Offener Brief an die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein:
Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.
Johann Wolfgang von Goethe

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,

am 03. Oktober 2010 hat der Bundespräsident Deutschlands Herr Christian Wulff aus Anlass des 20. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung, eine wichtige und kluge Rede gehalten. Die Rede des Herrn Bundespräsidenten setzt einen überlegten und intellektuell überlegenen Kontrapunkt zu dem Geschwätz ewig gestriger Freizeitgenetiker, die bedauerlicherweise breite Unterstützung in der deutschen Bevölkerung zu genießen scheinen.

Die Reaktionen auf Bundespräsident Wulffs Feststellungen über Muslimisches Leben und Islam in Deutschland sind insbesondere in den christlich-konservativ geprägten politischen Kreisen verhalten, ablehnend und im besten Fall qualifizierend. Auch Sie haben sich ganz offensichtlich von Ihrem Wunschkandidaten für das Präsidialamt in bedenkenswerter Weise distanziert.

Die Medien zitieren Sie mit der Aussage, dass das Bild des Islam in Deutschland stark durch die Scharia, fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau bis hin zum Ehrenmord geprägt sei. Darüber müsse gesprochen werden, denn ansonsten würden Ängste zunehmen und das kann nicht unser Anliegen sein.

Ich kann mich angesichts Ihrer Aussagen nicht des Eindruckes erwehren, dass Sie die positive Ausstrahlung der Rede des Bundespräsidenten in die deutsche Gesellschaft direkt und ohne Umschweife zu kontern versuchen, indem Sie die mittlerweile drei klassischen Schreckgespenster über Islam und Muslime in Deutschland schnell noch einmal unter das Volk streuen. Eigentlich fehlte nur noch der Begriff Terrorismus in Ihrer Aufzählung, um Ihr Gruselquartett vom Islam zu vervollständigen. Ihre Feststellungen verraten viel über Ihre Einstellung zu den Muslimen in diesem Land und offenbaren erschreckende Wissenslücken über den Islam.

Ihre selektive Wahrnehmung von Islam und Muslimen ist stigmatisierend und führt Ihr vermeintliches Anliegen, Ängste in der Bevölkerung zu reduzieren ad absurdum. Herrn Bundespräsident Wulff ist es mit seiner Rede in beeindruckender Weise gelungen einen hellen Lichtstrahl auf das immense Potential, das dem friedlichen und respektvollen Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in diesem Land inne wohnt, selbstverständlich auf der Basis des Grundgesetzes – worauf denn sonst? – zu lenken. Ihnen ist bedauerlicherweise nichts Besseres dazu eingefallen, als den präsidialen Lichtschalter auszuschalten, um im Bild zu bleiben. In der Tat, es ist einfacher ein Atom zu spalten als ein bestehendes Vorurteil!

Ich muss annehmen, dass Ihre Haltung Ausdruck von zwingenden innenpolitischen bzw. wahltaktischen Abwägungsprozessen ist, Prozesse auf die Politiker immer gerne dann verweisen, wenn ihre Positionen ins Wanken gebracht werden. Ihre Haltung zur Rede ihres Parteikollegen wird dadurch nicht besser, im Gegenteil sie erscheint opportunistisch, dem mächtigen Zeitgeist unterworfen und offensichtlich der Tyrannei der herrschenden Fehlmeinung über Islam und Muslime geschuldet.

Ihr vorurteilsbehafteter und engstirniger Blick auf Islam und Muslime trägt nach meinem Empfinden fundamentalistische Züge, der die Welt in Gut und Böse, aufgeklärt und unaufgeklärt, rückständig und fortschrittlich aufteilen will.

Ihr eingeschränktes Wahrnehmungsmuster von Islam und Muslimen lädt geradezu dazu ein, den Spieß einmal umzudrehen und unter Zuhilfenahme Ihres selektiven Sichtfeldes einen Blick auf den Westen, auf Europa und Deutschland zu richten.

Dann ließe sich der Westen sehr einfach als expansives Monster karikieren, der sich nicht scheut in Muslimische Länder einzufallen, hundert Tausende von Muslimen ums Leben zu bringen und Millionen von Menschen jeglicher Lebensperspektive zu berauben, der Hochzeitsgesellschaften und Trauerzüge bombardiert oder auch ganz im Geiste der uneingeschränkten Solidarität Menschenansammlungen, die sich um Freibenzin bemühen zu Staub pulverisiert, der mit Waffen, in die Bibelstellen eingraviert sind, seine angeblichen Befreiungskriege/-kreuzzüge durchführt, um die ihn niemand gebeten hat, und der Unschuldige in Gefangenenlager jenseits jeder Rechtskonvention auf Jahre festhält, foltert und in nicht wenigen Fällen tötet.

Dann ließe sich sehr einfach Europa als ein verabscheuungswürdiger Hort des islamfeindlichen Rechtsradikalismus karikieren, in dem nationalistische und anti-demokratische Parteien wie die britische „British National Party“, die französische „Front National“, die niederländische „Partij Voor De Vrijheid“, die dänische „Dansk Folkeparti“ und die deutsche „NPD“ frei und offen agieren und den Rechtsstaat missbrauchen können, so lange sie nur ihren Hass auf Muslime und Islam konzentrieren. Und Deutschland? Mit einem auf Solingen, Mölln und Hoyerswerda verengten Blick, wo Menschen verbrannten und von einem deutschen Mob terrorisiert wurden, nur weil sie keine gebürtigen Deutschen waren, mit einem Blick in einen Dresdner Gerichtssaal, wo eine junge muslimische Frau aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ermordet wurde, mit einem Blick auf die hasserfüllten Aussagen der Schwarzers, Giordanos, Ulfkottes und Broders über Muslime und Islam, mit einem Blick in die dezidiert islamfeindlichen Internetforen „Grüne Pest“ und „Politically Incorrect“, mit einem Blick auf eine Pfarrerstochter und einen Pfarrer, die einen Karikaturisten auszeichnen, dessen einziger Verdienst um die Meinungsfreiheit in einem demokratischen Gemeinwesen in der Verunglimpfung eines Propheten liegt, ja mit diesem Blick könnte man wahrhaftig ein sehr aufschlussreiches Bild von diesem sich selbst als rein christlich-jüdisch geprägten und aufgeklärten Land zeichnen!

Der Gefahr dieser selektiven und verengten Wahrnehmung erliege ich wie Hunderte von tausenden von Muslimen in dieser Bunten Republik Deutschland nicht. Die ideologisierten Bedenkenträger aus Kirche und Politik, die mit ihren Kommentaren zu der Rede des Bundespräsidenten in den üblichen religiösen Ausgrenzungsreflex verfallen, und ihr kulturelles Überlegenheitsgefühl pflegen, hat der Bundespräsident mit seiner Rede nicht nur aufgeschreckt, er hat sie in ihrer Lebenslüge bloß gestellt. Ich als muslimischer und europäischer Staatsbürger habe mich nie damit begnügen wollen, von der Mehrheitsgesellschaft toleriert zu werden, das war und ist mir eindeutig zu wenig!

Bundespräsident Wulff hat sich in seiner Rede auf Johann Wolfgang von Goethe berufen, darum möchte ich mein Schreiben mit dem folgendem Zitat von Goethe beenden:

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein:
Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Der Bundespräsident Wulff hat die Muslime Deutschlands akzeptiert (!), dafür danke ich ihm ausdrücklich. Wann, Frau Bundeskanzlerin, werden Sie endlich aufhören Muslime zu beleidigen und ihre unerträglichen Schreckgespenster über Islam und Muslime begraben?

Mit freundlichen Grüßen

Mohammad Al-Faruqi

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Comments

  • By Fritz, 28. Oktober 2010 @ 15:43

    “Bundespräsident Wulff ist es mit seiner Rede in beeindruckender Weise gelungen einen hellen Lichtstrahl auf das immense Potential, das dem friedlichen und respektvollen Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in diesem Land inne wohnt, zu lenken.”

    Ich kann´s allmählich nicht mehr hören! Es gibt in Deutschland 60% Christen, 34% religionslose und etwas über 4% Muslime. Die 4% Muslime sind Wulf offenbar wichtiger als die 34% Nichtreligionisten, für die er kein Wort übrig hat.

    Nehm euch mal nicht so wichtig.

  • By Omar, 28. Oktober 2010 @ 16:01

    @Fritz: ich stimme zu, was die Nichtnennung von Atheisten, Agnostiker etc. pp. angeht.

  • By bilal, 28. Oktober 2010 @ 17:50

    Eine Person,eine Gruppe, eine Gemeinschaft ist dann wichtig,
    wenn irgendjemand denkt,dass sie wichtig ist.
    Danke Herr Faruqi dafür, daß sie sich und damit auch mich und viele, viele andere wichtig nehmen! Selbstverleugnung und Rücksicht auf empfindsame Ohren bringt nämlich nichts.

  • By Fritz, 29. Oktober 2010 @ 15:01

    Eine Person,eine Gruppe, eine Gemeinschaft ist dann wichtig,
    wenn sie etwas wichtiges zu sagen hat. Was haben die Muslime wichtiges zu sagen?

  • By bilal, 30. Oktober 2010 @ 14:52

    @fritz
    “Was haben die Muslime wichtiges zu sagen?”
    ….vieles, wie z.b.das schreiben von herrn faruqi und andere publikationen auf diesem blog!

  • By gubgasachi, 8. November 2010 @ 19:12

    Ehrlich gesagt ist es für diesen Fall völlig egal wer was zu sagen hat.

    Es sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass eine Minderheit die bislang bestenfalls als gedultet betrachtet wurde tatsächlich vollwertiger Teil der Bevölkerung dieses Landes ist. Dies ist bei Nichtreligiösen eigentlich mittlerweile völlig unangezweifelt.
    Man hätte sie nennen können, muss es aber nicht.

    Juden explizit aufzuführen war allerdings nötig, da es mit der Akzeptanz dieser Minderheit in Teilen der Bevölkerung bis heute noch Probleme gibt.

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