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(de) Die BroschÃre soll einen Ãberblick Ãber die Theorie und Praxis des Especifismo bieten. Juanita Martinez und Andrej Mayer (Hg.) II. (2/2)

Date Mon, 15 Aug 2011 17:21:49 +0300


â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo
Organizado (Ein Prozess im Aufbau)
Quelle:
Ãbersetzung:
AutorIn :
Portugiesisch / Die leicht ausfÃhrlichere englische
Ãbersetzung ist zu finden auf
http://www.scribd.com/doc/
16218050/EspecifismoReaderSept2008
LibertÃre Aktion Winterthur
FÃrum do Anarquismo Organizado - FAO
Was ist die FAO?
Das FÃrum do Anarquismo Organizado (Forum des organisierten Anarchismus) ist ein
Diskussions- und Entwicklungsforum fÃr anarchistische Organisationen, Gruppen und
Einzelpersonen, die auf einer organisierten Basis gesellschaftlich arbeiten oder
arbeiten wollen.
Das erste Forum wurde in BelÃm do Parà 2002 durchgefÃhrt, dann im Januar 2003 in
Form von Plenarsitzungen in Porto Alegre, und in SÃo Paulo im November 2003 als
nationales Treffen. Darauf folgte ein Treffen im Januar 2005 in Porto Alegre und das
dritte nationale Treffen im Juli 2005 in GoiÃnia.
Das Hauptziel der FAO ist, die Vorbedingungen fÃr eine tatsÃchliche anarchistische
Organisation in Brasilien zu schaffen. Wir wissen, dass dies ein Ziel ist, das nicht sofort
erreicht werden kann, doch sollte bereits jetzt darauf hingearbeitet werden.
Die FAO hat sich den folgenden Punkten verschrieben:
1. Aus der Notwendigkeit, eine anarchistische Organisation zu grÃnden,
Diskussionen Ãber organisierten Anarchismus anzuregen und zu fÃhren.
2. Die GrÃndung anarchistischer Gruppen zu fÃrdern.
â 25 â
â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
_______________________________________
3. Zu schauen, dass diese Gruppen sich nÃherkommen, miteinander kooperieren
und
schliesslich
sich
auf
bundesstaatlicher
oder
regionaler
Ebene
zusammenschliessen.
4. So gut wie mÃglich in verschiedenen Bereichen der revolutionÃren
anarchistischen Agitation aktiv zu sein: Propaganda, theoretische Entwicklung
und, am wichtigsten, Partizipation in den verschiedenen KÃmpfen (im Quartier,
unter Obdachlosen und StudentInnen, in Gewerkschaften, im Bereich der
sozialen Ãkologie, im Widerstand gegen die amerikanische Freihandelszone etc.)
5. Auf die Schaffung einer brasilianischen anarchistischen Organisation mit einem
gemeinsamen Programm, einer tatsÃchlichen PrÃsenz in den gesellschaftlichen
KÃmpfen und der grÃsstmÃglichen landesweiten Sichtbarkeit hinzuarbeiten.
6. Schwesterliche, stabile Beziehungen zu anarchistischen Organisationen
aufzubauen, insbesondere zu solchen in Lateinamerika, wo die Situation mit
unserer vergleichbar ist.
KÃmpfen, um sich zu organisieren
âWir wiederholen nochmals: Ohne Organisation, ob frei oder aufgezwungen, kann eine
Gesellschaft nicht existieren; ohne eine bewusste, gewÃnschte Organisation, kann
keine Freiheit noch eine Garantie dafÃr bestehen, dass die Interessen von denen, die
in der Gesellschaft leben, respektiert werden. Und diejenigen, die nicht organisiert
sind, die keine gleichberechtigte und solidarische Kooperation mit anderen suchen,
weisen sich selbst einen untergeordneten Platz zu, und in der Gesellschaft bleibt eine
unbewusste Tendenz, das andere auf ihrem Weg gehen und in ihrem Sinne arbeiten.â
(Errico Malatesta, 1897)
Die Frage der Organisation ist ein altes Thema im anarchistischen Milieu. Es ist Ãber
100 Jahre her, seit Malatesta sie angesprochen hat. Wie einfach uns dieses Thema
â 26 â
â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
_______________________________________
auch erscheinen mag, es besteht dennoch eine Menge Verwirrung darum, und noch
immer gibt es viele Leute, die ernsthaft denken, dass Anarchismus gegen jede Form
der Organisation (die stets zur BÃrokratie, zum Autoritarismus etc. verkomme) sei.
Letzten Endes laden die konkreten Organisationsmodelle, die die Leute gesehen haben
(wie autoritÃre, zentralisierte und parlamentarische Parteien), nicht dazu ein, darÃber
nachzudenken.
Aber es ist notwendig, mit dieser Vorstellung zu brechen, und zu bedenken, dass diese
nur âeineâ Form von Organisationen gewesen ist, und nicht âdieâ Form. Der
Anarchismus hatte immer andere Organisationsformen: horizontale, partizipative,
fÃderale. Denken wir nur an Bakunin, Malatesta, Machno, die FederaciÃn Anarquista
IbÃrica, die FederaciÃn Anarquista Uruguaya, an die AnarchosyndikalistInnen etc. Jetzt
ist die Zeit gekommen, wo wir uns organisieren mÃssen, um die Angst vor einem
mÃglichen BÃrokratismus zu Ãberwinden.
Heute Ãber Organisation zu diskutieren, ist nicht nur eine Wiederaneignung
anarchistischer Geschichte, sondern vor allem ein tatsÃchliches BedÃrfnis. Wir kÃnnen
nicht vereinzelt bleiben angesichts eines ausgeprÃgten, gut informierten Systems mit
riesigen operativen FÃhigkeiten. âIsoliert zu bleiben, nach seinem/ihrem eigenen
Gusto zu handeln oder handeln zu wollen, ohne sich gegenseitig zu verstehen, ohne
uns gemeinsam vorzubereiten, ohne die schwachen KrÃfte des/der Isolierten zu
sammeln, heisst, uns selbst zur SchwÃche zu verdammen, unsere Energie an kleinen,
ineffektiven Taten zu verschwenden, schnell das Vertrauen in unsere Ziele zu verlieren
und unsere EntkrÃftung zu vollenden.â (Malatesta, 1897)
Abgesehen davon vervielfacht die Organisation unsere KrÃfte, erlaubt uns,
Vorkehrungen zu treffen und uns selbst gegen die zunehmende Repression zu
verteidigen, und realisiert die SolidaritÃt, von der wir schon so oft geschrieben und
gesprochen
haben.
Wir
wissen,
dass
gewisse
AnarchistInnen,
meist
IndividualanarchistInnen, gegen die Idee der Organisation sind. Sie sind nicht mehr
oder weniger AnarchistInnen als wir, nur AnarchistInnen eines anderen Typs, mit einer
anderen Konzeption. Lasst sie ihren Weg gehen. Wir werden, mit jedem Recht,
unserem folgen â weil wir glauben, dass, um dem kapitalistischen System
entgegentreten zu kÃnnen, die Organisation notwendig ist.
Eine organisierte anarchistische Gruppe aufbauen
In ganz Brasilien gibt es Hunderte oder vielleicht Tausende Menschen, die sich als
AnarchistInnen bezeichnen, oder die Sympathien mit anarchistischem Gedankengut
haben. Sie bilden eine mÃchtige Kraft, die aber oftmals wegen ihrem Verzettelt-Sein
nicht effektiv ist. Wir kÃnnen keine anarchistische Organisation aus dem Hut zaubern:
zu Beginn ist es notwendig, dass organisierte anarchistische Gruppen (OAG) mit einem
bestimmten Mass an gemeinsamer Koordination existieren.
Die OAG ist der Samen fÃr die anarchistische Organisation. Die FAO ist gewillt,
anarchistische Einzelpersonen zu unterstÃtzen, denen angesichts der herrschenden
Ungerechtigkeit das Blut kocht und die es leid sind, fast oder gar nichts zu tun, oder
die in gesellschaftlicher Isolation leben. Wir schlagen einen Weg vor, wie
Einzelpersonen eine OAG aufbauen kÃnnen:
â 27 â
â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
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1. Die Anzahl der AktivistInnen: Suche dir bekannte Personen, welche Interesse
an diesem Projekt haben kÃnnten. Lade zu einem Treffen ein, um auf Grundlage
von LektÃre Ãber die GrÃndung einer Gruppe zu diskutieren. Je mehr Leute
kommen, desto besser, aber es ist nicht notwendig, auf eine ganze Gruppe zu
warten â drei Leute sind genug, um anzufangen und zu versuchen, mehr
Personen ins Boot zu holen.
2. IdentitÃt der OAG: Schon im Aufbau kann die OAG einen Namen, eine Flagge
und Symbole haben, damit sie fÃr andere Leute erkennbar ist,
3. Aufteilung der grundlegenden Aufgaben: Die Routine-Aufgaben der Gruppe
soll unter den Mitgliedern aufgeteilt werden. So wird verhindert, dass einige
Personen mit Arbeit Ãberladen werden, wÃhrend andere fast nichts beitragen.
Zudem bleibt die Gruppe âhorizontalerâ. Hier sind einige VorschlÃge, wie die
Aufgaben in einer Gruppe von mindestens fÃnf Personen aufgeteilt werden
kÃnnen (kleinere Gruppen mÃssen je nach KapazitÃt eine andere Aufteilung
vornehmen):
a)Organisation: Der/die Genosse/in mit dieser Aufgabe ist zustÃndig fÃr das
Abfassen und Verteilen der Sitzungsprotokolle, die FÃhrung des Kalenders,
die Einberufung von Sitzungen und die Organisation des gruppeninternen
Materials,
b)Propaganda: Der/die dafÃr zustÃndige Genosse/in ist verantwortlich fÃr das
Vorschlagen und Abfassen von CommuniquÃs und Propagandamaterialien
(bspw. Bulletin, Website und FlugblÃtter),
c) Finanzen: Der/die damit betraute Genosse/in ist fÃr die Kasse, das Einziehen
der MitgliederbeitrÃge, das Fundraising etc. zustÃndig.
d)Vernetzung: Der/die Genosse/in mit dieser Aufgabe kÃmmert sich um die
Korrespondenz, das Postfach, den E-Mail-Account, die Vernetzung mit
anderen anarchistischen und linken Gruppen oder sozialen Bewegungen.
e) Politische Schulung: Der/die dafÃr zustÃndige Genosse/in ist mit der internen
Schulung betraut, indem er/sie dafÃr nÃtzliche LektÃre aussucht und
beschafft und Kurse vorbereitet.
Diese Aufgabenteilung muss nicht strikt eingehalten werden. Der/die mit der
Propaganda beschÃftigte Genosse/in bspw. kÃmmert sich um die Koordination
des Bulletins der Gruppe, was aber die Ãbrigen Mitglieder nicht davon abhalten
sollte, eigene Ideen beizusteuern, Kommentare zu schreiben etc. Dasselbe gilt
natÃrlich auch fÃr die anderen Aufgabenbereiche.
4. Treffen: Es ist Ãusserst wichtig, dass regelmÃssig Treffen abgehalten werden,
denn sie sind die einzige MÃglichkeit, wo die Mitglieder kollektiv diskutieren und
die nÃchsten Schritte planen kÃnnen. Sie kÃnnen wÃchentlich oder
zweiwÃchentlich stattfinden, vorzugsweise an einem fixen, ruhigen Ort, wo die
Gruppe nicht gestÃrt wird.
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â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
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5. Kommunikation: FÃr die Kommunikation sollte ein Postfach und eine E-Mail-
Adresse erÃffnet werden. Ebenso wichtig ist die Publikation eines Bulletins, auch
wenn es sich dabei nur um ein bescheidenes zweiseitiges, fotokopiertes Blatt
handelt. Auch das ist ein guter Start und macht die Gruppe bekannter. Ebenso
wichtig ist die Ausarbeitung der GrundsÃtze der Gruppe.
6. Entscheidungsfindung: Der Konsens sollte immer gesucht werden, wobei alle
in einer egalitÃren Weise an der Debatte teilnehmen. Wenn kein Konsens
gefunden werden kann und Ãber das Thema entschieden werden muss, wird
darÃber abgestimmt, wobei die ganze Gruppe den Ausgang akzeptiert. Die
Position der Minderheit sollte aber im Protokoll vermerkt werden, um zu einem
spÃteren Zeitpunkt darauf zurÃckkommen zu kÃnnen.
7. Grundlegende
Aufgaben
jedes
Mitglieds:
Eine
interne
Funktion
(Organisation, Finanzen, Propaganda, Vernetzung, politische Schulung); externe
politische AktivitÃt in einer sozialen Bewegung (s.u.); aktive Teilnahme an den
internen Treffen.
Von der Gruppe zur Organisation
Dieser grosse Schritt kann auf zwei Arten geschehen:
1. Durch das Wachstum der OAG
In Bundesstaaten und Regionen, wo keine andere anarchistischen Gruppen
existieren oder nur solche libertÃre Gruppen vorhanden sind, die der
Organisation und der gesellschaftlichen EinfÃgung abgeneigt sind, besteht der
einzige Weg fÃr die auf das VorwÃrtsschreiten bedachte OAG darin, zu wachsen.
Die Reife einer OAG drÃckt sich durch verschiedene Faktoren aus: Durch
quantitatives Wachstum (ungefÃhr 20 Mitglieder); regelmÃssige Teilnahme der
Mitglieder,
AffinitÃt
und
gegenseitiges
Vertrauen;
Ausweitung
der
gesellschaftlichen AktivitÃten; die Verbesserung der politischen Schulung etc.
Wenn dies der Fall ist, kann die ganze OAG einen Schritt weitergehen, sich in
verschiedene Kerne mit einem gemeinsamen Delegiertenrat aufspalten und die
AktionssphÃre
erweitern.
Es ist sehr wichtig, dass der Wandel der OAG in eine Organisation einen
tatsÃchlichen qualitativen Sprung widerspiegelt, und nicht bloss das
Wunschdenken der Mitglieder. Eine Gruppe nur dem Namen nach zu sein,
mÃglicherweise mit einem Namen fÃr die Organisation oder die FÃderation, ist
bloss ein TÃuschungsmanÃver, ein Wunschtraum ohne RealitÃtsbezug und fast
sicher
der
LÃcherlichkeit
preisgegeben.
Der Schritt von der OAG zur Organisation ist ein Prozess, wobei die Gruppen als
autonom angesehen werden. Der Schritt impliziert einen qualitativen Wandel,
nicht einen in der Hierarchie.
2. Durch die Vereinigung verschiedener OAGs
In Bundesstaaten und Regionen, wo zwei oder mehr anarchistische Gruppen
existieren, sollte es mÃglich sein, Verbindungen zu Einzelpersonen oder zu
anderen anarchistischen Gruppen zu halten, die in der FAO organisiert sind. Wir
sprechen hier von benachbarten Regionen, die nicht notwendigerweise im selben
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â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
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Staat sein mÃssen, aber doch nahe beieinander (bspw. GoiÃs und der Distrito
Federal), oder von Gruppen, die sich in der NÃhe einer Bundesstaatsgrenze
befinden etc.
Diese Kontakte kÃnnen stÃrker oder schwÃcher sein. Einige mÃgen unser Projekt
kategorisch ablehnen, andere Interesse zeigen, doch in einigen Punkten Zweifel
hegen. Mit Letzteren sollte ein Dialog aufrechterhalten werden und wenn
mÃglich eine bundesstaatsweite oder regionale FAO mit Beziehungen zu diesen
Gruppen gegrÃndet und auf eine gemeinsame Agenda, Diskussionen und
schliesslich eine Vereinigung hingearbeitet werden.
Sich organisieren, um zu kÃmpfen
Gesellschaftliche EinfÃgung und Militanz
â(...) populÃre Organisationen jeder Art zu fÃrdern ist die logische Konsequenz aus
unseren grundlegenden Ideen und sollte deshalb ein integraler Bestandteil unseres
Programms sein.â (Malatesta, 1897)
Es stimmt, dass der Anarchismus aus einer Vielzahl von StrÃmungen besteht. Es
stimmt aber auch, dass nicht alle dazu geneigt sind, mit unserer Klasse, unseren
Leuten zusammenzuarbeiten.
Historisch gab es Momente sehr starker anarchistischer PrÃsenz, wie in der Ukraine
mit der Machnowschtschina in der Ukraine, in der Spanischen und der Mexikanischen
Revolution, im revolutionÃren Syndikalismus in ganz Lateinamerika, nicht zu reden von
all den anderen Erfahrungen. In allen FÃllen, die zumindest theoretisch wichtige
Referenzpunkte fÃr LibertÃre sind, gab es organisierte AnarchistInnen, die einen
Klassenstandpunkt vertraten und eine festgelegte gesellschaftliche Praxis hatten. Es
kann gesagt werden, dass es in jedem Fall, wo der Anarchismus eine starke PrÃsenz
hatte, es auch gesellschaftliche EinfÃgung und Militanz gab.
Wir leben in einer Zeit, wo die Armut immer schlimmer wird. Die Kluft zwischen den
Klassen ist sogar grÃsser als vor 100 Jahren. 85 Prozent der WeltbevÃlkerung ist arm
oder lebt in Armut. Alleine in Brasilien leben 40 Millionen Menschen unterhalb der
Armutsgrenze.
Die Erscheinungsformen dieser Armut sind brutal und offen sichtbar fÃr diejenigen, die
sie sehen wollen. Wir sind noch immer fÃhig, wÃtend zu werden, angesichts dieser
permanenten Attacken zu revoltieren; wir werden uns nicht damit begnÃgen, nur fÃr
uns selber zu schauen, weil wir angeblich die einzigen sind, die darunter zu leiden
haben.
Wir glauben, dass der Anarchismus Antworten auf diese Situation hat, dass der
Anarchismus sich innerhalb dieses Zustandes befindet und nicht ausserhalb steht.
AnarchistInnen haben eine Vielzahl von AktivitÃten betrieben. Wir unterhalten
Beziehungen untereinander, publizieren Bulletins, laden zu anarchistischen Treffen ein,
betreiben Websites, geben BÃcher heraus, erschaffen KanÃle fÃr alternative
Informationen etc.
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â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
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All das ist wichtig und notwendig. Aber haben wir auch eine andere Form der Militanz
im Auge behalten, die ebenso wichtig ist: Aktionen mit den sozialen Bewegungen, in
der Nachbarschaft, an den Schulen und UniversitÃten, am Arbeitsplatz etc.?
GlÃcklicherweise gibt es AnarchistInnen, die dies getan haben, allerdings viel zu
wenig, wenn wir ernsthaft darÃber nachdenken. Wir wollen aber mit dem Finger nicht
nur auf andere zeigen, sondern zÃhlen uns zu denjenigen, die ihre Arbeit in den
Gemeinschaften verbessern und ausbauen, uns also gesellschaftlich einfÃgen mÃssen.
Wir glauben, dass all diese AktivitÃten im Bereich der Kontakte, der Publikationen,
Treffen und BÃcher stark bereichert werden, wenn sie durch die AnarchistInnen mit
Arbeiten in den Gemeinschaften verlinkt wÃrden.
Es gibt viele anarchistische Gruppen und Organisationen, die Ãber viele Jahre versucht
haben, ihre soziale EinfÃgung auszuweiten, was ihnen eine Menge an Erfahrungen
einbrachte. Ob in der Obdachlosen- oder der StudentInnenbewegung, in der
Organisierung der armen Quartiere oder in den Gewerkschaften, ob im Widerstand
gegen die Amerikanische Freihandelszone, Anarchistinnen und Anarchisten waren und
â 31 â
â AbsichtserklÃrung des FÃrum do Anarquismo Organizado (Ein Prozess im Aufbau) â
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sind prÃsent. Dieser Umstand ermÃglicht es uns, dieses Thema intensiver zu
besprechen.
Aus diesem Grund glauben wir, dass es nun essentiell ist, dass wir darÃber
diskutieren, wie Anarchistinnen und Anarchisten innerhalb der Gemeinschaften aktiv
werden kÃnnen, welche Beziehungen zwischen uns und den sozialen Bewegungen
geschaffen werden kÃnnen, welche Arten von Aktionen mehr oder weniger interessant
wÃren etc. Wir sind der festen Ãberzeugung, dass wir Anarchistinnen und Anarchisten
die Revolution nicht alleine machen kÃnnen, und dass wir, wenn wir in den KÃmpfen
unserer Klasse nicht prÃsent sind, keine Chancen haben werden.
Sich in die Gemeinschaftsarbeit und gesellschaftliche Militanz
involvieren
Alle Mitglieder der OAGs sollten in den sozialen Bewegungen aktiv sein. Die bereits
erwÃhnten internen Aufgaben sind wichtig, aber sie sind nicht ausreichend und kÃnnen
nicht als Entschuldigung fÃr den/die Aktivisten/in dienen, gesellschaftlich nicht militant
zu sein. Es ist wichtig, dass wir verhindern, dass einige Mitglieder sich nur mit internen
oder ânetterenâ Angelegenheiten beschÃftigen, wÃhrend andere sich um die
gesellschaftliche Militanz kÃmmern. Eine solche Situation kann âinformelle
BÃrokratinnenâ und âBÃrokratenâ erschaffen.
Wesentlich ist, dass die Gruppe Ãber ihre KrÃfte nachdenkt, so dass die
gesellschaftliche Arbeit fruchtbar ist, aber dennoch nicht mehr Platz als Ãberhaupt
mÃglich ist, einnimmt. Erforderlich ist deshalb, PrioritÃten bei den Bereichen zu
setzen, wo wir aktiv sein kÃnnten. Wenn wir von âPrioritÃtenâ sprechen, meinen wir
damit nicht, dass ein Bereich fÃr die soziale Revolution wesentlicher ist, aber im
spezifischen Fall mehr transformierendes Potential hat.
Allerdings sollten wir bei stetigem Wachsen unserer Gruppe versuchen, uns in mehr
Bereiche zu involvieren. Die Idee ist, dass die OAG darÃber diskutiert, welche Art von
Arbeit verrichtet werden muss, und ÃberprÃft, welche unter BerÃcksichtigung der
Situation der Gruppe in der Nachbarschaft, Schule, UniversitÃt, Fabrik, im Squat etc.
am sinnvollsten ist. Es ist klug, mit der gesellschaftlichen EinfÃgung dort zu beginnen,
wo die Aktivistinnen und Aktivisten bereits involviert sind oder wo es einfach ist, sich
zu involvieren.
Einige Beispiele von gesellschaftlichen Bruchlinien und Bereichen, wo
wir arbeiten kÃnnen
Gesellschaftliche Bruchlinien sind die PlÃtze, wo unsere Militanz konkret wird.
Beispiele:
Die
StudentInnen-Bewegung,
die
Bewegung
der
Obdachlosen,
Gemeinschaftsradios, Assoziationen und Kampfkomitees in armen Quartieren etc.
In den Gemeinschaften kÃnnen wir in Bereichen wie dem Wohnen, der
Gesundheitsversorgung, Essen, Wasser, ElektrizitÃt, sanitÃre Einrichtungen, Transport,
soziale Ãkologie, Kommunikation, Kultur, Bildung, Menschenrechte, Rassismus,
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Gender-Fragen etc. arbeiten. Alles wird von den spezifischen BedÃrfnissen der
Gemeinschaft und von unserem politischen Projekt abhÃngen.
In dieser AbsichtserklÃrung der FAO haben wir uns darauf beschrÃnkt, unsere
gesellschaftliche EinfÃgung und Militanz in genereller Hinsicht zu erlÃutern, da es
selbst nur mit oberflÃchlichen Anmerkungen unmÃglich wÃre, wie die Arbeit in den
einzelnen Bereichen genau aussehen soll. Die Mitglieder der FAO haben zu diesen
Fragen eine Menge Material produziert, das die Erfahrungen wiedergibt und
Aktivistinnen und Aktivisten in ihrer Arbeit unterstÃtzen soll. Dieses und weitere
Informationen sind Ãber Mitglieder der FAO erhÃltlich.

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â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo

Quelle:
Ãbersetzung:
http://www.anarkismo.net/article/18658 â spanisch
LibertÃre Aktion Winterthur
Am 25. und 26. Januar 2011 fand im brasilianischen SÃo Paulo Anarchietage statt, zu
denen die FederaciÃn Anarquista Uruguaya (FAU) und das Foro del Anarquismo
Organizado de Brasil (FAO) eingeladen hatten.
Der Grund dieser Tage liegt im Bestreben, die Entwicklung des especifistischen
Anarchismus in Lateinamerika zu beschleunigen, indem der Austausch und die
Koordination zwischen den politischen anarchistischen Organisationen, die dieser
StrÃmung angehÃren, gefÃrdert wird. Die Debatte drehte sich um gemeinsame
Themen, zu denen wir gearbeitet haben und zu denen wir von jedem Ort, von den
Erfahrungen der AlltagskÃmpfe und der Ausbildung einer Theorie, die auf der Analyse
von Elementen - der Macht4 des Volkes5 und des libertÃren FÃderalismus - beruht,
welche wir fÃr die Erschaffung des freiheitlichen Sozialismus auf unserem Kontinent als
strategisch wichtig ansehen, Erkenntnisse beisteuern konnten.
Dies ist essentiell angesichts der Tatsache, dass wir heute als Teil des historischen
Prozesses ein Wachstum unserer Richtung innerhalb des Anarchismus und die
Etablierung von konkreten theoretischen und politischen Strukturen feststellen
kÃnnen. Diese Entwicklung muss in ein gemeinsames Rahmenwerk ÃberfÃhrt werden,
an dem unsere Organisationen aus allen Teilen Amerikas beteiligt sind.
4 Im spanischen Original "el poder", was ebenso "Macht" wie "Herrschaft" oder "Gewalt" bedeuten
kann. Da das Wort im Text zur Beschreibung eines sozialen VerhÃltnisses bezeichnet wird, lehnt sich
die Ãbersetzung die Foucaultsche Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft an (wobei
Herrschaft eine tendenziell dauerhafte Dominanzform bezeichnet, die von einer bestimmten
gesellschaftlichen Instanz, z.B. der Regierung, ausgeÃbt wird.
5 Im spanischen Original "el pueblo". Mangels einer besseren Alternative wird der im Deutschen
vorbelastete Begriff "Volk" verwendet, wobei zu beachten ist, dass (wie im Original) das Volk nicht
als "kulturelle" bzw. sozio-geographische, sondern als sozio-Ãkonomische EntitÃt ("einfaches Volk" im
Gegensatz zu den herrschenden Klassen) gesehen wird.
â 33 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
Die Macht des Volkes als ein strategisches Element
"Es gelingt niemals, die Hoffnungen und TrÃume der Menschen nach Emanzipation
auszulÃschen; gesellschaftliche Erfahrungen bringen laufend neue Konzepte von
Gerechtigkeit und Freiheit hervor, die nichts zu tun haben mit der perversen TÃtigkeit
eines Systems, welches diese Konzepte mit Raubgier und UnterdrÃckung verwechselt."
Auf diese Weise begann die Debatte Ãber die Ausbildung einer Strategie, welche ein
Bruch mit der Vergangenheit bedeutet und die KrÃfte der Revolution ausbilden wird.
Diese Debatte ist eng mit der Frage nach der Macht des Volkes verbunden. FÃr uns ist
diese Frage sehr weitreichend und beeinflusst unsere allgemeine Strategie stark. Sie
reicht von Analysen der momentanen Situation bis zu den Zielen, die wir erreichen
wollen, und dem strategischen Pfad, den wir nehmen mÃssen.
Weshalb sprechen wir Ãber Macht? FÃr uns ist Macht etwas, dass Ãber den Staat
hinausgeht. Macht fliesst durch die gesamte Gesellschaft, und ist so in den
verschiedenen SphÃren der Ãkonomie, Politik, Kultur (Ideologie) vorhanden. Macht
existiert in allen gesellschaftlichen VerhÃltnissen, die konflikttrÃchtig sind und die sich
mÃglicherweise zu einem UnterdrÃckungs- oder AusbeutungsverhÃltnis entwickeln
kÃnnen.
Von dieser weiten Auffassung von Macht ausgehend, kÃnnen wir sagen, dass Macht
nicht durch einen Angriff eingenommen werden kann, da sie in allen Venen der
Gesellschaft fliesst. In diesem Sinne sagen wir von unserem Standpunkt aus, dass es
a priori keine Dominanz einer SphÃre Ãber eine andere gibt. Wir glauben daher auch
nicht an ein System der Ãkonomischen Determination, im Sozialismus bekannt unter
den Namen Unter- und Ãberbau.
Macht umfasst deshalb Beziehungen und Auseinandersetzung, die quer durch die
Gesellschaft bestehen, und bildet die Grundlage fÃr das, was wir Politik nennen. In
diesem Sinne ist die heutige Gesellschaft das Resultat einer gewissen
Wechselbeziehung der KrÃfte, in der die einen die anderen dominieren und so den
Verlauf der Dinge bestimmen. Das Resultat dieses Systems besteht aus Macht, aber
auch aus Beherrschung, Ausbeutung und UnterdrÃckung.
Wir glauben, dass die unterdrÃckten Klassen ein Projekt der Macht erschaffen mÃssen.
Ein Projekt, welches den dominanten Klassen erfolgreich Paroli bieten und Widerstand
â 34 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
leisten kann, und das durch die alltÃglichen KÃmpfe verwaltet und weiter entwickelt
werden kann.
Diese Rede Ãber "proletarische" Mittel gibt diesem Projekt der Macht ein
klassenkÃmpferischer Charakter, doch wir mÃssen betonen, dass wir von einem
libertÃren Standpunkt Ãber Macht sprechen: Ein Projekt der UnterdrÃckten, das aus
Volksbewegungen hervorgeht und das mit entschiedenen, krÃftigen und klaren
Schritten die gesellschaftliche Kraft erwirbt, die Voraussetzung fÃr die langfristige
Auseinandersetzung ist, von deren Notwendigkeit wir vom ideologischen Standpunkt
aus Ãberzeugt sind.
FÃr uns ist Sozialismus eine Ideologie, und keine Wissenschaft. Sozialismus ging aus
dem ideologischen Ausdruck der kÃmpfenden gesellschaftlichen Volksbewegungen
hervor. Seit seinem ersten Moment beruhte er auf Bestrebungen, WÃnschen,
EmpÃrung, Rebellion, Leidenschaft, Liebe und anderen GefÃhle, die nicht
wissenschaftlich nachgewiesen werden kÃnnen. Aus diesem Grund kann Sozialismus
nur in Verbund mit diesen Elementen entstehen, die in Richtung der Erschaffung einer
transformierenden, in die gesellschaftlichen VerhÃltnisse intervenierende politischen
Praxis weisen. Und deshalb erfordert Ideologie Theorie und Praxis.
Wir verstehen Theorie als eine Werkzeugkiste, die uns erlaubt, die aktuelle Situation
und momentane Ereignisse zu interpretieren. Obwohl diese theoretischen BeitrÃge
prÃzis sein mÃssen, sollten wir versuchen, das Leben zu verstehen, und uns nicht mit
unseren ideologischen Gewissheiten zufrieden zu geben. Theorie muss flexibel sein
und uns befÃhigen, Elemente unserer politischen Praxis zu entwickeln. Praxis auf der
anderen Seite bereichert wiederum diese Theorie.
Klasse und revolutionÃres Subjekt
Unser militantes Klassenbewusstsein basiert auf verschiedenen Gruppen von
UnterdrÃckten, unabhÃngig davon, wo diese sein mÃgen. Wir glauben, dass dieses
Projekt der Klasse von den Leuten geschaffen werden muss. Mit Leuten meinen wir
diese unterdrÃckten Klassen, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Stadt und
auf dem Land umfassen, BeschÃftigte und UnbeschÃftigte, und all diejenigen, welche
auf Grund ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Ethnie oder sexuellen Orientierung durch
dieses Herrschaftssystem, das wir Kapitalismus nennen, UnterdrÃckung erleiden.
Das revolutionÃre Subjekt ist also weder a priori gegeben, noch ist es mÃglich, es
vorderhand zu erkennen. Wir glauben, dass das revolutionÃre Subjekt ein Resultat von
gesellschaftlichen
und
historischen
Prozessen
ist,
von
KÃmpfen
der
Massenbewegungen. Es kann nur im Kampf und von dem Prozess erschaffen werden,
in dem sich der Klassencharakter herausbildet.
Unser Konzept der "Macht des Volkes" impliziert grundsÃtzliche Annahmen Ãber die
Ziele, welche die Strategie, die ihrerseits die Taktiken vorgibt, formen. Unser Endziel
ist der libertÃre Sozialismus und unsere politische Praxis hat revolutionÃre Absichten.
Das Projekt der Macht des Volkes muss wÃhrend der Revolution notwendigerweise zur
Ãberwindung der Klassengesellschaft beitragen.
â 35 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
Um eine direkte Beteiligung der Basis der Massenbewegungen, um eine starke Masse
zu gewÃhrleisten, ist es wesentlich, dass wir einen Plan, ein Programm im Kopf haben,
welche durch diese Bewegung entwickelt und zum Ausdruck gebracht werden kann.
Ein zentraler Punkt dieses Programm soll es sein, diese Bewegungen vor einer
ideologischen Einengung zu bewahren. Es ist wichtig, sie einerseits durch praktische
SolidaritÃt (solidarische Aktionen oder Hilfe bei spezifischen Forderungen) zu
unterstÃtzen, so dass sie so stark und geeint wie mÃglich sind. Anderseits mÃssen wir
gleichzeitig fÃr die Klassenautonomie einstehen, so dass die Volksbewegungen nicht
durch politische Parteien, den Staat, Unternehmen oder andere Klassenfeinde (auch
solche, die zwar eine gewisse AffinitÃt fÃr den Klassenkampf zeigen, aber als
Avantgarde dieses Kampfes auftreten) unterworfen werden. Ebenso scheint es
essentiell
zu
sein,
dass
basisdemokratische
Entscheidungsfindungsprozesse
eingerichtet werden, die alle miteinbeziehen, und so eine autonome, kollektive
â 36 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
AtmosphÃre geschaffen werden kann. Die Mittel mÃssen mit den Zielen, fÃr die wir
eintreten, Ãbereinstimmen.
Die Geschichte zeigt, dass sich der Kapitalismus nicht von selbst aufheben wird. Wir
kÃnnen nicht hoffen, dass er "Selbstmord begeht". Wir glauben, dass die
unterdrÃckten Klassen nur mit Willen und emanzipatorischer Praxis fÃhig sind,
Widerstand zu leisten, zum Angriff Ãberzugehen und den libertÃren Sozialismus
aufzubauen. Der Kapitalismus trÃgt nicht den Samen des Sozialismus in sich. Dieser
kann, obwohl mit seinem Aufbau bereits in der kapitalistischen Gesellschaft begonnen
werden muss, nur durch den Prozess der revolutionÃren Bruchs mit dem Bestehenden
eingefÃhrt werden. Ein solcher Aufbauprozess muss inmitten der alltÃglichen KÃmpfe
geschehen, die die Kraft fÃr unser Projekt der Volksmacht erzeugen.
Es ist eine Frage der Konstruktion neuer historischer Subjekte, der FÃrderung unseres
Projektes in der Mitte des Kampfes und der Erschaffung eines starken Volkes.
Es ist dann eine Frage der Rekonstruktion eines gesellschaftlichen Gewebes, des
Gewebes der sozialen Beziehungen und ebenso einer anderen Kultur, das zusammen
mit den Ãkonomischen und politischen Elementen "neue" Menschen erschaffen wird,
die sich selbst, andere und ihre Situation erkennen kÃnnen. D.h. grundsÃtzlich, dass
sie fÃhig sind, Volksbewegungen aufzubauen und zu stÃrken, Entscheidungen zu
treffen, mit anderen zu teilen und durch Autonomie, und nicht durch AbhÃngigkeit sich
selbst wie auch anderen Leuten Kraft zu geben.
LibertÃrer FÃderalismus
FÃderalismus ist eine Organisationsform, ein Model bzw. ein Konzept, das ein
Bestandteil des gesamten sozialen und politischen Lebens des Anarchismus gewesen
ist. Er macht die Integration und Anwendung seiner KrÃfte fÃr den Kampf mit dem
Kapitalismus mÃglich, d.h. die Sammlung all derjenigen, die eine gemeinsame
Auffassung von Anarchismus haben. Ebenso lÃsst sich durch ihn eine Offensive gegen
den Kapitalismus vorstellen, planen und erschaffen, die uns die Gesellschaft bringen
wird, die wir wollen: Eine neue Zivilisation.
FÃderalismus darf aber aus diesem Grund nicht fÃr ein legitimes Model per se
verstanden werden. Er muss libertÃr sein. In diesem Sinne wird seine ideologische
Beschaffenheit
ein
entscheidendes
Element
fÃr
die
Entwicklung
seiner
transformierenden Macht sein.
Diese ideologische Beschaffenheit bestimmt Ãber die daraus hervorgehenden
Praktiken, die dem Autoritarismus und dem Avantgardismus fremd sind und einer dem
Zentralismus entgegengesetzten Diskussionskultur "von unten nach oben" darstellen.
Hierbei muss "oben" als eine Funktion verstanden werden, die der oder die Delegierte
des Basiskollektivs einnimmt, und die, kehrt die/der Delegierte ins Kollektiv zurÃck,
aufgehoben wird.
"Unten" meint nicht unterworfen, und es existiert auch keine vertikale Hierarchie. Im
Gegenteil arbeiten AnarchistInnen in einer zweckmÃssigen und dynamischen Art
zusammen, die in den verschiedenen Bereichen verwurzelt sind, in der die politische
â 37 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
Organisation aktiv ist. Diese spezifischen RÃume werden von innerhalb der KÃmpfe
des Volkes in Form von Kernen oder Graswurzelgruppen gebildet, um die RealitÃt
besser interpretieren zu kÃnnen, in einem globalen Organisationskonzept, das von den
politischen anarchistischen Organisationen hervorgeht.
Diese âGanzheitlichkeitâ muss breit und vielfÃltig sein, da sie sich wÃhrend KÃmpfen in
verschiedenen Arbeitsbereichen entwickelt. Es ist wichtig festzustellen, dass es
insgesamt keinen alleine selig machenden Kampf Ãber allen anderen gibt. Die
verschiedenen KÃmpfe mÃssen innerhalb der Organisation nebeneinander existieren.
Kommuniziere und lehre die politischen Praktiken der verschiedenen Kampflinien, die
sich aus verschiedenen kleineren, spezifischen Auseinandersetzungen ergeben.
Bereichere mit Hilfe dieser Praktiken die politische Analyse der gegenwÃrtigen
Situation, unsere theoretische Entwicklung und die KlassensolidaritÃt, die in diesen
Zeiten so gefragt und notwendig sind.
FÃderalismus muss der StÃrkung sowohl der lokalen wie der globalen Aktion der
Organisation dienen. Wir nennen dies dynamischer FÃderalismus. Er ist das, was, im
Rahmen einer generellen strategischen Linie des revolutionÃren Bruchs mit dem
Bestehenden, sowohl den Widerstand gegen den Kapitalismus am Leben erhÃlt als
auch bei der Planung einer neuen Welt hilft.
BezÃglich dem, was bereits gesagt wurde, muss dieses Model, diese
Organisationsform in eine Struktur integriert werden, die in der Basis - den
Graswurzeln - verankert ist - mit Achtung von Minderheitspositionen, aber einen
KÃrper mit verbindlichen BeschlÃssen erschaffend, die die TÃtigkeiten der Organisation
in Raum und Zeit skizzieren; mit Kategorien und Richtlinien, die notwendig fÃr die
Zusammenarbeit sind, ohne dass man sich in eine sinnlose "Versammlungswut" stÃrzt,
und eine Dynamik einbringen, die autoritÃre Praktiken bekÃmpft.
In der Isolation leben, alleine vor sich hin arbeiten, ohne mit anderen zu kooperieren
und Wissen auszutauschen, ohne miteinander zusammenkommen, um eine starke
Faust fÃr den Kampf zu bilden, "bedeutet, sich selbst zur Ohnmacht zu verurteilen,
seine Energie an kleinen, unbedeutenden TÃtigkeiten zu verschwenden und beginnen,
an den Zielen zu zweifeln und in Apathie zu verfallen."
Verfolgt man den vorgeschlagenen Weg, wird die Einheit der AnarchistInnen RealitÃt.
Diese Vereinigung kommt zusammen, um fÃr eine neue Menschheit zu arbeiten und
um die Strategie zu planen, mit welcher wir diese alte Welt beseitigen wollen. SÃulen
und Prinzipien wie Gleichheit, direkte Demokratie, Autonomie, UnabhÃngigkeit der
Klasse und Selbstverwaltung sind die grundlegenden Elemente, welche fÃr die
LibertÃren dieser Welt verbindlich sind. In Konsequenz mÃssen sie auch fÃr die
politische Organisation grundlegend sein.
Es ist also eine Frage der Konzeption, Erschaffung und Instandhaltung eines Typs von
Organisation, den wir als fÃderalistisch bezeichnen. Die Organisation verfÃgt Ãber
Praktiken, ÃbereinkÃnfte und Stile, die sich von denjenigen des Kapitalismus abheben.
D.h., wir gehen von der politischen Organisation in Richtung einer Massenorganisation
und vertiefen damit die Idee der Bildung einer Organisation nicht bloss aus aktuellen
taktischen Erfordernissen. Diese Organisation darf nicht zufÃllig, nur eine momentane
â 38 â
â Abschlusscommuniquà zu den Anarchietagen 2011 in SÃo Paulo â
_______________________________________
Notwendigkeit sein - sie muss der Fels sein, auf dem wir unsere WÃnsche und
Leidenschaften leben, unsere Utopie und unsere Freiheit.
Eine neue Welt sich vorstellen, trÃumen, lieben. Wegen so viel Ungerechtigkeit,
Ausbeutung und UnterdrÃckung mÃssen wir in unseren KampfgenossInnen, in den
Leuten den Imperativ nach Wandel sehen.
FÃr die Schaffung des libertÃren Sozialismus, in einem standhaften und soliden
Prozess.
FÃr alles, wonach wir uns sehen, fÃr das Andenken an unsere BrÃder und Schwestern,
die das Schlimmste unter diesem GrÃuel, das wir Kapitalismus nennen, erlitten haben.
Lasst uns die Utopie durch die Praxis der Freiheit errichten!!!
FÃr ein mÃchtiges Proletariat!!!
ÂÂÂArriba l@s que luchan!!!
Unterzeichnende: Coletivo Anarquista Luta de Classes (Brasil) / Coletivo Anarquista Zumbi dos
Palmares (Brasil) / Columna Libertaria Errico Malatesta (Argentina) / Columna Libertaria
Joaquin Penina (Argentina) / FederaÃÃo Anarquista de SÃo Paulo (Brasil) / FederaÃÃo
Anarquista do Rio de Janeiro (Brasil) / FederaÃÃo Anarquista GaÃcha (Brasil) / FederaciÃn
Anarquista Uruguaya (Uruguay) / FederaciÃn Comunista Libertaria (Chile) / FÃrum do
Anarquismo Organizado (FAO, Brasil) / NÃcleo PrÃ-Especifista de Recife (Brasil) / OrganizaÃÃo
ResistÃncia LibertÃria (Brasil) / Para AlÃm do Estado e do Mercado (Brasil) / Rusga LibertÃria
(Brasil) / Colectivo Espiral (Costa Rica - observador)

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â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die
Schweiz?
AutorIn:
Andrej Mayer & Juanita Martinez
Obwohl der Especifismo mit Blick auf die spezifische Ãkonomische, politische und
soziale Situation in SÃdamerika konzipiert wurde, kann er uns auch fÃr uns hier in der
Schweiz wichtige Impulse liefern. Allerdings sind dabei natÃrlich einige
EinschrÃnkungen bzw. Erweiterungen vorzunehmen, gewisse PrioritÃten anders zu
setzen und damit auch taktische AnsÃtze zu modifizieren. Die folgenden AusfÃhrungen
sollen dazu einige Anregungen bieten, sind aber keinesfalls als abgeschlossenes
Konzept oder fertige Strategie zu betrachten.
Der Especifismo hat zwei Kernelemente: Der Aufbau einer spezifischen anarchistischen
Organisation und die âgesellschaftliche EinfÃgungâ ihrer Aktivistinnen und Aktivisten.
BeschÃftigen wir uns zuerst mit der Frage der Organisation.
Anders als in vielen anderen westeuropÃischen LÃndern verfÃgt die Schweiz weder
Ãber eine starke anarchistische Tradition noch â abgesehen von einigen Ausnahmen
wie dem CIRA in Lausanne, dem Circolo Carlo Vanza in Locarno oder der Organisation
Socialiste Libertaire in der Westschweiz â Ãber bestÃndige libertÃre Strukturen. Dies
trifft speziell auf die Deutschschweiz zu, wo kaum ein anarchistisches Projekt lÃnger
â 39 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
_______________________________________
als ein paar Jahre Ãberlebt. Verliert ein Projekt an Dynamik und wird aufgegeben,
kommen meist nicht nur die gewonnen Erfahrungen und die ausgebildeten
theoretischen Konzeptionen dem libertÃren Umfeld abhanden, sondern oft auch die
daran beteiligten Aktivistinnen und Aktivsten. Neue Projekte mÃssen deshalb sowohl in
theoretischer wie struktureller Hinsicht oft wieder bei Null zu beginnen. Dies erfordert
viel Energie, und droht fÃr das libertÃre Umfeld zu einem Teufelskreis zu werden.
Von der Szene zur Bewegung
Es sollte uns daher ein Anliegen sein, dauerhafte libertÃre Strukturen zu schaffen â
und dies schweizweit. Dabei mÃssen wir nicht ganz von Vorne anfangen, denn wir
haben das GlÃck, heute doch zumindest in den meisten StÃdten eine libertÃre âSzeneâ,
ein anarchistisches Umfeld zu haben. Es kann sich dabei um InfolÃden, Squats,
autonome Kulturzentren, linke Genossenschaften, libertÃre Lesezirkel, die
Basisgewerkschaft, lokale anarchistische Gruppen etc. handeln. Den Aktivistinnen und
Aktivisten in diesen ZusammenhÃngen ist oftmals eine bestimmte Art von politischer
Praxis gemeinsam. Daneben dÃrfen natÃrlich auch nicht die Leute vergessen gehen,
die zwar aus verschiedenen GrÃnden keine eigene politische Praxis haben, aber
dennoch stark an anarchistischem Gedankengut interessiert sind.
Der grÃsste Teil der in den erwÃhnten ZusammenhÃngen aktiven Personen wÃrde wohl
den folgenden Punkten zustimmen:
â
Die momentane Gesellschaftsform wird abgelehnt; das Ziel ist die Erschaffung
einer herrschaftsfreien und solidarischen Gesellschaft aus freien und gleichen
Menschen. Das Postulat der Herrschaftsfreiheit schliesst automatisch die
MÃglichkeit eines âSozialismus in einem Landâ aus.
â
Kapitalismus, (Hetero-)Sexismus, Rassismus und weitere Formen der
Diskriminierung stehen im Widerspruch zu einer solchen Gesellschaftsform und
mÃssen deshalb bekÃmpft werden.
â
Diese neue Gesellschaft kann nur abseits des parlamentarischen Weges und
ohne FÃhrung durch eine Partei oder sonstige âAvantgardeâ erreicht werden,
denn das Ziel muss im Mittel erkennbar sein.
â
Die Ãberwindung der momentanen Gesellschaftsform ist nicht nur eine politische
Frage, sondern umfasst ebenso sehr kulturelle, Ãkonomische und soziale
Aspekte.
Dies ist die gemeinsame Grundlage, auf der wir aufbauen kÃnnen. Wollen wir unser
Projekt der gesellschaftlichen Transformation voranbringen, sollten wir uns in
irgendeiner Form assoziieren, denn gemeinsam sind wir stÃrker und sind in der Lage,
unseren grÃssten gemeinsamen Nenner durch solidarisch gefÃhrte Diskussionen
anzuheben. Haben wir die Stufe erreicht, wo dieser Austausch sowohl in praktischer
wie theoretischer Weise auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene fortdauernd
stattfindet und von einem Ãberwiegenden Teil der in libertÃren ZusammenhÃngen
aktiven Personen unterstÃtzt wird, haben wir den Ãbergang von der anarchistischen
Szene zur Bewegung geschafft.
Bereits heute wird in der Schweiz versucht, einen solchen Austausch zu erreichen.
Einige Beispiele:
â 40 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
_______________________________________
â
Seit ein paar Jahren findet jeden Sommer Ãber eine oder zwei Wochen ein
anarchistisches Sommerlager (A-Camp) statt, wo sich libertÃre Aktivistinnen und
Aktivisten in lockerem Rahmen kennenlernen und in freien Workshops Ãber
anarchistische Perspektiven diskutieren kÃnnen.
â
Das halbjÃhrlich stattfindende anarchistische Treffen (A-Treffen) hat sich der
stÃrkeren Vernetzung von anarchistische Gruppen und Einzelpersonen aus der
ganzen Schweiz verschrieben.
â
GrÃssere libertÃre Veranstaltungsreihen und Events, wie die Buchmesse in Biel,
die Anarchietage in Winterthur oder Festivals mit politischem Rahmenprogramm
in der ganzen Schweiz bieten eine Plattform, wo dieser Austausch meist in mehr
informeller Art geschehen kann.
Diese Strukturen kÃnnen die Basis fÃr einen Austausch im grÃsseren Rahmen bieten.
Wichtig ist dabei aber, dass dieser als bewusster Akt vollzogen wird, d.h., dass das Ziel
allen Beteiligten klar ist, dass sie diesem zustimmen und dass sie gemeinsam darauf
hinarbeiten. Nur so kann eine KontinuitÃt erreicht werden, die eine effektive
Entwicklung der anarchistischen Szene hin zur Bewegung in Gang setzen kann.
Von der Bewegung zur Organisation
Weshalb eine Organisation?
Wir sind der Ãberzeugung, dass zwar die Schaffung einer libertÃren Bewegung als
erster Schritt durchaus sinnvoll ist und einiges Potential zu bieten hat, doch fÃr eine
ernstzunehmende revolutionÃre Kraft nicht ausreichen kann. Denn im Sinne des
Especifismo bedarf es dazu in organisationsspezifischer Hinsicht auch eine Einigkeit in
strategischen und taktischen Fragen (eine Grundvoraussetzung fÃr eine konkrete,
effektive und widerspruchsfreie Praxis), eine kohÃrente Analyse der politischen,
Ãkonomischen und sozialen Situation in der Schweiz und daraus folgend eine
gemeinsame theoretische Grundlage, die weit Ãber die oben aufgezÃhlten
gemeinsamen Nenner hinausgehen.
Wir stehen gut organisierten, extrem einflussreichen und breit akzeptierten
Gegnerinnen und Gegner gegenÃber. Erschwerend kommt hinzu, dass diese nicht nur
in Form von konkreten Personen (die Chefin, der Staatsmann, die Polizistin, der
Richter etc.) auftreten, sondern sich ebenso abstrakt als soziale VerhÃltnisse durch die
ganze Gesellschaft ziehen. Herrschaftsstrukturen (als âversteinerteâ Machtbeziehungen
â 41 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
_______________________________________
verstanden), die wir Ãberwinden wollen, sind uns auch selbst einbeschrieben, in Form
von mehr oder minder unbewusst akzeptierten sozialen Normen und den damit
verbundenen Zwang, diesen zu genÃgen bzw. genÃgen zu mÃssen.
Diese schwierige Ausgangslage macht es erforderlich, dass wir uns einerseits eine
Praxis zulegen, die gleichzeitig effektiv, d.h. zielgerichtet und krÃfteschonend, und
widerspruchsfrei ist. Das wiederum zwingt uns dazu, elaborierte Strategien und
Taktiken zu entwickeln, wo und wie wir kÃmpfen. Ebenso wichtig ist es, uns RÃume zu
schaffen, wo wir unsere Aktionen und unser Verhalten immer wieder reflektieren
kÃnnen, damit wir das uns selbst einbeschriebene autoritÃre Unterbewusste
schrittweise abbauen kÃnnen.
Diese RÃume benÃtigen wir auch fÃr die andauernde Analyse, die Grundlage fÃr die
Theorie ist und mit der konkreten Praxis in einem dialektischen, d.h. sich gegenseitig
bedingendem und beeinflussendem, VerhÃltnis steht. Die Analyse ist also fundamental
fÃr den revolutionÃren Kampf, und muss deshalb durch klare Strukturen und Prozesse
wie bspw. Aufgabenteilung, regelmÃssigem Erfahrungsaustausch, Festhalten von
Erkenntnissen etc. geleitet werden. Diese kÃnnen nur schwer durch eine nicht-
permanente Organisation garantiert werden.
â 42 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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Analysen kÃnnen selbstverstÃndlich nicht im luftleeren Raum passieren. Sie brauchen
UntersuchungsgegenstÃnde und, zu deren Untersuchung, Methoden. Die RealitÃt (oder
prÃziser gesagt die RealitÃten) offenbart sich uns nicht von selbst, sie ist nicht
unmittelbar, sondern kann nur anhand von bestimmten vorgeprÃgten Auffassungen
(insbesondere die Sprache), Konzepten und Begrifflichkeiten wahrgenommen werden.
Durch unsere kulturelle PrÃgung ist dieser spezifische Blickwinkel in grossen Teilen
bereits geprÃgt und auch nur schwer zu durchbrechen. Allerdings ist diese nicht
vollstÃndig determinierend, und lÃsst uns einigen Spielraum, wie wir diese RealitÃt
betrachten wollen. Verstehen wir aber die Analyse der RealitÃt als einen kollektiven
Prozess â der sie sein muss, um Ãberhaupt breitenwirksame Erkenntnisse daraus zu
gewinnen â, mÃssen wir ein gemeinsames GerÃst an der Analyse vorangehenden
Konzeptionen haben â Metaphern, abstrakte Begrifflichkeiten etc. So bspw. die
Konzeption der Klassengesellschaft, der Freiheit, des erkenntnistheoretischen
Materialismus usw. Diese Konzeptionen sollten zwar im analytischen Prozess niemals
unumstÃsslich und statisch sein, doch sind sie fÃr den analytischen Prozess
unumgÃnglich, soll der nicht bei Null anfangen. Welche diese in unserem Fall sein
sollten, werden wir im nÃchsten Abschnitt erlÃutern. Die Organisation kann fÃr diese
Konzeptionen als eine Art ideologischer Leuchtturm dienen: Sie vertritt sie gegen
aussen in Form von bestimmten Prinzipien, deren Anerkennung fÃr eine Mitgliedschaft
Voraussetzung ist. Dank ihren festen Strukturen und ihrer effektiven organisatorischen
Praxis bringt sie diesen Leuchtturm viel stÃrker zum Strahlen, als dies eine informelle
Assoziation von Aktivistinnen und Aktivisten je tun kÃnnte.
Schliesslich erfordert auch die theoretische Arbeit bestÃndige Organisationsformen,
damit diese immer weiter verfeinert werden und ihren Einfluss auf lÃngerfristige
strategische Ãberlegungen ausÃben kann. Fehlen diese Organisationsformen, besteht
immer das Risiko, dass dieser wichtige Prozess an einzelne Personen gebunden ist,
damit also stark fluktuierend sein kann: VerlÃsst die Person das libertÃre Umfeld, ist
auch oft der theoretische Schub weg.
Eine effiziente und widerspruchsfreie Praxis, die konkrete Analyse und eine
andauernde theoretische Arbeit erfordert also ein GefÃss â die Organisation â, in der
sich diese entwickeln kÃnnen. Doch wie soll nun eine solche in der Schweiz mit ihrer
Mehrsprachigkeit und ihrem âKantÃnligeistâ aufgebaut werden?
Die Aufbauarbeit
Voraussetzung fÃr den Aufbau der Organisation ist natÃrlich, dass es genÃgend
libertÃre Aktivistinnen und Aktivisten gibt, die Interesse an diesem Projekt haben.
Deshalb sollte der erste Schritt sein, auf die Theorie und Praxis des Especifismo
aufmerksam zu machen. Neben Texten wie diesen kÃnnen das GesprÃchsrunden,
Referate, Radiosendungen etc. sein, die sich mit dem Thema beschÃftigen. Wichtig ist
dabei, dass konkrete Foren zur Diskussion bereitstehen. Da naturgemÃss die meisten
der potentiell interessierten Personen im libertÃren Umfeld anzutreffen sind, sollte sich
die Agitation fÃr den Aufbau einer spezifisch anarchistischen Organisation auf diese
Strukturen konzentrieren. Je weiter hierbei der Austausch zur Schaffung einer
libertÃren Bewegung vorangeschritten ist, desto besser kÃnnen Aktivistinnen und
Aktivisten auf schweizweiter Ebene erreicht und im solidarischen (und selbstkritischen)
Dialog von der Notwendigkeit des organisierten Anarchismus Ãberzeugt werden.
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â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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Dabei zu âmissionierenâ ist aber fehl am Platz. Wir, die alle Menschen als frei und
gleich ansehen, sollten Personen durch das Beispiel Ãberzeugen, und nicht, indem wir
sie â kraft durch das bessere Argument oder durch unser umwerfendes Charisma als
âRevolutionÃrinnenâ und âRevolutionÃreâ â zu KirchgÃngerinnen und -gÃnger der
anarchistischen Kongregation machen. Konkret, fÃr uns in dieser Phase interessante
Leute sind im Sinne des Especifismo neben den bereits erwÃhnten Grundansichten
Ãberzeugt, dass
â
zur Ãberwindung des Kapitalismus (sowie aller anderer Herrschaftsstrukturen)
ein revolutionÃrer Prozess notwendig ist, wobei dieser stets von unten, und nicht
von oben (Diktatur des Proletariats, Herrschaft der âkommunistischenâ Partei
etc.) vorangetrieben werden muss.
â
dieser Prozess zwar in seiner konkreten Ausgestaltung von der gesellschaftlichen
Situation beeinflusst, doch nicht nur durch sie bestimmt (determiniert) wird.
â
dieser Prozess von den UnterdrÃckten autonom, selbstbestimmt und solidarisch
gefÃhrt werden muss.
â
soziale Bewegungen und Gewerkschaften keine Institutionen mit einem
politischen (auch anarchistischen) Programm sein, sondern nur die objektiven
materiellen Interessen der in ihnen organisierten Personen vertreten sollen.
â
eine solidarische und herrschaftsfreie Gesellschaft der Freien und Gleichen nur
auf einer kommunistischen Grundlage mÃglich ist (âJeder nach seinen
FÃhigkeiten, jedem nach seinen BedÃrfnissenâ).
â
die freie Assoziation von Aktivistinnen und Aktivisten nicht ein notwendiges Ãbel,
sondern durchaus gewÃnscht ist.
â 44 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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Dies umfasst gewisse soziale Anarchistinnen und Anarchisten und einige libertÃre
Marxistinnen und Marxisten. Auf diese gilt es sich anfÃnglich zu beschrÃnken.
Haben sich an einem Ort genÃgend Leute gefunden, die die Theorie in der Praxis
umsetzen wollen, ist die Zeit zur GrÃndung einer organisierten anarchistischen Gruppe
gekommen. Wie der Aufbau der Gruppe genau aussehen soll, wie Entscheidungen
getroffen werden (durch Konsens, durch Abstimmung oder durch eine Mischform) und
auf welche AktivitÃten sie sich konzentrieren mÃchte, ist abhÃngig von den Interessen
und zeitlichen MÃglichkeiten ihrer Mitglieder und den Ãrtlichen Gegebenheiten. Falls
nur wenige Personen mit sehr beschrÃnkten zeitlichen MÃglichkeiten zur VerfÃgung
stehen, kann natÃrlich auch Hilfe von einer Gruppe in einer anderen Region geleistet
werden. Es ist aber dringend davon abzuraten, âBriefkastengruppenâ oder âFilialenâ
ohne personellen Bezug zum Ort zu grÃnden. Der Aufbau einer Gruppe sollte
tatsÃchlich ein reales BedÃrfnis von ortsansÃssigen Personen widerspiegeln, und nicht
einfach forciert werden, weil eine Gruppe an diesem Ort zu haben gerade noch schÃn
wÃre. Denkbar ist natÃrlich auch, dass sich eine bereits bestehende Gruppe fÃr das
Projekt einer spezifischen anarchistischen Organisation interessiert. In diesem Fall
entfÃllt selbstverstÃndlich ein Grossteil der Aufbauarbeit.
Ist auch die konkrete Praxis abhÃngig vom Ort und von den Mitgliedern, so sollte die
organisierte anarchistische Gruppe doch das SelbstverstÃndnis haben, der Kern einer
spÃteren spezifischen anarchistischen Organisation zu sein. D.h., sie sollte bereits
Theorie und Praxis in deren Sinne entwickeln, also gesellschaftliche Analyse betreiben,
darauf basierend theoretische Ãberlegungen anstellen, propagandistisch im Sinne des
Especifismo wirken und sich in der Praxis der gesellschaftlichen EinfÃgung und sozialen
Militanz (s.u.) Ãben. Ebenso wichtig ist die Vernetzung mit gleichgesinnten Gruppen,
wobei natÃrlich der konkrete Grad dieser Zusammenarbeit dem Wollen und KÃnnen
der Gruppen Ãberlassen bleibt.
Erreicht die Gruppe eine bestimmte GrÃsse (ca. 20 Personen), sollte sie Ãber eine
Auftrennung nachdenken. Denn eine Gruppe, die diese Mitgliederzahl Ãbersteigt, lÃuft
Gefahr, lÃngere Entscheidungsfindungsprozesse durchlaufen zu mÃssen und damit
weniger agil zu werden und/oder eine Tendenz zu einem auf dieser Stufe unnÃtigen
Delegationssystem zu entwickeln, der die vollumfÃngliche Partizipation der/des
Einzelnen je lÃnger je mehr erschwert.
Sind in einer Region, spÃter auf nationaler Ebene genÃgend Gruppen aufgebaut, sollte
Ãber eine FÃderation nachgedacht werden. Diese sollte in dieser Phase weniger ein
qualitativer, sondern eher ein formaler Schritt sein: Durch intensivere und bessere
Vernetzung der Gruppen sind die dafÃr notwendigen Strukturen (wie ein System der
gemeinsamen Entscheidungsfindung, Aufteilung von Ressourcen, Austarierung von
Autonomie und Zusammenarbeit, allgemeiner Kommunikation etc.) bereits geschaffen,
der Zusammenschluss als FÃderation ist daher eher als Signal gegen aussen denn als
Reform im Inneren zu sehen. Trotzdem ist wichtig festzuhalten, dass auch nach der
GrÃndung der regionalen bzw. nationalen FÃderation â die nun mit Fug und Recht den
Titel einer spezifischen anarchistischen Organisation tragen kann â die Autonomie der
lokalen Gruppen gewahrt bleiben soll. D.h., die Entscheidungshierarchie lÃuft von
unten nach oben, von den lokalen Gruppen zur Organisation auf nationaler (oder
spÃter auch auf internationaler) Ebene. Dies wird mit dem Begriff des FÃderalismus
â 45 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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ausgedrÃckt, der gerade fÃr die spezifische Situation in der Schweiz von eminenter
Bedeutung ist: Durch die sprachliche und kulturelle Vielfalt muss stets akzeptiert
werden, dass Gruppen in verschiedenen Ãrtlichen Konzepten eine andere
Herangehensweise an bestimmte Aufgaben haben. Und das ist auch gut, denn nur so
kann auch eine DiversitÃt und damit Dynamik in der Organisation beibehalten werden.
Anderseits muss natÃrlich auch eine gewisse Einheit gewahrt werden, nÃmlich
Einigkeit in der Strategie und in den taktischen Grundlinien der Organisation sowie
geteilte Analysen, ein gemeinsames theoretisches Fundament und schliesslich die
kollektive Verantwortung. Da die Ãbrigen Konzepte bereits weiter oben besprochen
wurden, soll an dieser Stelle nur noch auf die kollektive Verantwortung eingegangen
werden. Sie besagt, dass Mitglieder fÃr die TÃtigkeiten der Organisation genauso
Verantwortung tragen wie die Organisation fÃr die TÃtigkeiten der einzelnen Mitglieder,
die diese im Namen der Organisation betreiben. Im ersten Fall setzt das einen
dezidiert basisdemokratischen Prozess voraus: Jedes Mitglied muss die MÃglichkeit
haben, Ãber die TÃtigkeiten einer Organisation mitbestimmen zu kÃnnen. Kann in
einer Sache kein Konsens erreicht werden, muss zumindest in solidarischer Absprache
versucht werden, die am meisten kritisierten Aspekte der Entscheidung zu Ãberdenken
bzw. zu modifizieren, um so zumindest einem Teil der Forderungen der Minderheit
Rechnung zu tragen. Auch sollte fÃr Einzelpersonen oder Gruppen die MÃglichkeit
bestehen, sich einzelnen Aktionen der Organisation zu enthalten, allerdings natÃrlich
ohne, sie verhindern zu suchen. Im zweiten Fall kommt die individuelle Verantwortung
(die politische Disziplin des/der Einzelnen) zum Tragen: Individuen bzw. Gruppen
kÃnnen nur im Namen der Organisation handeln, wenn sie von dieser einen
entsprechenden Auftrag erhalten haben und die TÃtigkeit im Sinne der Organisation
ausfÃhren. Halten sie sich nicht daran, untergraben sie damit nicht nur die
organisatorische Einheit,
sondern auch das
fundamentale Kriterium
der
basisdemokratischen Kontrolle Ãber die TÃtigkeit der Organisaton.
Konnte sich die Organisation auf nationaler Ebene etablieren, werden natÃrlich auch
die internationalen Beziehungen immer wichtiger. Auch hier gilt natÃrlich wieder das
Prinzip der Autonomie und des FÃderalismus als Vorwegnahme einer zukÃnftigen
anarchistischen Gesellschaft im weltweiten Massstab. Bereits heute gibt es Versuche,
diese internationale Zusammenarbeit zu intensivieren. Neben den beiden
anarchistischen Internationalen â der anarchosyndikalistischen Internationalen
ArbeiterInnen-Assoziation und der Internationale der anarchistischen FÃderationen â
wird dies v.a. mit dem Projekt Anarkismo umzusetzen versucht, an dem auch viele
especifistische Gruppen und Organisationen beteiligt sind.
Die Aufgaben der Organisation
Der Organisation, auf einer Vorstufe auch schon den organisierten anarchistischen
Gruppen fallen folgende Aufgaben zu:
â
Analyse der spezifischen Situation in der Schweiz (oder auch in verschiedenen
Regionen): sozioÃkonomische, politische und kulturelle Entwicklungen in
Geschichte und Gegenwart; Aufarbeitung der Erfahrungen des Ãrtlichen
Anarchismus und von konkreten KÃmpfen; Auffinden von gesellschaftlichen
â 46 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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Bruchlinien (wo tun sich soziale WidersprÃche auf?) und damit Designation von
mÃglichen Kampffeldern (s.u.).
â
Ausbildung einer Theorie, die auf den Analysen basiert. Dabei soll die Theorie
nicht als Selbstzweck gesehen, sondern immer in Hinblick auf ihren Wert fÃr die
Praxis entwickelt werden. Theorie ist immer Theorie der Praxis, und nicht die
Kreation von LuftschlÃsser ohne Bezug zur RealitÃt.
â
Entwicklung einer Praxis: Strategie der gesellschaftlichen EinfÃgung, Taktik der
sozialen Militanz (s.u.)
â
Selbstreflexion: Stetiger Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen, die
durch die Praxis gewonnen wurden. Die Ergebnisse sollten wiederum in die
Weiterentwicklung der Theorie und Praxis einfliessen.
â
Propagandistische TÃtigkeiten: Publikation einer Zeitschrift und weiteren
informativen Materialien, Unterhalt einer Website; DurchfÃhrung von
Veranstaltungen; aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Diskussionen und
Einbringen eines anarchistischen Standpunktes; Ziel: MÃglichst starke PrÃsenz
des Anarchismus in der Schweiz
â
Vernetzung: Neben den internationalen Beziehungen betrifft dies im speziellen
die Zusammenarbeit und den solidarischen Austausch mit der restlichen
anarchistischen Bewegung in der Schweiz, bspw. durch gemeinsame Projekte
oder Treffen.
â 47 â

â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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Die Entwicklung einer revolutionÃren Praxis Kampffelder

Kampffelder
Eine spezifische anarchistische Organisation ohne konkrete Praxis ist dazu verdammt,
sich in die Bedeutungslosigkeit zu verabschieden. Analysen, die Entwicklung einer
Theorie sowie die Selbstreflexion sollen dabei helfen, eine solche Praxis zu finden und
weiterzuentwickeln.
ZunÃchst stellt sich natÃrlich die Frage, wo eine solche Praxis entwickelt werden kann.
Aufgrund der Ãberzeugung, dass der revolutionÃre Prozess nur durch den Kampf der
durch diese Gesellschaft Ausgebeuteten und UnterdrÃckten vorangetrieben werden
kann, sollten also wir Anarchistinnen und Anarchisten im Sinne Malatestas dort
prÃsent sein, wo diese herrschaftlichen Mechanismen wirken. Dabei muss ein solches
Kampffeld nicht unbedingt riesige Ausmasse haben, sondern kann sich auch in einer
einzelnen Region, sogar in einem Quartier an einer bestimmten Frage auftun, obwohl
natÃrlich die dahinter wirkenden gesellschaftlichen VerhÃltnisse globaler Natur sind.
Gesellschaftliche EinfÃgung und soziale Militanz
Sind diese mÃglichen Kampffelder ausgemacht (wobei sich natÃrlich immer weitere
auftun kÃnnen, andere vielleicht im Laufe des revolutionÃren Prozesses
verschwinden), geht es darum, wie sich Anarchistinnen und Anarchisten in sie
einfÃgen, und anschliessend, wie sie eine konkrete TÃtigkeit, eine soziale Militanz,
darin entwickeln kÃnnen. SelbstverstÃndlich unterscheidet sich die Vorgehensweise
von Fall zu Fall, doch lassen sich auch einige allgemeine Anmerkungen dazu machen.
VorschlÃge fÃr einzelne Kampffelder werden weiter unten aufgefÃhrt.
Die Strategie der gesellschaftlichen EinfÃgung ist immanent klassenkÃmpferisch: Sie
geht davon aus, dass nur diejenigen Menschen eine revolutionÃre Kraft entwickeln
kÃnnen, die ein materielles Interesse an der Ãberwindung des Kapitalismus haben â
also durch das System in irgendeiner Form unterdrÃckt oder ausgebeutet werden.
Obwohl dies auf die Ãberwiegende Mehrheit der Menschheit zutrifft, scheint es nicht
so, als ob der Kapitalismus in nÃchster Zeit abgeschafft wird. Umso wichtiger ist es
daher, diejenigen KÃmpfe (die immer stattgefunden haben und auch immer stattfinden
werden, solange das kapitalistische System besteht) zu unterstÃtzen, die einen
potentiell transformierenden Charakter haben. Dieser Charakter kann aber natÃrlich
nur dann beibehalten werden, wenn der Kampf tatsÃchlich von denjenigen Menschen
gefÃhrt wird, fÃr deren materielles Interesse er vorgibt einzustehen. Was bedeutet das
fÃr uns Anarchistinnen und Anarchisten? Erstens, wir haben ein Interesse daran, dass
der Kampf stets genuin im oben erwÃhnten Sinn bleibt: Gibt es Versuche, einen
solchen Kampf zu vereinnahmen (auch wenn dies unter libertÃren Vorzeichen
geschieht), wird er aufgrund verschiedener materieller Bestrebungen (bspw. wÃrde
eine Partei versuchen, durch seine Vereinnahmung WÃhlerInnenstimmen zu gewinnen)
zwangslÃufig scheitern. Zweitens, egal ob es âunserâ Kampf ist oder nicht (also ob wir
ein unmittelbares materielles Interesse daran haben oder nicht), indirekt bringt er uns
auf dem revolutionÃren Weg stets ein StÃck weiter, indem Erfahrungen gesammelt und
im besten Fall Forderungen durchgesetzt werden kÃnnen. D.h. also, wenn wir uns an
einem Kampf beteiligen, dann immer unterstÃtzend, nicht bestimmend. Wir bieten
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â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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unsere Hilfe an, geben Tipps (sofern erwÃnscht), helfen bei der Vernetzung mit
anderen KÃmpfen, weisen auf dieses oder jenes historische Beispiel hin und machen
auf die Wichtigkeit von Autonomie und Selbstbestimmung aufmerksam: Dies sind die
grundlegenden Taktiken der sozialen Militanz. Wichtig dabei ist ebenfalls, dass wir kein
Geheimnis aus unserer Ãberzeugung und unseren Absichten machen. Das widerspricht
einerseits unserer Ablehnung des Avantgarde-Gedankens (wir entwickeln unsere Ideen
mit den kÃmpfenden Menschen, nicht Ãber sie hinweg!), anderseits lassen sich daran
oftmals interessante Diskussionen Ãber Selbstbestimmung und Autonomie knÃpfen.
SelbstverstÃndlich geht es aber auch nicht darum, immer und Ãberall
herauszustreichen, wer wir sind und was wir denken: Ein solches Verhalten wirkt
arrogant und abschreckend.
Unser besonderes Augenmerk muss den am meisten unterdrÃckten und
ausgebeuteten Teilen unserer Gesellschaft gelten, da diese einerseits objektiv das
materiell grÃsste Interesse an der Ãberwindung des Kapitalismus haben, anderseits
aber oftmals auch die kleinsten Ressourcen fÃr den Kampf haben. WÃhrend dies in
SÃdamerika v.a. die Landlosenbewegung und die BewohnerInnen der Favelas sind,
sind dies bei uns v.a. Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Aufgrund ihrer disparaten
Lage kann es sinnvoll sein, auch von aussen her zu versuchen, die betroffenen
Personen zu organisieren. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich
dabei weder um einen Akt der christlichen NÃchstenliebe noch um einen des
versteckten Paternalismus handelt. Es geht um klassenkÃmpferische SolidaritÃt, um
das Wissen, dass wenn ihr Kampf erfolgreich ist, auch unser erfolgreich sein wird.
NatÃrlich ist bei einer externen Organisierung besondere Vorsicht geboten: Einerseits
muss darauf geachtet werden, dass wir den betroffenen Menschen nicht unsere Art
des Kampfes aufzwingen, sondern sie ihren Weg gehen lassen, auch wenn er uns nicht
richtig scheint. Das heisst aber nicht, dass wir nicht erlÃutern sollten, weswegen wir
eine bestimmte Taktik als wenig sinnvoll erachten. Anderseits mÃssen wir verhindern,
zu einem Dienstleister zu werden: Von Anfang an muss klar gemacht werden, dass wir
unterstÃtzen, aber die anfallende Arbeit nicht alleine verrichten.
Einige Beispiele
Abschliessend sollen einige Beispiele aufgefÃhrt werden, wo Kampffelder liegen, wie
Anarchistinnen und Anarchisten sich in sie einfÃgen und wie die Taktiken der sozialen
Militanz aussehen kÃnnten. NatÃrlich wird mit der AufzÃhlung keinen Anspruch auf
VollstÃndigkeit erhoben, noch soll damit abgestritten werden, dass solche Felder und
die in ihr herrschenden gesellschaftlichen VerhÃltnisse hÃchst dynamisch sein kÃnnen
und damit eine stetige Anpassung der Taktiken erforderlich machen:
â
ArbeitskÃmpfe: Obwohl die Schweiz traditionell nur eine schwach entwickelte
ArbeiterInnenbewegung hat, fanden doch in den vergangen Jahren mehrere,
auch wilde Streiks statt. Diese, z.T. erfolgreichen Beispiele kÃnnen die
Bereitschaft, sich militant den ausbeuterischen VerhÃltnissen am Arbeitsplatz zu
widersetzen, in anderen Betrieben und Sektoren erhÃhen. FÃr Mitglieder der
anarchistischen Organisation ergeben sich dabei mehrere interessante
MÃglichkeiten, sich in diesen Konflikt zu involvieren. Am naheliegendsten ist es
natÃrlich, am eigenen Arbeitsplatz zu agitieren, auf die Wichtigkeit von
gewerkschaftlicher, doch selbstbestimmter Vernetzung aufmerksam zu machen
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â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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und proletarische SolidaritÃt auch im Kleinen zu leben (bspw. den Kollegen zu
verteidigen, der gerade von der schlecht gelaunten Chefin zusammengestaucht
wurde); AktivitÃt kann auch innerhalb der Gewerkschaften entfaltet werden. Ziel
ist dabei nicht das Ergattern eines FunktionÃrspostens, sondern die Agitation an
der Basis: bspw., bei einem Arbeitskampf, den die Gewerkschaft einmal mehr
am Verhandlungstisch zugunsten der Bosse entscheiden will, die Kolleginnen und
Kollegen zu SolidaritÃtsaktionen quer durch die Gewerkschaft aufrufen, und
somit den KÃmpfenden zu helfen und gleichzeitig den Druck auf den
Gewerkschaftsapparat erhÃhen. Wird die Agitation an der Basis durch die
FunktionÃrInnen verhindert (was leider allzu oft geschieht), steht natÃrlich auch
die Arbeit in alternativen, mehr basisdemokratisch Gewerkschaften offen, die
allerdings in der Deutschschweiz reichlich dÃnn gesÃt sind. Schliesslich ist
selbstverstÃndlich auch die PrÃsenz bei ArbeitskÃmpfen selbst, insbesondere
Streiks, wichtig â nicht als politische Kommissarinnen und Kommissare, sondern
als Helferinnen und Helfer bei all den Dingen, die den Kampf erleichtern und die
Moral hoch halten kÃnnen.
â 50 â
â Especifismo - eine Strategie auch fÃr die Schweiz? â
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â
FlÃchtlingsbewegung: Durch die stetige VerschÃrfung der Asylgesetze, aber auch
der
zunehmenden
Zahl
an
FlÃchtlingen
durch
Kriege,
Verfolgung,
Naturkatastrophen
oder
Ãkonomische
Miseren
wird
die
Lage
der
Asylbewerberinnen und Asylbewerber in der Schweiz immer schlimmer. Obwohl
es bereits in einigen StÃdten Organisationsversuche gibt, und einige FlÃchtlinge
sich sehr effektiv zu helfen wissen, ist es wichtig, in der Schweiz eine breite
FlÃchtlingsbewegung aufzubauen. Einerseits geht es dabei um direkte Hilfe, wie
bspw., die fÃr Nothilfe-BezÃgerinnen und -BezÃger vorgesehenen Migros-
Gutscheine im Kanton ZÃrich in Geld umzutauschen. Anderseits ist aber auch
eine Bewegung notwendig, die direkt Druck auf die Politik (und die Gesellschaft
generell) ausÃben kann. Gerade wenn die Organisation von aussen geschieht, ist
aber auf die im letzten Abschnitt erwÃhnten Gefahren RÃcksicht zu nehmen.
Oftmals kann nur schon ein positives Zeichen gesetzt werden, wenn man ein
Asylheim oder ein Nothilfezentrum besucht und mit den FlÃchtlingen spricht.
Ihre BedÃrfnisse und Sorgen sollten uns Anleitung sein, wie eine konkrete
Organisationsarbeit aussehen kann.
â
Ãkologie: Die atomare Katastrophe von Fukushima wird wohl mittelfristig zu
einer Wiederauferstehung der Anti-Atom-Bewegung fÃhren. Diese war in der
Schweiz (und ist es noch in Deutschland) ein wichtiges Beispiel einer
selbstorganisierten Bewegung, in der zudem auch verschiedenste Arten von
zivilem Ungehorsam und direkten Aktionen praktiziert werden kÃnnen. Zudem
gibt es wohl kaum ein anderes Beispiel in der Schweiz, das so offensichtlich den
Zynismus des Kapitals bzw. der Politik aufzeigt, wenn es um die Sicherung des
eigenen materiellen Vorteils geht. Die Gefahren der Atomenergie betreffen uns
alle, weshalb die Frontlinie nicht mit den Fronten des Klassenkampfs identisch
sind. Allerdings lÃsst sich daraus natÃrlich eine Klassenfrage machen, indem
bspw. der Profit der Atomlobby thematisiert wird. Der Fokus bei einer EinfÃgung
in die Anti-Atom-Proteste kÃnnte zum einen in der Propagierung eines
konsequent antiparlamentarischen Weges liegen, und die Bewegung so auch
mÃglichst von Parteiinteressen abzuschirmen. Zum anderen ist sie wie gesagt
ein geeignetes Experimentierfeld fÃr zivilen Ungehorsam und Selbstorganisation.
Anarchistische Ideale lassen sich so ziemlich einfach in eine Praxis
implementieren, die in dieser Bewegung breit anerkannt wurde (bzw. in
Deutschland wird).
â
Weiter wÃren natÃrlich auch AktivitÃten im HÃuser- und Wohnungskampf
(Stichwort: Gentrifizierung), in der Gesundheitsversorgung, die immer mehr zur
Zwei-Klassen-Medizin verkommt (aktuelles Beispiel: EinfÃhrung der DRG auf
Anfang 2012), der Kampf gegen die ErhÃhung von StudiengebÃhren und die
âVerwirtschaftlichungâ der Bildung etc.
â 51 â
â
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â Online-Ressourcen
Especifistische Organisationen
Columna Libertaria Joaquin Penina (Rosario, ARG)
http://www.cljp.com.ar
FederaÃÃo Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ)
http://www.farj.org
FederaÃÃo Anarquista GaÃcha (FAG)
http://www.vermelhoenegro.co.cc
FederaciÃn Anarquista Uruguaya (FAU)
http://www.nodo50.org/fau
Red Libertaria de Buenos Aires (RLBA)
http://www.redlibertaria.com.ar
Textsammlungen (Englisch)
http://anarchistplatform.wordpress.com/70-2/especifismo-anarquista
http://www.scribd.com/doc/16218050/EspecifismoReaderSept2008


â Online-Ressourcen
Especifistische Organisationen
Columna Libertaria Joaquin Penina (Rosario, ARG)
http://www.cljp.com.ar
FederaÃÃo Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ)
http://www.farj.org
FederaÃÃo Anarquista GaÃcha (FAG)
http://www.vermelhoenegro.co.cc
FederaciÃn Anarquista Uruguaya (FAU)
http://www.nodo50.org/fau
Red Libertaria de Buenos Aires (RLBA)
http://www.redlibertaria.com.ar

Textsammlungen (Englisch)

http://anarchistplatform.wordpress.com/70-2/especifismo-anarquista
http://www.scribd.com/doc/16218050/EspecifismoReaderSept2008

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Martinez, Juanita, Mayer, Andrej (Hg.) Theorie & Praxis des Especifismo â
Eine Textsammlung. Winterthur, Mai 2011. Edizioni La Contrabbandiera.
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