Regierung beschließt größtes Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik
Von Ulrich Rippert
8. Juni 2010
Auf einer Klausurtagung am vergangenen Sonntag und Montag beschloss die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP Kürzungen der Sozialausgaben, die alle bisherigen Sparmaßnahmen in den Schatten stellen. Vor allem die sozial Schwachen sollen zur Kasse gebeten werden. Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende und Rentner sollen für die Wirtschaftskrise und die Milliardenverluste von Spekulanten und Profiteuren bezahlen.
Seit Monaten betonte die Regierung Merkel, ein "umfassenden Sparprogramm" sei unvermeidlich. Im vergangenen Jahr hatte sie mit Rücksicht auf den Europawahlkampf und die folgende Bundestagswahl drastische Sozialkürzungen verschoben. Außerdem fürchtete sie, dass der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Bankenrettungspaket, das den Spekulanten Steuergelder im Umfang von 500 Milliarden Euro bereit stellte, und dem Sparprogramm, das die Last der Wirtschaftskrise der Bevölkerung aufbürdet, zu offensichtlich sei.
Nach dem Wahlsieg von Schwarz-Gelb im vergangenen Herbst drängten die Wirtschaftsverbände erneut auf Einschnitte im Sozialbereich. Doch die Regierung wollte die NRW-Wahl abwarten. Angesichts der dramatischen Stimmenverluste, die die Koalitionsparteien bei dieser Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Anfang Mai hinnehmen mussten, wurde in den vergangenen Wochen darüber debattiert, ob es nicht ratsam sei, die SPD stärker in die Regierungsverantwortung einzubinden, um den zu erwartenden Widerstand gegen die Sozialkürzungen besser unter Kontrolle zu halten.
Doch angesichts der Verschärfung der Wirtschaftskrise und dem rapiden Kursverfall des Euro entschied sich die schwarz-gelbe Regierung in der vergangenen Woche, nicht länger zu zögern und in die Offensive zu gehen.
Nach zweitägigen Beratungen traten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Stellvertreter, Außenminister Guido Westerwelle (FDP), vor die Bundespressekonferenz und verkündeten, ein "einmaliger Kraftakt" sei gelungen. Die Bundesregierung werde bis 2014 80 Milliarden Euro einsparen, vor allem bei Sozialleistungen. Nur bei Bildung und Forschung soll angeblich nicht gespart werden.
Das radikale Sparprogramm sei notwendig, um "die großen Lücken im Finanzsystem zu schließen", betonte Merkel. Nur durch eine gewaltige Kraftanstrengung könne die finanzielle Zukunft des Landes wieder auf "solide Beine" gestellt werden.
In seiner unnachahmbaren Arroganz erklärte Westerwelle, jeder in Deutschland müsse nun den Gürtel enger schallen. "Wir haben in den letzten Jahren deutlich über unsere Verhältnisse gelebt", sagte der Chef der FDP, die sich vor einiger Zeit noch als "Partei der Besserverdienenden" bezeichnete.
Westerwelle fügte hinzu, er und die Minister seiner Partei hätten bei der Klausurtagung dafür gesorgt, dass keine Steuererhöhungen beschlossen wurden. Das sei eine gute Nachricht. Er erwähnte allerdings nicht, dass sich seine Initiative zur Verhinderung von Steuererhöhungen auf die Unternehmensbesteuerung bezog, während die Entscheidung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer noch nicht abschließend getroffenen wurde.
Westerwelle lobte sich und die Regierung mit den Worten, es sei gelungen, ein "ehrgeiziges, umfassendes und solides" Sparpaket zu verabschieden. Gleichzeitig seien die Einschnitte sozial ausgewogen und gerecht.
Auch Angela Merkel versuchte den Eindruck der sozialen Ausgewogenheit zu erwecken. Sie betonte, dass auch die Wirtschaft einen Sparbeitrag leisten müsse. Sie nannte den Abbau von Subventionen in der Wirtschaft, eine Luftverkehrsabgabe, die nicht genauer spezifiziert wurde, und eine Brennelementesteuer für Energiekonzerne. "Wir haben damit eine beträchtliche Beteiligung der Wirtschaft an der Sanierungsaufgabe", sagte Merkel.
Doch das ist reine Augenwischerei. Eine Luftverkehrsabgabe wird die Flugpreise in die Höhe treiben, und die Besteuerung von Brennelementen für Atomkraftwerke kommt nur dann, wenn die Laufzeit der Kraftwerke verlängert wird. Das aber ist noch nicht entschieden. In der Bevölkerung gibt es dagegen erheblichen Widerstand.
In Wahrheit hat die Regierung unter dem Druck der Wirtschaftskrise und auf Anweisung der führenden Banken ein Kürzungsprogramm beschlossen, das an sozialer Einseitigkeit und Aggressivität gegenüber den Schwächsten in der Gesellschaft nicht zu überbieten ist.
Im Zentrum stehen die Kürzungen der Leistungen für Arbeitslose. So werden die für zwei Jahre gezahlten Zuschläge beim Übergang vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II gestrichen. Bisher wurden Alleinstehenden im ersten Jahr bis zu 160 Euro monatlich gezahlt, im zweiten bis zu 80 Euro. Für Verheiratete gab es maximal das Doppelte. Das fällt nun weg.
Hartz-IV-Empfängern wird auch das Elterngeld komplett gestrichen. Ihr Grundbedarf sei bereits durch die Regelsätze der staatlichen Hilfen und durch Zusatzleistungen gesichert. Gleichzeitig wird der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger gestrichen.
Auch der aus Steuergeldern bezahlte Rentenversicherungsbeitrag für Langzeitarbeitslose fällt weg. Grundsätzlich will die Koalition Pflichtleistungen in Ermessensleistungen umwandeln - etwa bei Eingliederungshilfen für Jobsuchende.
Damit wird der Druck auf Arbeitslose, jede Art von Arbeit anzunehmen, drastisch erhöht. Die Job-Center sollen dadurch bereits im laufenden Jahr zwei Milliarden Euro einsparen. Im Jahr 2014 soll dieser Sparposten auf sechs Milliarden Euro steigen. Außerdem soll die Arbeitslosenversicherung künftig ohne Darlehen oder Zuschüsse auskommen, was eine Erhöhung des Beitragssatzes über die für 2011 festgelegten drei Prozent bedeuten könnte.
500 Millionen Euro werden beim Elterngeld eingespart. Die Bemessungsgrundlage zu dessen Berechnung soll von derzeit 2.700 auf 1.800 Euro zurückgenommen werden. Allerdings sollen Väter und Mütter nur noch 65 Prozent statt wie bislang 67 Prozent ihres letzten Nettogehalts beziehen.
Außerdem plant die Regierung die Zahl der Bundesbeschäftigten in den kommenden vier Jahren um bis zu 15.000 Stellen zu senken. Die für das kommende Jahr geplante Besoldungserhöhung für Bundesbeamte soll ausfallen. Laut dpa müssen Bundesbeamte sogar mit einer Kürzung ihrer Bezüge um 2,5 Prozent rechnen. Dies soll durch den Verzicht auf die geplante Erhöhung des Weihnachtsgeldes für Beamte im Jahr 2011 erreicht werden.
SPD und DGB haben die Regierung vor den sozialen Konsequenzen dieser Kürzungen gewarnt und betont, dass der Sozialstaat ein wichtiges und unverzichtbares Element des sozialen Frieden sei.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, sagte am Montag im Deutschlandfunk, er fürchte um den sozialen Frieden in Deutschland. Die Pläne gingen aus seiner Sicht zu stark zu Lasten der Normalverdiener und der sozial Schwachen. Es könne nicht sein, dass sie die Kosten einer weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise tragen sollten, die von Spekulanten und ungezügelten Finanzmärkten verursacht worden sei, sagte Oppermann. Eine Umsetzung der Sparpläne könne dazu führen, "dass das Vertrauen in die Demokratie bröckelt".
Auch DGB-Chef Michael Sommer und der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, warnten derart einseitigen Kürzungen zu Lasten der sozial Schwachen und kündigten Proteste an.
Doch in Wirklichkeit ist das aggressive Sparprogramm der schwarz-gelben Bundesregierung ein Ergebnis der Tatsache, dass sich Merkel und Westerwelle der Unterstützung von SPD und Gewerkschaften bewusst sind. Erst vor wenigen Wochen sprach die Kanzlerin auf dem Bundeskongress des DGB und erhielt von den Gewerkschaftsfunktionären viel Beifall.
Ungeachtet der kritischen Worte aus dem Willy-Brandt-Haus und der DGB-Zentrale gibt es eine Allparteienkoalition gegen die Bevölkerung. SPD, DGB und Linkspartei wollen die Kürzungen nur etwas anders dosieren, um sie besser durchsetzen zu können.
Die Arbeiterklasse muss dieses Sparprogramm als politische Kriegserklärung auffassen und sich auf heftige Klassenkämpfe vorbereiteten. Die wichtigste Aufgabe dabei ist der vollständige politische Bruch mit allen Bundestagsparteien und der Kampf für ein internationales sozialistisches Programm.