiert würde, häufiger wohl noch verbunden mit der Vermutung, die Frau wäre in ihrem Oberstübchen nicht ganz richtig gewesen. Intellektuelle (und was sich intellektuell dünkt) würden dies vielleicht noch mit dem aus dem Fundus ihrer Fremdwörter hervorgekramten Begriff Masochismus auffetten, von pathologischen Zügen sprechen, einer kranken Psyche.
Julia Crotta nahm nämlich ihre Vision ernst, ebenso ihr Wort der Zustimmung, das sie dem Mann, Jesus, gegeben hatte. Gegen allerlei Widerstände fand sie am Ende den Ort ihre Berufung, die Wüste, in der sie fortan mit Jesus lebte: eine Zelle im Kamaldulenserinnen-
kloster »Antonius des Großen« in Rom, wo sie geschieden von allen anderen Schwestern in strenger Isolation lebte. Nach ihrem Verständnis war sie damit Jesus in die Wüste gefolgt. Und dort blieb sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1990, 45 Jahre lang. Der zu der sterbenden Eremitin gerufene Arzt entdeckte auf dem Hals und im Brustbereich blaue und braune Flecken, hervorgerufen durch das Tragen eines
Ciliciums, gewoben aus Ziegenhaar, in das kleine Eisenspitzen eingearbeitet worden waren. Auf der Brust trug sie ein kleines Holzkreuz mit Nägeln, dessen Spitzen sich in die Haut der Frau bohrten. Werkzeuge der Buße und Abtötung.
Daran hatte auch der Autor, der Mönch Thomas Matus, schwer zu kauen. Er erklärte sich (und uns, den Lesern) dies so, dass es damit Julia - Schwester Maria Nazarena von Jesus - nicht um die Abtötung des Leibes, sondern um ein Mittel zur Konzentration des Geistes, der Förderung eremitscher Spiritualität, gegangen war. Nochmals: nahezu alle Zeigenossen hielten diese Frau wohl für verrückt, krank, einen Fall für den Psychiater.
In den vergangenen Tagen war ich öfter oben im franziskanischen
Santuario della Verna, jenem Ort, wo - wie ich schon schrieb - Christus dem Heiligen Franziskus seine Wundmale in den Leib schlug. In der Basilika des Heiligtums werden einige Gegenstände ausgestellt, die auf den Heiligen zurückgehen, darunter auch, wie es auf einer kleinen Tafel heisst, ein Bußinstrument, das er zur Züchtigung seines Fleisches, des »Bruders Esel«, wie er seinen Leib nannte, benutzte. Franziskus, bei uns so oft und so gerne zum heiteren Naturfreund, Aussteiger und Vorläufer der Ökologiebewegung verklärt, es hat wohl nicht viele Heilige gegeben, die ein derart hartes Leben der Buße führten. Mitunter war Franziskus von seinen Bußübungen derart geschwächt, dass er von La Verna für einige Tage zur
Erholung zur etwa 30 Kilometer entfernt gelegenen Eremo von Camaldoli ging, das Leben der Eremiten für einige Tage zur
Erholung teilend. Und dennoch war dieser grimmige Büßer zugleich einer der heitersten Menschen der Kirchengeschichte, tanzte und sang für Jesus, strich mit einem Holzstock über einen anderen Holzstock, Jesus ein Lied aufspielend, das ausser ihm und dem Heiland kein anderer vernahm.
Ich sage nicht, dass ich Julia Crotta - Schwester Nazarena - und Franz von Assisi, ihren Drang zur Buße und Abtötung, nachvollziehen kann. Wie Fremdlinge, rauhe Brocken aus Urgestein, liegen sie störend in den bürgerlichen Vorgärten unseres eigenen Glaubens. Aber zu verurteilen was ich nicht verstehe, oder es mit einigen Vokabeln wie »Masochismus«, »ungesund« oder »krank« auszuradieren, das verweigere ich.